Entscheidungsstichwort (Thema)

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2001/220/JI. Stellung des Opfers im Strafverfahren. Im familiären Bereich begangene Straftaten. Verpflichtung, als Nebenstrafe ein Näherungsverbot anzuordnen, mit dem dem Verurteilten untersagt wird, sich seinem Opfer zu nähern. Entscheidung über Art und Maß der Strafen. Vereinbarkeit mit den Art. 2, 3 und 8 des genannten Rahmenbeschlusses. Nationale Vorschrift, die die strafrechtliche Schlichtung ausschließt. Vereinbarkeit mit Art. 10 des Rahmenbeschlusses

 

Beteiligte

Gueye

Magatte Gueye

Valentín Salmerón Sánchez

 

Tenor

1. Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend als Nebenstrafe vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.

2. Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich gestattet, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.

 

Tatbestand

In den verbundenen Rechtssachen

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht von der Audiencia Provincial de Tarragona (Spanien) mit Entscheidung vom 15. September 2009 – abgeändert durch Beschluss vom 8. Oktober 2009 – und Entscheidung vom 18. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2009 bzw. am 4. Januar 2010, in den Strafverfahren gegen

Magatte Gueye (C-483/09),

Beteiligte:

X,

und

Valentín Salmerón Sánchez (C-1/10),

Beteiligte:

Y,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und S. Unzeitig als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili und L. Ventrella, avvocati dello Stato,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Ree als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
  • der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz und S. Johannesson als Bevollmächtigte,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker und J. Stratford als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Pardo Quintillán als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Mai 2011

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 2, 8 und 10 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).

Rz. 2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen Herrn Gueye und Herrn Salmerón Sánchez wegen Verstößen gegen das als Nebenstrafe verhängte Verbot, sich ihrem jeweiligen weiblichen Opfer zu nähern, das von ihnen im familiären Bereich misshandelt worden war. Die Hauptstrafen waren wegen dieser Misshandlungen gegen beide verhängt worden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Der Rahmenbeschluss wurde insbesondere auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 EU erlassen, nach dessen Buchst. c das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen u. a. die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, soweit dies zur Verbesserung dieser Zusammenarbeit erforderlich ist, einschließt.

Rz. 4

Aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses geht hervor, dass der Europäische Rat von Tampere (Finnland) bei seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 die Ausarbeitung von Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich ihres Zugangs zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche – beschloss.

Rz. 5

Der vierte, der achte und der neunte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lauten:

„(4) Die Mitgliedstaaten sollten ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, soweit dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, um Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau z...

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