Entscheidungsstichwort (Thema)
Referenzen für "vergleichbare" Leistungen und Wertungspunkte im Vergabeverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zurückweisung eines Nachprüfungsantrags als "offensichtlich unbegründet" durch die Vergabekammer soll die Ausnahme bleiben; sie kommt nicht in Betracht, wenn die "Offensichtlichkeit" aus Sachverhaltselementen entnommen worden ist, zu denen im Nachprüfungsverfahren keine Akteneinsicht gewährt worden ist.
2. Vergaberügen gegen eine Bewertungsmatrix sind unverzüglich nach ihrer Mitteilung zu erheben. Unterbleibt dies, kann im Nachprüfungs- und Beschwerdeverfahren nur noch die Anwendung der Vergabekriterien, nicht aber das Wertungssystem angegriffen werden.
3. Die in einem vorgezogenen Teilnahmewettbewerb erfolgte Auswahl einzelner Teilnehmer zum Angebotsverfahren kann im nachfolgenden Angebotsverfahren noch angegriffen werden, wenn die Vergabestelle den Bietern die Namen der anderen Teilnehmer nicht bekanntgegeben und auch nicht darüber informiert hat, inwieweit deren Eignung (Referenzen) zuvor geprüft worden sind.
4. Im Nachprüfungs- und Beschwerdeverfahren ist § 107 Abs. 3 GWB nicht anwendbar. Wird hier dem Beschleunigungsgebot (§ 113 Abs. 1 Satz 2 GWB) zuwider verzögert vorgetragen, kann das Gericht mit einer Fristsetzung gem. § 120 Abs. 2 i.V.m. § 70 Abs. 3 GWB reagieren.
5. Ob durch einen eingeschränkten Beschwerdeantrag der Beschluss der Vergabekammer in dem Sinne "zum Teil" bestandskräftig werden kann, dass die Wertung einzelner Angebote im Beschwerdeverfahren nicht mehr angreifbar ist, ist jedenfalls hinsichtlich solcher Vergaberügen, die aus dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot (§ 97 Abs. 1, 2 GWB) abgeleitet werden, zweifelhaft. Diese Rügen müssen zur Gewährleistung eines effektiven Vergaberechtsschutzes im Falle ihres Erfolges alle Angebote erreichen, die im Rahmen der Angebotsprüfung und -wertung berücksichtigt worden sind.
6. Eine Aufhebung des Vergabeverfahrens kann nur beansprucht werden, wenn das bisherige Verfahren an schweren, auch durch eine Nachholung oder Wiederholung einzelner Verfahrensschritte nicht (mehr) heilbaren Mängeln leidet.
7. Die technische Leistungsfähigkeit der Bieter ist ein Eignungskriterium, dessen Erfüllung auf der Grundlage der geforderten Angaben der Bieter zu prüfen ist. Die Vergabestelle hat insoweit eine Prognoseentscheidung in Bezug auf den konkret anstehenden Auftrag zu treffen, um die im Falle der Beauftragung entstehenden Risiken aus einer nicht anforderungsgerechten technischen Leistungsfähigkeit zu minimieren. Dabei kommt ihr ein Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist.
8. Sollen als Referenzen "vergleichbare" Leistungen angegeben werden, hat die Vergabestelle auftragsbezogen darüber zu urteilen, inwieweit die Vergleichbarkeit gegeben ist, es sei denn, zur Qualität der geforderten Referenzen werden bestimmte Mindestbedingungen vorgegeben.
9. Der Ausschluss eines Bieters wegen fehlender Eignung vom Angebotsverfahren erfordert konkrete Anhaltspunkte, die zuverlässige Rückschlüsse auf dessen mangelnde Leistungsfähigkeit ermöglichen.
10. Die Haupt- und Unterkriterien für die Angebotswertung sind vorab bekanntzugeben. Im Vergabevermerk ist die Angebotswertung zeitnah schriftlich zu dokumentieren.
11. Die Zuteilung von Wertungspunkten kann auch aus einer "vergleichenden" Betrachtung der vorgelegten Angebote abgeleitet werden. Eine "abstrakt" (vor-)definierte Punkteskala mag bei "statisch" zu beurteilenden Beschaffungsobjekten möglich sein. Bei der Beschaffung eines größeren technischen Systems, das teilweise erst im Laufe des Vergabeverfahrens definiert wird, ist eine vorab erfolgende Festlegung von detaillierten Bewertungsskalen ausgeschlossen.
12. Die Zuteilung der Bewertungspunkte im Einzelnen ist gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbar. Das Gericht kann seine Beurteilung nicht an die Stelle derjenigen der Vergabestelle setzen.
Normenkette
GWB § 70 Abs. 3, § 97 Abs. 1-2, § 107 Abs. 3, § 112 Abs. 1 S. 2, § 113 Abs. 1, § 120 Abs. 2; VOL/A § 21 Nr. 1 Abs. 1, § 25 Nr. 1 Abs. 2a, Nr. 2 Abs. 1, § 26
Verfahrensgang
Vergabekammer Schleswig-Holstein (Beschluss vom 12.07.2007; Aktenzeichen VK-SH 11/07) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 12.7.2007 - VK-SH 11/07 - wird zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführerin werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners und der Beigeladenen auferlegt.
Der Streitwert beträgt 936.385,77 EUR.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten um die Vergabe eines Auftrags über Beratung, Lieferung und Installation von Systemtechnik für zwei polizeiliche und zwei kooperative Regionalleitstellen (einschließlich Service, Wartung und Schulung).
Der Beschwerdegegner veröffentlichte am 15.11.2006 europaweit eine Vergabebekanntmachung über ein Verhandlungsverfahren mit vorhergehendem Teilnehmerwettbewerb. Der Auftragswert wurde mit ca. 20.000.000 EUR angegeben (EG-Dok....