1 Leitsatz

Vollstreckt die Bauaufsichtsbehörde gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer eine bauaufsichtliche Verfügung, die ausschließlich das gemeinschaftliche Eigentum (§ 1 Abs. 5 WEG) betrifft, bedarf es aufgrund der ausschließlichen Verwaltungsbefugnis der Gemeinschaft (§ 9a Abs. 2, § 18 Abs. 1 WEG) keiner Duldungsverfügungen gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern. Soweit im Innenverhältnis der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer eine der bauaufsichtlichen Verfügung entsprechende Beschlussfassung fehlt, wird die fehlende Beschlussfassung durch die wirksame und vollziehbare bauaufsichtliche Verfügung überwunden. Der einzelne Wohnungseigentümer kann die Gemeinschaft nicht unter Berufung auf die fehlende Beschlussfassung hindern, ihren öffentlich-rechtlichen Pflichten aus der Verfügung nachzukommen.

2 Normenkette

§§ 1, 9, 18 WEG; § 85 Abs. 2 NBauO

3 Das Problem

Aus Anlass der Brandkatastrophe im Londoner "Grenfell Tower" im Jahr 2017 überprüft die Baubehörde eine Wohnungseigentumsanlage. Es handelt sich um ein 12-geschossiges Hochhaus. In dem im Jahr 1970 errichteten, mehr als 30 m hohen Gebäude gibt es 48 Wohnungen. Die Außenwände sind mit brennbaren Holzwolle-Leichtbauplatten gedämmt und mit Faserzementplatten verkleidet; dazwischen befindet sich ein Hohlraum. Die Baubehörde gibt der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer auf, diese Fassadenverkleidung zu entfernen. Dem kommt die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht nach. Mit Bescheid vom 24.5.2022 setzt die Baubehörde daher ein zuvor angedrohtes Zwangsgeld in Höhe von 100.000 EUR fest und droht für den Fall der weiteren Nichtbefolgung der Anordnung die Festsetzung weiterer Zwangsgelder in Höhe von 200.000 EUR an. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer legt Widerspruch ein und beantragt vorläufigen Rechtsschutz. Diesen Antrag lehnt das VG mit ab. Insbesondere sei es der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer möglich, der Anordnung nachzukommen. Einer Duldungsverfügung gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern habe es nicht bedurft, weil diesen keine sich aus Eigentums- oder Besitzrechten ergebenden Abwehransprüche zustünden. Dagegen wendet sich die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.

4 Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Das VG habe zu Recht und mit zutreffender Begründung entschieden, dass der Zwangsgeldfestsetzung kein Vollstreckungshindernis entgegenstehe. Ein solches Hindernis liege u. a. dann vor, wenn der Vollstreckungsschuldner einer ihm obliegenden Pflicht nicht nachkommen könne, ohne in die Rechte Dritter (Miteigentümer oder sonstige Nebenberechtigte) einzugreifen; in diesem Fall müsse mindestens zeitgleich mit dem Beginn von Vollstreckungsmaßnahmen eine Duldungsverfügung gegenüber dem Dritten ergehen. Im Fall liege es so nicht. Richtiger Adressat einer bauaufsichtlichen Verfügung gem. § 85 Abs. 2 NBauO sei die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer, weil diese die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte ausübe und die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahrnehme (Hinweis auf Drasdo, NVwZ 2022, S. 1575). Die einzelnen Wohnungseigentümer seien insoweit von der Verwaltung ausgeschlossen (vgl. § 18 Abs. 1 WEG), sodass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer auf das gemeinschaftliche Eigentum bezogene bauaufsichtliche Forderungen erfüllen könne und erfüllen müsse. Demzufolge müsse auch die Vollstreckung gegenüber der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und nicht gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern erfolgen. Aufgrund des vollständigen Ausschlusses der einzelnen Wohnungseigentümer von der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums bedürfe es auch keiner gegen diese gerichteten Duldungsverfügungen. Die Rechte der Wohnungseigentümer beschränken sich im Hinblick auf das gemeinschaftliche Eigentum auf die Mitwirkung an der entsprechenden Beschlussfassung im Innenverhältnis (§ 19 Abs. 1 WEG). Ihnen stünden keine Rechte zu, aufgrund derer sie die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer an der Befolgung einer wirksamen und vollziehbaren bauaufsichtlichen Verfügung hindern könnten.

5 Hinweis

Problemüberblick

Eine Baubehörde gibt der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer auf, wegen angenommener Gefahren die Fassadenverkleidung zu entfernen. Das OVG klärt insoweit, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die richtige Adressatin dieser Verfügung ist. Ferner klärt es, dass gegenüber den Wohnungseigentümern keine Duldungsverfügungen ergehen müssen.

Was ist für die Verwaltung besonders wichtig?

Die Behörden haben früher häufig angenommen, eine Verfügung in Bezug auf das gemeinschaftliche Eigentum könne gegenüber dem Verwalter ergehen. Diese Möglichkeit ist jedenfalls seit dem 1.12.2020 vom Tisch.

6 Entscheidung

OVG Lüneburg, Beschluss v. 16.11.2022, 1 ME 106/22

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