Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Europäischer Haftbefehl. Übergabeverfahren zwischen Mitgliedstaaten. Gründe, aus denen die Vollstreckung abzulehnen ist. Minderjährige. Erfordernis der Prüfung des Mindestalters, um strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können, oder einer Einzelfallprüfung der zusätzlichen Voraussetzungen, die das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsieht, um einen Minderjährigen konkret verfolgen oder verurteilen zu können

 

Beteiligte

Piotrowski

Dawid Piotrowski

 

Tenor

1. Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nur die Übergabe von Minderjährigen ablehnen muss, die nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht das erforderliche Alter haben, um für die Handlung, die dem gegen sie ergangenen Haftbefehl zugrunde liegt, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können.

2. Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats bei der Entscheidung über die Übergabe eines Minderjährigen, gegen den ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, nur prüfen muss, ob die betreffende Person das Mindestalter erreicht hat, um im Vollstreckungsmitgliedstaat für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können, ohne etwaige zusätzliche, eine individuelle Begutachtung betreffende Voraussetzungen berücksichtigen zu müssen, von denen das Recht dieses Mitgliedstaats die Verfolgung oder Verurteilung eines Minderjährigen wegen einer solchen Handlung konkret abhängig macht.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 23. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2016, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

Dawid Piotrowski

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, J. Malenovský, E. Levits, C. G. Fernlund und C. Vajda, der Richter J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter S. Rodin und F. Biltgen sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Hilfskanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, L. Van den Broeck, C. Van Lul und N. Cloosen als Bevollmächtigte,
  • Irlands, vertreten durch A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von J. Fitzgerald, BL,
  • der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Ventrella, avvocato dello Stato,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
  • der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Mangu, M. Chicu und E. Gane als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2017

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

Rz. 2

Es ergeht in einem Verfahren wegen der Vollstreckung eines vom Sąd Okręgowy w Białymstoku (Bezirksgericht Białystok, Polen) am 17. Juli 2014 gegen Herrn Dawid Piotrowski erlassenen Europäischen Haftbefehls in Belgien.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Erwägungsgründe 5 bis 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der stra...

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