Verfahrensgang

LG Oldenburg (Aktenzeichen 8 O 539/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 25.03.2022 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg wie folgt abgeändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten p.a. über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 25.05.2020 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle künftig dem Kläger noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese vom Klageantrag zu 1. nicht erfasst sind und noch nicht vorhersehbar sind, sowie sämtlichen weiteren materiellen Schaden aus der streitgegenständlichen fehlerhaften Behandlung zu ersetzen, soweit die materiellen Schäden nicht auf Träger der Sozialversicherung oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.365,23 Euro freizuhalten.

4. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

6. Die Revision wird zugelassen.

7. Der Streitwert wird für das Verfahren erster Instanz und zweiter Instanz auf 180.000,00 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten über Schadensersatz und Feststellung anlässlich einer behauptet grob fehlerhaften postnatalen augenärztlichen Kontrolle.

Der Kläger wurde am TT.MM.2016 in der 25. Schwangerschaftswoche im Hause der Beklagten entbunden und dort bis zu seiner Entlassung am 31.10.2016 versorgt. Weil die Gefäße in der Netzhaut sich vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dieser Prozess erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine Netzhautablösung. Bis zur Entlassung wurde deshalb - zuletzt am 18.10.2016 - der Kläger durch Ärzte der Beklagten regelmäßig augenärztlich untersucht, jeweils mit dem Ergebnis, dass bis dahin Hinweise auf eine Frühgeborenenretinopathie (ROP) nicht vorlägen.

Laut Untersuchungsprotokoll vom 18.10.2016 und vorläufigem Entlassungsbrief (Anlage K3) empfahl die Beklagte mit Entlassung des Klägers aus der stationären Behandlung eine augenärztliche Kontrolle in drei Monaten.

Am 24.11.2016 wurde in der Uniklinik Köln eine ROP diagnostiziert. Das rechte Auge war schon nicht mehr zu behandeln; die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg. Auf dem rechten Auge ist der Kläger vollständig erblindet, auf dem linken Auge hat er eine hochgradige Sehbehinderung erlitten. Ihm ist lediglich noch bei starker Kontraständerung oder bei beleuchteten Gegenständen ein zielgerichtetes Greifen möglich. Der anerkannte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100%.

Der Kläger hat der Beklagten unter Berufung auf ein Gutachten des Neuropädiaters Prof. FF vorgeworfen, die Untersuchung am 18.10.2016 nicht ausreichend dokumentiert zu haben, weshalb davon auszugehen sei, dass weder eine Weitstellung der Pupillen erfolgt, noch die Vaskularisationsgrenze bestimmt worden sei. Das sei grob fehlerhaft gewesen. Für eine Fehlbeurteilung spreche auch der ungewöhnlich dramatische Verlauf bis zum 24.11.2016. Es sei zudem grob fehlerhaft gewesen, eine erneute Kontrolle erst nach drei Monaten zu empfehlen. Bei fachgerechter Untersuchung und rechtzeitiger Kontrolle wäre die Retinopathie rechtzeitig erkannt und behandelt und eine Erblindung des Klägers verhindert worden, wofür ihm Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen des Befunderhebungsfehlers und des groben Behandlungsfehlers zugutekämen.

Der Kläger hat ein Schmerzensgeld von 80.000,00 Euro für angemessen erachtet.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle künftig ihm noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese vom Klageantrag zu 1. nicht erfasst sind und noch nicht vorhersehbar sind, sowie sämtlichen weiteren materiellen Schaden aus der streitgegenständlichen fehlerhaften Behandlung zu ersetzen, soweit die materiellen Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, die Untersuchung am 18.10.2016 sei sorgfältig durchgeführt worden und habe keinen Anhalt für eine sich entwickelnde ROP gezeigt. Allenfalls liege ein Diagnosefehler vor. Da die Kontrolluntersuchung am 24.11.2016 durchgeführt worden sei, habe sich die versehentlich gegebene Empfehlung, eine solche nach drei Monaten zu veranlassen, nicht ausgewirkt.

Das Landge...

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