Leitsatz (amtlich)

Eine bei Verkündung nicht vollständig abgefasste Entscheidung gilt als "nicht mit Gründen versehen", wenn der notwendige Inhalt nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Sie ist dann auf eine Rüge der Parteien aufzuheben (Anschluss an den Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmS-OGB, Beschl. v. 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603).

 

Normenkette

ZPO § 310 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, § 540 Abs. 1, § 547 Nr. 6

 

Verfahrensgang

OLG Stuttgart (Urteil vom 25.04.2002; Aktenzeichen 16 UF 458/01)

AG Stuttgart-Bad Cannstatt

 

Tenor

Auf die Revisionen der Parteien wird das Urteil des 16. Zivilsenats - Familiensenat - des OLG Stuttgart v. 25.4.2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, mit Ausnahme der Gerichtskosten, von deren Erhebung abgesehen wird, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um nachehelichen Ehegattenunterhalt für die Zeit ab Mai 1999. Das AG hat der Klage überwiegend stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten und die unselbstständige Anschlussberufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den geschuldeten Unterhalt herabgesetzt und Verzugszinsen auch für die Zeit ab dem 1.6.2001 zugesprochen.

In dem auf die mündliche Verhandlung v. 14.3.2002 anberaumten Verkündungstermin v. 25.4.2002 hat das Berufungsgericht lediglich den Urteilstenor verkündet, während das vollständig abgefasste Urteil ausweislich eines Vermerks des Geschäftsstellenbeamten erst am 4.11.2002 zur Geschäftsstelle gelangt ist. Das vollständige Urteil ist den Parteien am 8.11.2002 zugestellt worden. Wegen des drohenden Ablaufs der Revisionsfrist hatten sie schon zuvor am 24. bzw. 25.10.2002 die zugelassene Revision eingelegt.

 

Entscheidungsgründe

Beide Revisionen haben Erfolg und führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

I.

Das angefochtene Urteil ist - worauf die Revisionen beider Parteien zu Recht hinweisen - mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, weil es entgegen §§ 540 Abs. 1, 547 Nr. 6 ZPO nicht mit Gründen versehen ist. Denn nach gefestigter Rechtsprechung ist ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil "nicht mit Gründen versehen", wenn der notwendige Inhalt des Urteils nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist (vgl. GmS-OGB, Beschl. v. 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603; BGH, Beschl. v. 30.9.1997 - AnwZ (B) 11/97, MDR 1998, 66 = NJW-RR 1998, 267). Tragender Gesichtspunkt für diesen übergreifenden verfahrensrechtlichen Grundsatz ist - unabhängig davon, ob die jeweiligen Verfahrensordnungen (wie hier § 548 ZPO) die Fünfmonatsfrist als absolute Frist für die Rechtsmitteleinlegung vorsehen - die Einsicht, dass das richterliche Erinnerungsvermögen abnimmt und nach Ablauf von mehr als fünf Monaten nicht mehr gewährleistet ist, dass der Eindruck von der mündlichen Verhandlung und das Beratene noch zuverlässigen Niederschlag in den so viel später abgefassten Gründen der Entscheidung findet. Es geht mithin um die Vermeidung von Fehlerinnerungen und damit um Gründe der Rechtssicherheit (BGH, Beschl. v. 30.9.1997 - AnwZ (B) 11/97, MDR 1998, 66 = NJW-RR 1998, 267). Schließlich ist es insb. der unterlegenen und an der Einlegung eines Rechtsmittels interessierten Partei nicht zuzumuten, nach Verkündung eines Urteils länger als fünf Monate warten zu müssen, um - über eine etwaige mündliche Urteilsbegründung hinaus - die detaillierten Gründe zu erfahren, die zu ihrem Unterliegen geführt haben (GmS-OGB, Beschl. v. 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603). Auf eine Rüge der Parteien haben die Gerichte deswegen bei Überschreitung der Fünfmonatsfrist ein Urteil, das wegen der Fristüberschreitung die Beurkundungsfunktion nicht mehr erfüllt und deswegen als "nicht mit Gründen versehen" gilt, aufzuheben.

II.

Das OLG hat in dem anberaumten Verkündungstermin v. 25.4.2002 lediglich den von den mitwirkenden Richtern unterzeichneten Urteilstenor verkündet. Ausweislich des Verkündungsprotokolls ist nämlich "das Urteil Blatt 367 der Akten" verkündet worden. Die nach § 540 ZPO notwendigen weiteren Urteilsgründe sind nach einem Vermerk des Geschäftsstellenbeamten erst am 4.11.2002 und somit mehr als sechs Monate nach dem Verkündungstermin zur Geschäftsstelle gelangt. Deswegen konnte das vollständige Urteil den Parteien auch erst am 8.11.2002 zugestellt werden. Entsprechend hat der Berichterstatter in einem Aktenvermerk v. 23.10.2002 eingeräumt, das Urteil verspätet abgesetzt und die Parteivertreter auf den drohenden Ablauf der Revisionsfrist hingewiesen zu haben.

Das Urteil gilt deswegen - wie auch das Berufungsgericht erkannt hat - als nicht mit Gründen versehen und ist auf die Rügen der Parteien aufzuheben. Darauf, dass nach § 310 Abs. 1 S. 2 ZPO ein Verkündungstermin nur dann über drei Wochen hinaus angesetzt werden darf, wenn dargelegt ist, dass wichtige Gründe, insb. der Umfang oder die Schwierigkeit der Sache, dies erfordern (vgl. insoweit BGH, Beschl. v. 29.9.1998 - KZB 11/98, MDR 1999, 625 = NJW 1999, 143), kommt es mithin nicht an. Ebenso kommt es nicht darauf an, dass nach § 310 Abs. 2 ZPO ein Urteil, dass nicht in dem letzten Verhandlungstermin verkündet wird, bei der Verkündung grundsätzlich in vollständiger Form abgefasst sein muss.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf seine geänderte Rechtsprechung zu den Einsatzbeträgen der Kinder und des unterhaltsberechtigten Ehegatten im absoluten Mangelfall hin (BGH, Urt. v. 22.1.2003 - XII ZR 2/00, MDR 2003, 573 = BGHReport 2003, 379 = FamRZ 2003, 363).

IV.

Nach § 8 Abs. 1 S. 1 GKG werden Gerichtskosten für das Revisionsverfahren nicht erhoben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1170161

BGHR 2004, 1255

FamRZ 2004, 1277

FuR 2005, 128

NJW-RR 2004, 1439

MDR 2004, 1194

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