Leitsatz (amtlich)
Es wird - trotz inzwischen erfolgter Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Vorabentscheidung (vgl. OLG München TranspR 2003, 155 f.) - daran festgehalten, dass auch Art. 57 Abs. 1 EuGVÜ i. V. m. Art. 31 Abs. 1 CMR eine die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründende Bestimmung i. S. v. Art. 20 Abs. 1 EuGVÜ ist (Bestätigung von BGH, Urt. v. 27.2.2003 - I ZR 58/02, MDR 2003, 1068 = BGHReport 2003, 1037 = TranspR 2003, 302 f.).
Normenkette
EuGVÜ Art. 20, 57
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsmittel der Klägerin werden die Urteile des 12. Zivilsenats des OLG Nürnberg v. 6.3.2002 und der 2. Zivilkammer des LG Ansbach v. 10.10.2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an das LG zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin ist Verkehrshaftungsversicherer der M. Spedition (im Folgenden: Versicherungsnehmerin). Sie nimmt mit ihrer im Jahre 2000 erhobenen Klage die in den Niederlanden ansässige Beklagte aus übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin wegen des Verlustes von Transportgut auf Schadensersatz in Anspruch. Seit Dezember 1999 ist zwischen den Parteien eine negative Feststellungsklage über den Klageanspruch in Belgien rechtshängig.
Die Versicherungsnehmerin war mit der Besorgung des Transports von Kosmetikartikeln von W. im Landgerichtsbezirk Ansbach nach Kampenhout/Belgien beauftragt. Mit der Durchführung des Transports beauftragte sie ihrerseits die Beklagte, welche eine belgische Firma als Unterfrachtführer einsetzte. Diese übernahm die Sendung am 27.8.1999. Am 30.8.1999 informierte die Beklagte die Versicherungsnehmerin darüber, dass die Ware abhanden gekommen sei. Die Klägerin regulierte gegenüber der Versicherungsnehmerin einen Schaden i. H. v. 62.003,60 DM.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 62.003,60 DM nebst Zinsen zu zahlen.
Die Beklagte hat die internationale Zuständigkeit des deutschen Gerichts gerügt und sich darauf berufen, dass einer Sachentscheidung auch die wegen des streitgegenständlichen Anspruchs bereits früher vor dem belgischen Gericht erhobene negative Feststellungsklage entgegenstehe.
Das LG Ansbach hat die Klage wegen Fehlens seiner internationalen Zuständigkeit als unzulässig abgewiesen.
Die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (OLG Nürnberg TranspR 2002, 402).
Mit der (zugelassenen) Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, verfolgt die Klägerin ihren Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Klage sei jedenfalls nach Art. 31 Abs. 2 CMR, Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ wegen der früheren Rechtshängigkeit der vor dem belgischen Gericht erhobenen negativen Feststellungsklage umgekehrten Rubrums unzulässig. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Das belgische Gericht sei für die dort erhobene negative Feststellungsklage nach Art. 31 Abs. 1 Buchst. b CMR, Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ zuständig, weil der für die Ablieferung des Gutes vorgesehene Ort in Belgien liege. Diese Klage entfalte hinsichtlich einer - wie hier - später erhobenen, denselben Streitgegenstand betreffenden Leistungsklage die Sperrwirkung des Art. 31 Abs. 2 CMR. Dem stehe nicht entgegen, dass nach dem einschränkenden letzten Hs. dieser Bestimmung eine neue Klage erhoben werden könne, wenn die Entscheidung des Gerichts, bei dem die erste Klage erhoben worden sei, in dem Staat nicht vollstreckt werden könne, in dem die neue Klage erhoben werde. Zwar sei diese Voraussetzung an sich gegeben, weil ein Feststellungsurteil abgesehen von der Kostenentscheidung nicht vollstreckungsfähig sei. Ein solches Ergebnis widerspreche jedoch dem Zweck der genannten Bestimmung, die der Prozessökonomie und dem Ansehen der Justiz diene, das durch widersprechende Entscheidungen verschiedener Staaten Schaden nehmen würde. Die Einschränkung in Art. 31 Abs. 2 letzter Hs. CMR müsse deshalb so verstanden werden, dass die Vollstreckbarkeit des Urteils des Gerichts, bei dem die erste Klage erhoben worden sei, gerade an den Vorschriften des Zweitstaates (Vollstreckungsstaates) scheitere. Daran fehle es hier, da die Entscheidung des belgischen Gerichts in Deutschland anerkannt werde, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedürfe. Im Übrigen sei für den Geltungsbereich des EuGVÜ anerkannt, dass der negativen Feststellungsklage der Vorrang vor einer später erhobenen Leistungsklage gebühre.
II. Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Sie führt zur Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Sache an das LG. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Das deutsche Gericht ist für die streitgegenständliche Leistungsklage international zuständig (1.). Der Zulässigkeit der Klage steht nicht die von der Beklagten gegen die Klägerin vor einem belgischen Gericht erhobene negative Feststellungsklage entgegen (2.).
1. Das deutsche Gericht ist international zuständig.
a) Das Revisionsgericht ist befugt, die deutsche internationale Zuständigkeit zu überprüfen. Die Vorschrift des § 545 Abs. 2 ZPO, die hier anzuwenden ist (vgl. § 26 Nr. 7 S. 1 EGZPO), steht dem nicht entgegen, da sie ungeachtet ihres weitgefassten Wortlauts - wie bereits bislang unter der Geltung des § 549 Abs. 2 ZPO a.F. - nur die örtliche und sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges, nicht jedoch die internationale Zuständigkeit einer revisionsrechtlichen Nachprüfung entzieht (vgl. BGH v. 28.11.2002 - III ZR 102/02, BGHZ 153, 82 [84 ff.] = MDR 2003, 348 = BGHReport 2003, 248; Urt. v. 27.5.2003 - IX ZR 203/02, BGHReport 2003, 1111 = MDR 2003, 1256 = NJW 2003, 2916).
b) Die internationale Zuständigkeit des deutschen Gerichts ergibt sich aus Art. 31 Abs. 1 Buchst. b CMR. Nach dieser Vorschrift kann der Kläger wegen aller Streitigkeiten aus einer der CMR unterliegenden Beförderung die Gerichte eines Staates anrufen, auf dessen Gebiet der Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt. Im Streitfall geht es um einen grenzüberschreitenden Gütertransport, der nach Art. 1 Abs. 1 CMR den Bestimmungen dieses Abkommens unterliegt. Das deutsche Gericht ist daher zuständig, weil das Transportgut in Deutschland übernommen worden ist.
c) Das Berufungsgericht hat die Frage der internationalen Zuständigkeit aus seiner Sicht nicht für entscheidungserheblich erachtet. Es hat aber anders als das LG zu Recht keine Zweifel gehegt, dass diese nicht an einer fehlenden Einlassung der Beklagten zur Sache scheitert (Art. 20, 57 Abs. 1 EuGVÜ).
aa) Nach Erlass des Berufungsurteils hat der Senat mit Urteil vom 27.2.2003 (BGH v. 27.2.2003 - I ZR 58/02, MDR 2003, 1068 = BGHReport 2003, 1037 = TranspR 2003, 302 f.) entschieden, dass Art. 57 Abs. 1 EuGVÜ i. V. m. Art. 31 Abs. 1 CMR eine die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründende Bestimmung i. S. v. Art. 20 Abs. 1 EuGVÜ darstellt. Damit kann der Beklagte, wenn sich - wie im Streitfall - die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts aus Art. 31 Abs. 1 CMR ergibt, dessen Unzuständigkeit nicht durch Nichterscheinen, Nichtverhandeln oder durch die Rüge der fehlenden Zuständigkeit herbeiführen. Hieran ist festzuhalten.
bb) Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften liegt inzwischen die Auslegung des Verhältnisses von Art. 57 Abs. 1 EuGVÜ zu Art. 20 EuGVÜ zur Vorabentscheidung vor (vgl. OLG München TranspR 2003, 155). Der Senat sieht keinen Anlass, mit der Entscheidung des Streitfalls bis zur Entscheidung des Gerichtshofs zuzuwarten. Die vom Senat vorgenommene Auslegung begegnet keinen durchgreifenden Zweifeln. Auch das vorlegende Gericht versteht die internationale Zuständigkeit aus der CMR als eine Zuständigkeit i. S. d. Art. 20 EuGVÜ (OLG München TranspR 2003, 155 [156]; vgl. auch OLG Hamburg TranspR 2003, 23).
Der Senat sieht auch keinen Anlass, selbst vorzulegen. Abweichend von Art. 234 Abs. 3 EG bedarf es nach Art. 2 des Protokolls v. 3.6.1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) einer Vorlage nur, wenn das entscheidende Gericht eine Vorlage für erforderlich hält (Art. 3 Abs. 1), es also vernünftige Zweifel an der vorzunehmenden Auslegung hat (vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 [3430 f.] Tz. 16 ff.; BVerfG v. 9.11.1987 - 2 BvR 808/82, NJW 1988, 1456; BGH v. 12.10.1989 - VII ZR 339/88, BGHZ 109, 29 [35] = MDR 1990, 233; v. 28.11.2002 - III ZR 102/02, BGHZ 153, 82 [92] = MDR 2003, 348 = BGHReport 2003, 248). Dies ist bezüglich der in Rede stehenden Frage nicht der Fall.
Der Senat ist weiterhin der Auffassung, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, die in Art. 20 Abs. 1 EuGVÜ angeführte Zuständigkeit müsse sich aus Titel II des Übereinkommens selbst ergeben. Der Zweck der in Art. 57 EuGVÜ übernommenen Zuständigkeit aus besonderen Übereinkommen besteht gerade darin, die Beachtung der in diesen Übereinkommen enthaltenen Zuständigkeitsregeln zu gewährleisten, da diese unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Rechtsgebiete, auf die sie sich beziehen, aufgestellt wurden (vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.1994 - Rs. C-406/92, EuZW 1995, 309 [310] Tz. 24; BGH TranspR 2003, 302 [303]). Auch im Hinblick auf die zuletzt genannte Entscheidung des Gerichtshofs sieht der Senat keine vernünftigen Zweifel an der von ihm vorgenommenen Auslegung der Art. 20 Abs. 1, Art. 57 Abs. 1 und 2 EuGVÜ.
2. Der Zulässigkeit der Klage steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht die von der Beklagten gegen die Klägerin vor einem belgischen Gericht erhobene negative Feststellungsklage entgegen.
a) Die Frage, ob der Zulässigkeit der Klage das Prozesshindernis der Rechtshängigkeit entgegensteht, richtet sich im Streitfall nach der Bestimmung des Art. 31 Abs. 2 CMR, die als Regelung für ein besonderes Rechtsgebiet i. S. v. Art. 57 Abs. 1 EuGVÜ der Vorschrift des Art. 21 EuGVÜ vorgeht (vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.1994 - Rs. C-406/92, EuZW 1995, 309 [310] Tz. 25; Herber/Piper, CMR, Art. 31 Rz.. 3, 26; Basedow in MünchKomm/HGB, Art. 31 CMR Rz. 13; Huther in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Art. 31 CMR Rz. 2; Helm, Großkomm.HGB, 4. Aufl., Anh. VI zu § 452 Art. 31 CMR Rz. 3, 46).
Nach Art. 31 Abs. 2 CMR kann, wenn ein Verfahren bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht wegen einer dort genannten Streitigkeit anhängig ist, eine neue Klage wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien nicht erhoben werden, es sei denn, die Entscheidung des Gerichts, bei dem die erste Klage erhoben worden ist, kann in dem Staat nicht vollstreckt werden, in dem die neue Klage erhoben wird. Da im Streitfall der im Frachtvertrag vorgesehene Ort der Ablieferung des Transportguts in Belgien liegt, sind auch die belgischen Gerichte für die dort erhobene negative Feststellungsklage international zuständig. Ferner sind die Parteien in beiden Verfahren identisch.
Ob die Rechtshängigkeit der negativen Feststellungsklage in Belgien der Erhebung der vorliegenden Leistungsklage in Deutschland entgegensteht, hängt daher davon ab, ob es in beiden Verfahren um dieselbe Sache i. S. v. Art. 31 Abs. 2 CMR geht und ggf. die Entscheidung des belgischen Gerichts in Deutschland vollstreckt werden kann.
b) Zur Auslegung des Art. 31 Abs. 2 CMR kann nicht ohne weiteres die in der Rechtsprechung des BGH für den Bereich des nationalen deutschen Rechts anerkannte prozessuale Regel des Vorrangs der Leistungsklage vor der negativen Feststellungsklage herangezogen werden. Danach entfällt zum einen das rechtliche Interesse an alsbaldiger Feststellung des Nichtbestehens eines Anspruchs, wenn eine auf die Durchsetzung desselben Anspruchs gerichtete Leistungsklage erhoben wird und diese nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann. Zum anderen steht die Rechtshängigkeit der negativen Feststellungsklage der später erhobenen Leistungsklage nicht entgegen, weil das mit der Leistungsklage verfolgte Rechtsschutzziel über den Streitgegenstand der Feststellungsklage hinausgeht und es daher an der erforderlichen Identität der Streitgegenstände fehlt (vgl. BGH v. 22.1.1987 - I ZR 230/85, BGHZ 99, 340 [341 ff.] = MDR 1987, 558 - Parallelverfahren I; Urt. v. 7.7.1994 - I ZR 30/92, MDR 1995, 492 = GRUR 1994, 846 [847 f.] = WRP 1994, 810 - Parallelverfahren II, jew. m. w. N.).
c) Ebensowenig lässt sich die zu Art. 21 EuGVÜ ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und - ihm folgend - des BGH unbesehen auf Art. 31 Abs. 2 CMR übertragen (so aber OLG Düsseldorf TranspR 2002, 237; Basedow in MünchKomm/HGB, Art. 31 CMR Rz. 30; Huther i: Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, Art. 31 CMR Rz. 18; Helm, GroßKomm/HGB, 4. Aufl., Anh. VI zu § 452 Art. 31 CMR Rz. 49; Koller, Transportrecht, 4. Aufl., Art. 31 CMR Rz. 8). Danach kommt es hinsichtlich des Begriffs desselben Anspruchs i. S. d. Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ darauf an, ob der Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten derselbe ist (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.1987 - Rs. 144/86, NJW 1989, 665 Tz. 16), so dass nach dem Prioritätsgrundsatz auch die zeitlich früher erhobene negative Feststellungsklage Vorrang vor der später erhobenen Leistungsklage hat (vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.1994 - Rs. C-406/92, EuZW 1995, 309 [312] Tz. 45; BGH, Urt. v. 8.2.1995 - VIII ZR 14/94, MDR 1995, 845 = NJW 1995, 1758 f.; BGH v. 11.12.1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201 [210 f.] = MDR 1997, 387; Urt. v. 6.2.2002 - VIII ZR 106/01, MDR 2002, 656 = BGHReport 2002, 345 = NJW 2002, 2795 [2796]).
d) Die CMR ist als internationales Abkommen aus sich selbst heraus - ggf. unter Heranziehung der Materialien - auszulegen, wobei ihrem Wortlaut und dem Zusammenhang ihrer Einzelvorschriften besondere Bedeutung beizumessen ist (vgl. BGH BGHZ 75, 92 [94]; v. 10.10.1991 - I ZR 193/89, BGHZ 115, 299 [302] = MDR 1992, 460). Die danach vorzunehmende Auslegung des Art. 31 Abs. 2 CMR ergibt, dass die Rechtshängigkeit einer von dem als Schuldner in Anspruch Genommenen gegen den Anspruchsteller bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR international zuständigen Gericht erhobenen negativen Feststellungsklage nicht der späteren Erhebung der Leistungsklage durch den Anspruchsteller vor dem zuständigen Gericht eines anderen Vertragsstaats entgegensteht (ebenso OLG Köln TranspR 2002, 239 [241]; OLG Hamburg TranspR 2003, 25 f.; Herber/Piper, CMR, Art. 31 Rz. 26; Herber, TranspR 1996, 196 [197 f.]; Herber in TranspR 2003, 19 [20 f.]).
aa) Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass dieses Ergebnis nicht bereits daraus folgt, dass nach dem letzten Hs. des Art. 31 Abs. 2 CMR eine neue Klage erhoben werden kann, wenn die (noch ausstehende) Entscheidung des Erstgerichts in dem Staat, in dem die neue Klage erhoben wird, nicht vollstreckt werden kann (vgl. Basedow in MünchKomm/HGB, Art. 31 CMR Rz. 28; Herber, TranspR 2003, 19 [20]). Zwar hat selbst ein der Klage stattgebendes negatives Feststellungsurteil mit Ausnahme des Kostenausspruchs keinen vollstreckbaren Inhalt. Dasselbe gilt jedoch auch für das eine Leistungsklage abweisende Urteil. Dass ein solches Urteil ebenso wie ein der Leistungsklage stattgebendes Urteil der Erhebung einer erneuten Leistungsklage wegen derselben Sache entgegensteht, ist mit Recht allgemein anerkannt (vgl. Basedow in MünchKomm/HGB, Art. 31 CMR Rz. 28; Helm, Großkomm.HGB, 4. Aufl., Anh. VI zu § 452 Art. 31 CMR Rz. 51; Herber/Piper, CMR, Art. 31 Rz. 25; Koller, CMR, Art. 31 CMR Rz. 8). Denn nach Art. 31 Abs. 2 CMR sollen gerade mehrere Verfahren vor verschiedenen Gerichten wegen ein und derselben Angelegenheit vermieden werden. Es ist daher ausreichend, dass ein der negativen Feststellungsklage stattgebendes Urteil hinsichtlich der Verurteilung zur Zahlung der Kosten (ggf. in Verbindung mit einem Kostenfestsetzungsbeschluss) vollstreckbar ist. Erst wenn die Vollstreckbarkeit gerade an den Vorschriften des Vollstreckungsstaats scheitert, kann nach der Ausnahmebestimmung des Art. 31 Abs. 2 letzter Hs. CMR dort eine neue Klage erhoben werden (vgl. Basedow in MünchKomm/HGB, Art. 31 CMR Rz. 28).
bb) Die Annahme des Berufungsgerichts, es handele sich in beiden Verfahren um dieselbe Sache i. S. d. Art. 31 Abs. 2 CMR, steht jedoch nicht mit dem sich aus dem Regelungszusammenhang ergebenden Sinn und Zweck des Art. 31 CMR in Einklang.
(1) Die Vorschrift des Art. 31 CMR verfolgt den Zweck, die materiellrechtliche Rechtsvereinheitlichung, die die CMR vorsieht, dadurch noch wirksamer zu machen, dass auch gewisse prozessrechtliche Fragen einheitlich geregelt werden (vgl. Denkschrift der Bundesregierung zur CMR und zum zugehörigen Unterzeichnungsprotokoll, BT-Drucks. III/1144, 44). Die Bestimmung des Art. 31 Abs. 2 CMR steht in Zusammenhang mit der Regelung in Art. 31 Abs. 1 CMR, auf die sie Bezug nimmt. Art. 31 Abs. 1 CMR regelt die internationale Zuständigkeit, also die Frage, vor den Gerichten welcher Staaten Klage erhoben werden kann. Danach besteht keine ausschließliche internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Staates. Vielmehr soll einerseits der Kläger unter mehreren möglichen den ihm im Einzelfall als zweckmäßig erscheinenden Staat, vor dessen Gerichten er Klage erheben möchte, auswählen dürfen. Andererseits soll durch die Beschränkung der Staaten, deren Gerichte angerufen werden können, sowie durch die Regelung der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft in Art. 31 Abs. 2 CMR die Gefahr verringert werden, dass ein Beklagter wegen desselben Anspruchs vor Gerichten verschiedener Staaten in Anspruch genommen wird und in den einzelnen Staaten einander widersprechende Entscheidungen ergehen (vgl. BT-Drucks. III/1144, 45; BGH, Beschl. v. 31.5.2001 - I ZR 85/00, MDR 2002, 283 = BGHReport 2001, 983 = TranspR 2001, 452 f. = VersR 2002, 213).
(2) Dieses Spannungsverhältnis ist, wenn - wie im Streitfall - eine negative Feststellungsklage und eine Leistungsklage erhoben worden sind, zu Gunsten eines Vorrangs der Leistungsklage zu lösen.
Das dem Kläger durch Art. 31 Abs. 1 CMR eingeräumte Wahlrecht zwischen mehreren Gerichtsständen, das gem. Art. 41 Abs. 1 S. 1 CMR nicht durch Vereinbarung ausgeschlossen werden kann, darf nicht losgelöst von den ihm zu Grunde liegenden materiellrechtlichen Bezügen betrachtet werden. Das Wahlrecht dient der prozessualen Durchsetzung der materiellrechtlichen Ansprüche aus einem der CMR unterliegenden Beförderungsvertrag. Es ist daher zum Schutz desjenigen bestimmt, der Rechte aus einem solchen Vertrag geltend macht. Dieser nimmt im Prozess typischerweise die Rolle als Kläger ein, etwa der Frachtführer bei Klagen auf Zahlung des Frachtlohns oder aus Art. 10 CMR, der Absender oder Empfänger bei Schadensersatzklagen wegen des Verlusts oder der Beschädigung des Transportguts oder wegen Überschreitung der Lieferfrist (Art. 17 Abs. 1 CMR). Besonders deutlich tritt der bezweckte Schutz des Anspruchsinhabers in der in Art. 31 Abs. 1 Buchst. b CMR getroffenen Regelung zu Tage, die die internationale Zuständigkeit der Gerichte am Ort der Übernahme und Ablieferung bestimmt. Danach soll dem Absender oder Empfänger ersichtlich die Möglichkeit gegeben werden, den Frachtführer dort auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, wo er mit ihm zu tun hatte, nämlich der Absender am Ort der Übernahme der Sendung und der Empfänger am Ablieferungsort. Anhaltspunkte dafür, dass das dem Kläger eingeräumte Wahlrecht auch den Schutz des als Schuldner in Anspruch Genommenen bezweckt, der gegen den Gläubiger im Wege der negativen Feststellungsklage vorgeht, sind dagegen nicht ersichtlich.
Dieser Wertung widerspräche es, wenn es der als Schuldner in Anspruch Genommene in der Hand hätte, die Wahlmöglichkeit des Gläubigers zu unterlaufen, indem er dem Gläubiger durch die Erhebung einer negativen Feststellungsklage vor dem Gericht eines ihm als zweckmäßig erscheinenden Staates zuvorkommt, und den Gläubiger hierdurch dazu zu zwingen, dort (widerklagend) auch die Leistungsklage zu erheben. Vor diesem Hintergrund muss der in der Beschränkung der Gerichtsstände und der Bestimmung des Art. 31 Abs. 2 CMR zum Ausdruck kommende Regelungszweck zurücktreten, Klagen wegen ein und derselben Angelegenheit vor Gerichten verschiedener Staaten mit möglicherweise divergierenden Entscheidungen zu verhindern.
3. Da sonstige Gründe, die der Zulässigkeit der Klage entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich sind, hätten die Vorinstanzen die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.
III. Danach war das Berufungsurteil auf die Revision der Klägerin aufzuheben und die Sache - unter Aufhebung auch des Urteils des LG - zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an das LG zurückzuverweisen. Die Sache war entgegen dem Wortlaut des § 563 Abs. 1 S. 1 ZPO nicht an das Berufungsgericht, sondern an das LG zurückzuverweisen. Denn im Falle einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht müsste dieses zum Zwecke der nunmehr erforderlichen Verhandlung zur Sache gem. § 538 Abs. 1 Nr. 2 ZPO a.F., der im Streitfall auf das Berufungsverfahren noch anzuwenden ist (vgl. § 26 Nr. 5 S. 1 EGZPO), seinerseits die Sache an das LG zurückverweisen. Zu einer solchen Entscheidung des Berufungsgerichts ist das Revisionsgericht jedoch selbst in der Lage (vgl. BGH BGHZ 16, 71 [82]; Urt. v. 12.1.1994 - XII ZR 167/92, MDR 1994, 613 = NJW-RR 1994, 379 [380 f.], jew. m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 1099270 |
BGHR 2004, 322 |
NJW-RR 2004, 497 |
EWiR 2004, 227 |
IPRax 2006, 257 |
MDR 2004, 761 |
VersR 2004, 1024 |
VersR 2004, 1067 |
ZZP 2005, 95 |
ELF 2004, 126 |
TranspR 2004, 74 |