Leitsatz (amtlich)

Der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt ein Verhalten des Betroffenen voraus, mit dem er eine konkrete, auf seine Abschiebung aus dem Bundesgebiet gerichtete Maßnahme der deutschen Behörden vereitelt hat.

 

Normenkette

AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4

 

Verfahrensgang

LG Osnabrück (Beschluss vom 20.12.2016; Aktenzeichen 11 T 576/16)

AG Nordhorn (Beschluss vom 11.08.2016; Aktenzeichen 11 XIV 5041 B)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 11. Zivilkammer des LG Osnabrück vom 20.12.2016 aufgehoben und festgestellt, dass die Anordnung der Haft in dem Beschluss des AG Nordhorn vom 11.8.2016 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Kreis Höxter auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene ist georgischer Staatsangehöriger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 5.5.2015 als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Woche zu verlassen. In der Folgezeit begab sich der Betroffene in die Niederlande und stellte dort einen Asylantrag. Am 11.8.2016 wurde er nach Deutschland rücküberstellt. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das AG Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 21.9.2016 angeordnet. Am 16.9.2016 ist der Betroffene nach Georgien abgeschoben worden. Das LG hat die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt er seinen Antrag weiter. Die beteiligte Behörde beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

II.

Rz. 2

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts dürften zwar die von dem AG angenommenen Haftgründe nicht vorliegen. Die Haft könne aber auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG gestützt werden. Der Betroffene habe bei seiner Anhörung vor dem AG erklärt, er habe seinen Nachnamen bei Stellung seines Asylantrages bewusst falsch angegeben.

III.

Rz. 3

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

Rz. 4

1. Die von dem AG angenommenen Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 4 AufenthG liegen - wie das Beschwerdegericht zutreffend annimmt - nicht vor.

Rz. 5

a) Der Haftgrund des nicht angezeigten Aufenthaltswechsels nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt voraus, dass der erforderliche Hinweis auf die Folge einer Verletzung der Pflichten nach § 50 Abs. 4 AufenthG einem Betroffenen, der Deutsch nicht beherrscht, in seine Muttersprache oder eine andere Sprache übersetzt wird, die er beherrscht (BGH, Beschl. v. 14.1.2016 - V ZB 178/14, FGPrax 2016, 87 Rz. 9). Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist dies hier nicht geschehen.

Rz. 6

b) Auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, dass sich der Ausländer in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat, liegen nicht vor. Dieser Haftgrund setzt ein Verhalten des Betroffenen voraus, mit dem er eine konkrete, auf seine Abschiebung gerichtete Maßnahme der Behörde vereitelt hat (vgl. LG Heidelberg, Beschl. v. 13.4.2017 - 3 T 18/17, juris Rz. 7 ff.; LG Münster, Beschl. v. 22.2.2016 - 5 T 42/16, juris, Rz. 11). Das folgt aus dem Wortlaut und der Systematik der Norm, die - anders als bei dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, der die Formulierung "entziehen will" verwendet - darauf abstellt, dass sich der Ausländer der Abschiebung "entzogen hat". Die Verwendung der Vergangenheitsform macht deutlich, dass das Verhalten des Betroffenen einen Bezug zu einer konkreten Abschiebungsmaßnahme aufweisen muss.

Rz. 7

Daran fehlt es hier. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts gab es keine Abschiebungsmaßnahmen der beteiligten Behörde, denen sich der Betroffene in der Vergangenheit entzogen hat. Unerheblich ist, ob er sich in den Niederlanden einem Rücküberstellungsversuch nach Deutschland entzogen hat; denn dies erfüllt nicht den Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, da die Vorschrift nur Abschiebungsversuche deutscher Behörden aus dem Bundesgebiet erfasst.

Rz. 8

2. Ob das Verhalten des Betroffenen - wie das Beschwerdegericht annimmt - den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG erfüllt, kann dahinstehen. Denn das Beschwerdegericht durfte seine Entscheidung nicht auf einen neuen Haftgrund stützen, ohne den Betroffenen hierzu persönlich anzuhören (BGH, Beschl. v. 16.2.2017 - V ZB 10/16 Rz. 9; Beschl. v. 7.7.2016 - V ZB 21/16, FGPrax 2016, 278 Rz. 6).

Rz. 9

Eine Anhörung durch das Beschwerdegericht war nicht deshalb entbehrlich, weil das AG zur Begründung der Haftanordnung u.a. ausgeführt hat, dass der Betroffene eingeräumt habe, gegenüber den Ausländerbehörden falsche Personalien angegeben zu haben, um einer Abschiebung zu entgehen. Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts hat das AG dies für sich genommen nicht als ausreichende Grundlage für die Haftanordnung angesehen. Vielmehr handelte es sich lediglich um ein seine Argumentation, dass das Verhalten des Betroffenen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG erfülle, verstärkendes Argument. Dass es darin zugleich ein die Fluchtgefahr begründendes Verhalten des Betroffenen sah, lässt sich dem Beschluss des AG nicht entnehmen. Indem das Beschwerdegericht allein auf die Äußerung des Betroffenen zu den falschen Personalien abstellt und darin - abweichend von dem AG - den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG sieht, misst es den Angaben des Betroffenen ein völlig anderes Gewicht als das AG bei; deshalb hätte es den Betroffenen vor der beabsichtigten Auswechselung des Haftgrundes erneut anhören müssen.

Rz. 10

3. Eine Zurückverweisung an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da die Anhörung des Betroffenen angesichts der erfolgten Abschiebung nicht mehr möglich ist.

IV.

Rz. 11

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 11119922

NVwZ 2017, 1640

NVwZ 2017, 7

FGPrax 2017, 231

InfAuslR 2017, 345

JZ 2017, 705

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