Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Frage des Anscheinsbeweises für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Zahlers bei unberechtigter Nutzung einer Kreditkarte und einer Girocard
Leitsatz (amtlich)
1. An dem von der Rechtsprechung entwickelten Anscheinsbeweis für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Zahlers, wenn eine ec-Karte zeitnah nach dem Diebstahl unter Eingabe der richtigen PIN verwendet wird, ist auch nach Einführung der Beweisregeln in § 675w S. 3 BGB festzuhalten.
2. Die Regeln über den Anscheinsbeweis sind unanwendbar, wenn der Schaden durch zwei verschiedene Ursachen herbeigeführt worden sein kann, die beide typische Geschehensabläufe sind, für die der Karteninhaber aber nur in einem Fall die Haftung zu übernehmen hätte. Das kommt in Betracht, wenn ein enges zeitliches Aufeinanderfolgen von Entwenden der Karte und dem ersten nicht autorisierten Zahlungsvorgang besteht und deswegen in Betracht zu ziehen ist, dass der Dieb zuvor die persönliche Geheimzahl des Karteninhabers bei einem Zahlungs- oder Abhebevorgang ausgespäht hat. (hier bejaht)
Normenkette
BGB §§ 675j, 675l, 675u S. 2, §§ 675v, 675w S. 3
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 24.05.2022; Aktenzeichen 25 O 22/22) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24.05.2022, Az. 25 O 22/22, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
(1) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 18.448,31 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 16.12.2020 zu bezahlen.
(2) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.100,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz ab 25.02.2022 zu bezahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Erstattung des Gesamtbetrages der zu Lasten ihres bei der Beklagten geführten Girokontos im Zeitraum vom 11.12.2020 (10.40 h) bis 14.12.2020 (10.51 h) erfolgten Buchungen i.H.v. 18.545,74 EUR. Diesen Buchungen liegen verschiedene Verfügungen zugrunde, die eine unbekannte Person mit einer von der Beklagten für das Konto ausgegebenen ec-Karte und einer Kreditkarte unter Verwendung der (für beide Karten identischen) korrekten persönlichen Geheimzahl vornahm. Die Klägerin autorisierte diese Verfügungen nicht. Sie nutzte die ec-Karte zuletzt am 11.12.2020 gegen 10.30 h zum Bezahlen im L.-Markt in H.. Am 15.12.2020 erstattete die Klägerin, nachdem sie von der Beklagten auf die Verfügungen aufmerksam gemacht worden war, Strafanzeige wegen Diebstahls und Betruges (Anlagen K 5 und K 6) und ließ die Karten sperren.
Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts wird auf die tatbestandlichen Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dem Anspruch der Klägerin aus § 675u S. 2 BGB könne die Beklagte einen Anspruch in gleicher Höhe entgegenhalten, weil die Beklagte gemäß § 675v Abs. 3 Nr. 2 BGB den durch die missbräuchliche Verwendung der Karten entstandenen Schaden zu ersetzen habe. Es spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Klägerin grob fahrlässig die Pflicht zur Geheimhaltung der PIN verletzt habe, in dem sie diese auf den Karten oder zusammen mit ihnen verwahrt habe. Denn durch die unbekannte Person seien die Originalkarten mit der richtigen PIN eingesetzt worden. Zu erschüttern habe die Klägerin den Anscheinsbeweis nicht vermocht. Die Klägerin habe für beide Karten immer dieselbe PIN verwendet. Das spreche dafür, dass sie befürchtet habe, die Zahlenkombination zu vergessen und sie sich deshalb nahe oder mit der Karte notiert habe. Wenig überzeugend sei, dass eine unbekannte Person unbemerkt den Geldbeutel aus der Jackentasche entwendet habe. Denn das Öffnen des Reißverschlusses einer Jackentasche werde gemeinhin bemerkt. Im Übrigen habe die Klägerin vorgetragen, nach ihrer Ansicht sei das Ausspähen der PIN im L.-Markt und nicht anderswo erfolgt. Dort aber sei ein Ausspähen "nahezu ausgeschlossen", weil das Tasteneingabefeld durch seitliche Abdeckungen geschützt werde und die Klägerin zusätzlich die linke Hand über das Feld gehalten habe. Das werde durch den Vermerk des Polizeibeamten T. bestätigt. Schließlich sei nicht nachvollziehbar bzw. höchst unwahrscheinlich, dass die PIN über eine Plexiglasscheibe gespiegelt worden sei oder dass die unbekannte Person die PIN-Eingabe gefilmt oder fotografiert haben könnte. Hinzu komme, dass nur die ec-Karte beim Einkauf verwendet worden sei und der Täter, hätte er tatsächlich die PIN-Eingabe beobachtet, nicht habe wissen können, dass die PIN für die Kreditkarte dieselbe war.
Gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 07.06.2022 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer am 01.07.2022 bei Gericht eingegangenen und innerhalb verlängerter Frist mit am 07.09.2022 eingegangenem Schriftsatz begründeten Berufung, mit der sie i...