Leitsatz (amtlich)
Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht ggü. Kleinkindern im Treppenhaus eines Gerichtsgebäudes
Verfahrensgang
LG Ulm (Urteil vom 30.05.2003; Aktenzeichen 4 O 9/03) |
Tenor
1. Die Berufung des Kläger gegen das Urteil des LG Ulm vom 30.5.2003 (Aktenzeichen 4 O 9/03) wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert der Berufung: bis 3.000 Euro.
Gründe
I. Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. Der zum Unfallzeitpunkt 2-jährige Kläger hielt sich am 11.6.2002 in Begleitung seiner Eltern, die an einer Verhandlung als Zuhörer teilnehmen wollten, im Gebäude des AG E. auf. Im Treppenhaus stürzte der Kläger zwischen den Pfosten des hölzernen Geländers hindurch ca. 2,5 m tief auf den Steinboden und erlitt u.a. Kopfverletzungen. Zu den Einzelheiten wird auf die Feststellungen im Urteil des LG verwiesen.
Das LG Ulm hat die Klage abgewiesen. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt.
Er macht geltend, es liege eine Verletzung des § 4 Abs. 4 LBO/AVO vor, da es sich beim Treppenhaus des AG E. um eine Fläche handle, auf welcher i.d.R. mit der Anwesenheit von Kindern bis zu 6 Jahren gerechnet werden müsse, da Eltern häufig ihre Kinder zu Gerichtsterminen mitnähmen. Des weiteren sei auch eine Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht gegeben.
Der Kläger beantragt,
1. Das Urteil des LG Ulm, Aktenzeichen 4 O 9/03 vom 30.5.2003 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zur Hand seiner gesetzlichen Vertreter ein angemessenes Schmerzensgeld zu bezahlen.
3. Es wird beantragt, festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den dem Kläger entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, den dieser aufgrund des Vorfalls vom 11.6.2002 gegen 9.00 Uhr in den Räumen des AG E. (Sturz durch das Treppengeländer bei der Plattform des 1. Stocks in das EG) noch erleiden wird.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
II. Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Ein Anspruch des Klägers aus den §§ 823 Abs. 2, 847 BGB a.F. i.V.m. § 4 Abs. 4 LBO/AVO besteht ebenso wenig, wie ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung der allgemein bestehenden Verkehrssicherungspflicht.
1. Das LG hat § 4 Abs. 4 LBO/AVO zutreffend als Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB angesehen, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm allerdings zu Recht verneint. Eine an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierte Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass diese nur für Gebäude gilt, in denen sich besonders schutzbedürftige Flächen befinden, bei denen im Allgemeinen mit der Anwesenheit von Kindern zu rechnen ist. Dies ist in Bezug auf Treppenhäuser von Gerichten im Allgemeinen und für das Treppenhaus des AG E. im Besonderen nicht anzunehmen. Selbst wenn Kleinkinder gelegentlich als Parteien, Zeugen oder Begleiter ihrer Eltern in Treppenhäusern von Gerichtsgebäuden verkehren, so bildet dies im Vergleich zur Benutzung durch erwachsene Personen den absoluten Ausnahmefall. Würde man § 4 Abs. 4 LBO/AVO so auslegen, dass diese Vorschrift mit ihren erhöhten Sicherheitsanforderungen immer dann schon eingriffe, wenn eine Benutzung der mit Umwehrungen versehenen Flächen durch Kleinkinder unter 6 Jahren nicht ausgeschlossen werden kann, so hätte dies zur Konsequenz, dass die darin geregelte Verschärfung ggü. den allgemeinen baurechtlichen Anforderungen an Umwehrungen nicht mehr den Ausnahme- sondern den Regelfall darstellen würde. Dies ist vom Verordnungsgeber aber offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen, wie schon die Systematik der gesetzlichen Regelung zeigt.
2. Ein Anspruch des Klägers besteht auch nicht aus Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB durch die Beklagte.
Zwar hat grundsätzlich jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, die notwendigen Vorkehrungen zum Schutze Dritter zu treffen. Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht kann dem gem. selbst dann in Betracht kommen, wenn eine Treppe den bauordnungsrechtlichen Bestimmungen entspricht (vgl. BGH VersR 1969, 665 [666]). Die Verkehrssicherungspflicht bei der Gestaltung von Treppen und ihrer Umgebung muss sich vor allem darauf erstrecken, Unfällen vorzubeugen, welche sich durch Sturz von den die Treppe benutzenden Personen ereignen (vgl. BGH VersR 1969, 665 [666]). Da allerdings eine Verkehrssicherung, die jeden Unfall ausschließt nicht erreichbar ist, muss nicht für alle denkbaren entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Vielmehr sind nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die nach den Sicherheitserwartungen des jeweiligen Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren für Dritte tunlichst abzuwenden, die bei bestimmungsgemäßer oder bei nicht ganz fern liegender bestimmungswidriger Benutzung drohen (vgl. Palandt/Thomas, BGB, 62. Aufl., § 823 Rz. 58). Es bedarf damit immer nur solcher Sicherungsmaßnahmen, die ein v...