Entscheidungsstichwort (Thema)
Substantiierung durch Wahrunterstellung. Führung des Fristenkalenders
Leitsatz (amtlich)
Unterstellt das Berufungsgericht den Vortrag des Berufungsführers zur Eintragung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender als wahr, darf es nicht zugleich diesen Vortrag als unsubstantiiert beanstanden.
Normenkette
ZPO § 236
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss des 19. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 2.1.2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 36.004,20 EUR
Gründe
I.
[1] Die Kläger verlangen Ersatz von Schäden an ihrem Haus, die durch eine umgestürzte Zeder vom Nachbargrundstück des Beklagten verursacht worden sind.
[2] Das LG hat mit Urteil vom 3.7.2007 die Klage abgewiesen. Mit Empfangsbekenntnis vom 10.7.2007 hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger den Empfang dieses Urteils bestätigt. Am 17.8.2007 haben die Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, das Urteil des LG sei bei ihrem Prozessbevollmächtigten am 17.7.2007 eingegangen. Das Berufungsgericht hat die Berufung mit dem angefochtenen Beschluss vom 2.1.2008 als unzulässig verworfen.
[3] Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger hätten den Beweis nicht geführt, dass die Berufungsschrift am 17.8.2007 innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils beim Berufungsgericht eingegangen sei. Das Empfangsbekenntnis ihres Prozessbevollmächtigten weise als Datum der Zustellung des landgerichtlichen Urteils den 10.7.2007 aus. Die anwaltliche Versicherung, dabei handele es sich um ein Schreibversehen, genüge für den von den Klägern zu erbringenden Beweis nicht. Das gelte auch dann, wenn der Prozessbevollmächtigte der Kläger die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist selbst auf 17.8.2007 und 17.9.2007 berechnet habe und dann diese Fristen rot im Fristenkalender unter Fristablauf eingetragen worden seien. Es sei nicht einmal dargetan und unter Beweis gestellt, aus welchem Grund der Prozessbevollmächtigte der Kläger entgegen dem Inhalt des Empfangsbekenntnisses dieses nicht am 10.7.2007 unterzeichnet haben sollte und weshalb der 17.7.2007 als zutreffendes Zustellungsdatum in Betracht zu ziehen sei. Es sei durchaus denkbar, dass das Empfangsbekenntnis das Datum des Empfangs richtig wiedergebe, die Fristen aber erst am 17.7.2007 notiert worden seien.
II.
[4] Der angefochtene Beschluss hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde nicht Stand.
[5] 1. Die Rechtsbeschwerde der Kläger ist gem. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, 575 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfG BVerfGE 79, 372, 376 f.; NJW-RR 2002, 1004).
[6] 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
[7] Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, die Kläger hätten nicht bewiesen, dass die Berufungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei. Ausgehend vom Vorbringen der Kläger hat der Eingang der Berufungsschrift bei Gericht am 17.8.2007 die Berufungsfrist gewahrt (§ 517 ZPO). Das Berufungsgericht setzt sich mit dem Vortrag, das Urteil des LG sei erst am 17.7.2007 ihrem Prozessbevollmächtigten zugestellt worden, nicht in der erforderlichen Weise auseinander.
[8] a) Richtig ist zwar, dass das Empfangsbekenntnis eines Anwalts, obgleich Privaturkunde (§ 416 ZPO), wie eine Zustellungsurkunde gem. § 418 ZPO Beweis für die Entgegennahme des bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme erbringt (§ 174 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 ZPO; vgl. BVerfG NJW 2001, 1563, 1564; BGH, Beschl. v. 13.6.1996 - VII ZB 12/96, VersR 1997, 86). Auch verweist das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler darauf, dass zwar der Gegenbeweis der Unrichtigkeit eines Empfangsbekenntnisses zulässig ist, aber dafür die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit nicht genügt, vielmehr jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden muss (vgl. BGH, Urt. v. 24.4.2001 - VI ZR 258/00, VersR 2001, 1262, 1263; BGH, Urt. v. 18.1.2006 - VIII ZR 114/05, NJW 2006, 1206, 1207). Andererseits dürfen an einen Gegenbeweis nach ständiger Rechtsprechung des BGH wegen der Beweisnot der betroffenen Partei keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 8.5.2007 - VI ZB 80/06, VersR 2008, 512, 513 m.w.N.).
[9] Hier hatten die Kläger vorgetragen, das Datum 10.7.2007 auf dem Empfangsbekenntnis beruhe auf einem Schreibversehen. Ihrem Prozessbevollmächtigten sei das erstinstanzliche Urteil erst am 17.7.2007 zugegangen. Aus diesem Grund habe er die Berufungsfrist mit 17.8.2007 und die Frist zur Begründung der Berufung mit 17.9.2007 rot notiert, also beide Fristen im Fristenkalender eingetragen. Diesen Vortrag hat er anwaltlich versichert. Das Berufungsgericht hat den Vortrag als wahr unterstellt. Es vermisst jedoch die Angabe eines Grundes, aus dem der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis nicht am 10.7.2007 unterzeichnet habe, und die Angabe des Grundes, weshalb der 17.7.2007 als Zeitpunkt der Zustellung zutreffend sei.
[10] Diese Begründung ist nicht nachvollziehbar, erscheint willkürlich und verstößt damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar macht die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (vgl. BVerfG NJW 2008, 1726) oder sich bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken der Schluss aufdrängt, dass der Fehler auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.7.2007 - 1 BvR 646/06 - juris Rz. 33). Das ist hier jedoch der Fall. Die Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen die Denkgesetze.
[11] aa) Das Berufungsgericht übersieht, dass die Kläger ein Schreibversehen als Grund für die fehlerhafte Angabe geltend gemacht haben. Die Angabe eines Grundes für das Schreibversehen selbst vermisst das Berufungsgericht nicht. Ein solcher ist auch regelmäßig nicht nachzuvollziehen. Menschliches Augenblicksversagen kann oft schon im unmittelbaren Anschluss nicht mehr erklärt werden, erst recht nicht, wenn es - wie hier - erst nach Ablauf von mehreren Monaten bemerkt wird.
[12] bb) Die Rechtsbeschwerde beanstandet ferner mit Erfolg, dass das Berufungsgericht von den Klägern eine Erklärung dafür verlangt hat, aus welchem Grund das angefochtene Urteil ihrem Prozessbevollmächtigten erst am 17.7.2007 zugegangen sei. Das entzog sich nämlich ihrer Kenntnis selbst dann, wenn der Prozessbevollmächtigte des Gegners das Urteil zu einem näher am 10.7.2007 liegenden Tag zugestellt erhalten haben sollte.
[13] b) Soweit das Berufungsgericht den den Klägern obliegenden Beweis deshalb als nicht geführt ansieht, weil die eingetragenen Fristen vom 17.7. und 17.8.2007 erst am 17.7.2007 notiert worden sein könnten, obwohl das Urteil bereits am 10.7.2007 zugestellt worden sein könne, ist diese Möglichkeit theoretisch geblieben. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür führt das Berufungsgericht nicht an. Es überspannt damit die Anforderungen an den Gegenbeweis gegen § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO und verstößt deshalb gegen den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dieser verbietet es, einer Partei die Rechtsverfolgung aufgrund von Anforderungen an ihre Sorgfaltspflichten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfG BVerfGE 79, 372, 379 f.; NJW-RR 2002, 1004). Der Umstand, dass dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten das erstinstanzliche Urteil bereits am 11.7.2007 zugestellt worden ist, deutet zwar die Möglichkeit einer früheren Zustellung an, vermag aber ohne vollständige Klärung der Umstände nicht zu einer Abweisung der Berufung als unzulässig zu führen.
[14] c) Soweit das Berufungsgericht im Übrigen die anwaltliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Kläger von der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erst am 17.7.2007 nicht für ausreichend erachten wollte, hätte es darauf hinwirken müssen, dass Zeugenbeweis angetreten wird. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei kann auch bei Fortdauer seiner Funktion als Zeuge vernommen werden (vgl. Senat, Urt. v. 10.5.1994 - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2). Einen entsprechenden Hinweis hat das Berufungsgericht jedoch unterlassen und damit nicht nur gegen § 139 ZPO, sondern im konkreten Zusammenhang auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Den auf einen entsprechenden Hinweis gehaltenen Vortrag haben die Kläger in der Rechtsbeschwerdebegründung nachgeholt.
[15] 3. Die genannten Rechtsfehler sind entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei vollständiger Berücksichtigung des Vortrages der Kläger anders entschieden hätte.
[16] 4. Nach allem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Eine eigene Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO) ist nicht angebracht.
Fundstellen
Haufe-Index 2082651 |
NJW 2009, 855 |
BGHR 2009, 253 |
EBE/BGH 2008 |
FamRZ 2009, 110 |
JurBüro 2009, 220 |
AnwBl 2009, 228 |
MDR 2009, 162 |
VersR 2009, 850 |
r+s 2009, 217 |
BRAK-Mitt. 2009, 124 |
KammerForum 2009, 88 |