Leitsatz (amtlich)
1. Zur Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für ein unrichtiges aussagepsychologisches Gutachten im Strafprozess.
2. Im Schadensersatzprozess gegen den gerichtlichen Sachverständigen hat das Regressgericht nach dem Maßstab des § 287 ZPO über den hypothetischen Ausgang des Vorprozesses (hier: des Strafprozesses) zu befinden.
3. Sind im Regressprozess bessere oder andere Erkenntnismöglichkeiten vorhanden, als sie dem für den Vorprozess zuständigen Gericht zur Verfügung standen, dann entspricht es, wie im Rahmen der Rechtsberaterhaftung, der materiellen Gerechtigkeit, dem Schadensersatzkläger deren Verwendung nicht zu versagen.
4. Der normative Schadensbegriff gilt auch für die deliktische Haftung des gerichtlichen Sachverständigen.
5. Das Nichteinholen eines Privatgutachtens im Strafprozess fällt nicht unter § 839 Abs. 3 BGB (Anschluss an BGH, Beschluss vom 27.07.2017 - III ZR 440/16, NJWRR 2017, 1105).
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Saarbrücken vom 29.01.2015 (Aktenzeichen 3 O 295/13) wird zurückgewiesen.
2. Auf die Anschlussberufung des Klägers und unter Zurückweisung des weitergehenden Anschlussrechtsmittels wird das vorbezeichnete Urteil unter Ziffer II des Tenors teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von 60.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 15.05.2014 zu zahlen. Im Übrigen wird der Klageantrag zu 2 hinsichtlich des Schmerzensgeldes abgewiesen.
3. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 15 v. H. und die Beklagte zu 85 v. H. Die Kosten der Nebenintervention werden dem Kläger zu 15 v. H. auferlegt. Im Übrigen findet eine Kostenausgleichung nicht statt.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei darf die Vollstreckung durch die jeweilige andere Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des auf Grund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Der Kläger verlangt von der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Gutachterhaftung Schadenersatz und Schmerzensgeld nach einer strafrechtlichen Verurteilung und Inhaftierung wegen sexuellen Missbrauchs, Wiederaufnahme des Verfahrens und anschließendem Freispruch.
Der vormals als technischer Bundeswehrbeamter S. in W. beschäftigte, am XX.XX.1943 geborene Kläger war durch Urteil der Jugendkammer IV des Landgerichts Saarbrücken vom 24.05.2004 (Aktenzeichen 5 - 25/03 IV, als Anlage 5 im Anlagenbd. Kläger) wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem Fall, sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, in allen vier Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, begangen jeweils zum Nachteil der am XX.XX.1989 geborenen M. S., zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Im Strafverfahren hatte die Beklagte zunächst gemäß Auftrag der Staatsanwaltschaft Saarbrücken vom 26.03.2003 (Anlage 1, im Anlagenbd. Kläger) mit Datum vom 21.08.2003 ein schriftliches aussagepsychologisches Gutachten erstattet, welches sich auf die überlassenen Akten der Staatsanwaltschaft Saarbrücken und die aussage- und testpsychologische sowie psychiatrische Untersuchung der Zeugin am 24.06.2003 stützte (Anlage 3, im Anlagendbd. Kläger). Später hatte die Beklagte in der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer IV nach Teilnahme an allen zuvor erfolgten Beweisaufnahmen am 24.05.2004 ein mündliches Gutachten erstattet. In den Gutachten stufte die Beklagte die Angaben der Zeugin M. S. mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft ein.
Zur Erstellung des Gutachtens lagen der Beklagten die vollständige Ermittlungsakte und die polizeilichen Videoaufnahmen der Vernehmung vom 30.01.2003 vor. Anlass der erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs waren Angaben der Zeugin M. S., die am 21.07.2001 in den Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau als Pflegekind mit Einwilligung ihres leiblichen Vaters aufgenommen worden war. In der Folge kam es ab November 2001 zu Konflikten, die in einem Vorfall vom 12.12.2002 mündeten. Dieser Vorfall, bei dem die Zeugin dem Kläger von hinten über die Hose an das Geschlechtsteil griff, führte zur Beendigung des Pflegeverhältnisses des Klägers und seiner Ehefrau, die M. S. wurde nach entsprechender Mitteilung an das Jugendamt noch am gleichen Tag von ihrem leiblichen Vater abgeholt. Unter dem 22.01.2003 erstattete der leibliche Vater Strafanzeige gegen den Kläger. Die in ihrer geistigen Entwicklung retardierte Zeugin M. S. ist bereits vor der Aufnahme im Haushalt des Klägers im Zusammenhang mit Sexualverhalten aktenkundig gewesen. Hinsichtlich sexueller Aktivitäten ist in den ...