Leitsatz (amtlich)

Die Bestimmungen des § 85c Nr. 1 IRG finden auf einen deutschen Staatsangehörigen auch dann keine Anwendung, wenn dieser zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates besitzt und dort seinen Lebensmittelpunkt hat.

 

Tenor

Die Übertragung der Vollstreckung des Strafrestes von 150 Tagen aus der Gesamtfreiheitsstrafe von ursprünglich zwei Jahren sechs Monaten aus dem Urteils des Amtsgerichts Görlitz vom 08. Januar 2018 (Az.: 6 Ls 420 Js 13914/15) auf die Republik Polen nach Maßgabe des Rb-Freiheitsstrafen ist derzeit nicht zulässig.

 

Gründe

I.

Der Verurteilte ist polnischer und deutscher Staatsangehöriger. Er wurde am 08. Januar 2018 vom Amtsgericht Görlitz wegen Diebstahls in drei Fällen, versuchten Diebstahls in zwei Fällen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Jahren verurteilt (Az.: 6 Ls 420 Js 13914/15). Das Urteil ist seit dem 15. Oktober 2016 rechtskräftig. Mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Görlitz die weitere Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt und die Dauer der Bewährungszeit auf drei Jahre bestimmt (Az.: 7 StVK 155/18). Der Aussetzungsbeschluss wurde am 26. Oktober 2018 rechtskräftig, der Verurteilte am selben Tag aus der Strafhaft entlassen. Offen ist nach Berechnung der Vollstreckungsbehörde ein Strafrest von noch 150 Tagen.

Der Verurteilte ist im Verlauf der Bewährungszeit erneut straffällig geworden, wobei er die Taten zum Teil in der Bundesrepublik Deutschland (Einbruchsdiebstahl am 13. Februar 2020 in Podrosche), zum Teil in der Republik Polen (Unerlaubter Erwerb und Besitz von Betäubungsmittel am 13. Februar 2020 in Lipna) begangen hat. Er wurde deshalb vom polnischen Amtsgericht in Zarach (Sad Rejonowy w Zarach) am 20. April 2021 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren vier Monaten verurteilt (Az.: II K 1141/20). Am 02. September 2021 hat das Amtsgericht Zarach diese Strafe in eine nachträglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren elf Monaten einbezogen.

Mit Beschluss vom 25. November 2021 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Görlitz deshalb ihre Aussetzung des Strafrestes aus dem Urteil des Amtsgerichts Görlitz vom 08. Januar 2018 nach vorheriger Anhörung des Verurteilten in der Republik Polen widerrufen. Der Widerrufsbeschluss ist nach erfolgter Zustellung mit Rechtsmittelbelehrung an den Verurteilten und ungenutztem Ablauf der Beschwerdefrist seit dem 31. Dezember 2021 rechtskräftig.

Die Staatsanwaltschaft Görlitz als zuständige Vollstreckungsbehörde erwägt, die Vollstreckung der restlichen Strafe gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 IRG nach Maßgabe des Rb-Freiheitsstrafen auf die Republik Polen zu übertragen. Hierüber hat sie den Verurteilten mit Verfügung vom 15. März 2022 im Wege der Rechtshilfe in der Strafanstalt M...... (Republik Polen) unterrichtet und anhören lassen. Der Verurteilte hat sich nicht geäußert.

Die Staatsanwaltschaft Görlitz hat deshalb die Sache unter Vermittlung durch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden dem Senat vorgelegt mit dem Antrag gemäß § 85c IRG, über die Zulässigkeit der Vollstreckungsübertragung auf die Republik Polen zu befinden und die Vollstreckung der Reststrafe in der Republik Polen für zulässig zu erklären.

II.

Der Antrag ist nicht begründet; die Übertragung der Vollstreckung auf die Republik Polen nach Maßgabe des Rb-Freiheitsstrafen ist mit Blick auf die deutsche Staatsbürgerschaft des Verurteilten derzeit nicht zulässig.

1. Nach § 85c Nr. 1 IRG erklärt es das Gericht nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Freiheitsstrafen auf Antrag der Vollstreckungsbehörde für zulässig, eine freiheitsentziehende Sanktion gegen eine Person mit nichtdeutscher oder ohne Staatsangehörigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu vollstrecken, wenn die verurteilte Person die Staatsangehörigkeit dieses anderen Mitgliedstaates besitzt und dort ihren Lebensmittelpunkt hat.

Nach dieser Vorschrift darf nur die Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen gegen Personen "mit nichtdeutscher oder ohne Staatsangehörigkeit" auf einen anderen Mitgliedstaat übertragen werden. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Formulierung sicherstellen, dass deutsche Staatsangehörige nicht gegen ihren Willen zur Strafvollstreckung an einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden (BT-Drucks. 18/4347 Seite 143, unter Hinweis auf Art. 16 Abs. 2 GG).

Zwar ließe der Gesetzeswortlaut des § 85c Nr. 1 IRG die Überstellung deutscher Staatsangehöriger zu, soweit diese - wie hier - zugleich auch Angehörige eines ausländischen Staates sind ("mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit"). Da das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 GG aber deutsche Staatsbürger generell, also auch mit einer weiteren Staatsangehörigkeit, vor einer Überstellung zur Strafvollstreckung schützt (vgl. Maunz/Dürig-Randelzhofer GG, Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Rdnr. 5, 8), ist § 85c IRG verfassungskonform so auszulegen, dass eine Übertragung d...

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