Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 24. Juli 2001 – 3Z BR 206/01 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bayerische Oberste Landesgericht zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen ihre Entlassung als Betreuerin ihres schwer behinderten Sohns.
Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines volljährigen Sohns, der aufgrund eines schweren Down-Syndroms körperlich und geistig in einem Maße behindert ist, dass er einer Betreuung bedarf. Die Beschwerdeführerin wurde im Jahr 1995 zur Betreuerin mit dem Aufgabenkreis “Alle Angelegenheiten” bestellt. Nach einem Umzug des Betroffenen in eine von der Beschwerdeführerin geführte Einrichtung wurde die Betreuung zunächst bis zum 1. Mai 2005 verlängert.
Mit Beschluss vom 18. Januar 2001 entließ das Amtsgericht S… die Beschwerdeführerin als Betreuerin gegen ihren Willen und bestellte die Schwester der Beschwerdeführerin zur neuen Betreuerin. Es liege ein wichtiger Grund für die Entlassung der Beschwerdeführerin nach § 1908b Abs. 1 BGB vor. Die Beschwerdeführerin sei Geschäftsführerin und Gesellschafterin des Trägers des Heims, in dem der Betroffene untergebracht sei, so dass Interessenkonflikte der Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen seien.
Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin wies das Landgericht A… mit Beschluss vom 26. April 2001 zurück. Es liege ein wichtiger Grund zur Entlassung der Beschwerdeführerin vor, da diese nach § 1908b Abs. 1 Satz 1 BGB nicht zur Betreuerin bestellt werden dürfe. Zur Begründung wies das Landgericht darauf hin, der Betroffene wohne in einem heilpädagogischen Zentrum, zu dem die Beschwerdeführerin in einer engen Beziehung stehe. Das heilpädagogische Zentrum werde von einer GmbH & Co KG betrieben. Persönlich haftende Gesellschafterin sei eine Verwaltungsgesellschaft, deren Geschäftsführerin die Beschwerdeführerin sei. Gesellschafter dieser Gesellschaft seien die Beschwerdeführerin, der Vater des Betroffenen und dessen Bruder. Aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Verflechtung der Betreiber- und der Verwaltungsgesellschaft führe die Beschwerdeführerin letztlich die Geschäfte der Heimbetreiberin. Dadurch entstehe zwischen ihr und dem Heim, in dem der Betroffene wohne, eine enge Beziehung im Sinne des § 1897 Abs. 3 BGB. So seien im vorliegenden Fall Interessenkonflikte denkbar, wenn es dem Wohl des Betreuten entspräche, in ein anderes Heim oder eine andere Einrichtung zu wechseln oder Schadensersatzansprüche gegen den Betreiber des heilpädagogischen Zentrums durchgesetzt werden müssten. Der Gesetzgeber habe mit § 1897 Abs. 3 BGB alle denkbaren Interessenkonflikte zwischen einem Betreuten beziehungsweise seinem Betreuer und Leitung sowie Personal der Anstalt ausschließen wollen, in der der Betreute wohne. Die Vorschrift enthalte einen absoluten Ausschlussgrund und lasse dem Gericht keinen Ermessensspielraum, wobei gleichgültig sei, ob konkret ein Interessengegensatz absehbar sei oder nicht. Diese strikte Einschränkung verstoße auch nicht gegen den in Art. 6 Abs. 2 GG garantierten Vorrang der Eltern bei der Verantwortung für das Kind, der bei Fällen von Interessenkollisionen nicht gelte. Festzuhalten sei, dass sich keinerlei Anhaltspunkte ergeben hätten, dass die Beschwerdeführerin persönlich ungeeignet sei, die Angelegenheiten ihres Sohns zu besorgen. Im Übrigen habe das Amtsgericht auf die verwandtschaftlichen Beziehungen des Betroffenen Rücksicht genommen und dessen Tante als neue Betreuerin bestellt.
Die sofortige weitere Beschwerde wies das Bayerische Oberste Landesgericht mit dem allein angegriffenen Beschluss vom 24. Juli 2001 zurück. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Landgerichts führte es ergänzend aus, Interessenkonflikte der Betreuerin seien insbesondere im Rahmen des Aufgabenkreises Vermögenssorge zu befürchten. Lägen bei einer Personensorge die Voraussetzungen des § 1897 Abs. 3 BGB vor, dürfe sie nicht bestellt werden, gleichgültig, ob ein Interessengegensatz absehbar sei. Die Regelung des § 1897 Abs. 3 BGB verstoße auch nicht gegen Art. 6 Abs. 2 GG. Dieses Grundrecht garantiere den Eltern eines Volljährigen nicht, dass sie dessen gesetzliche Vertreter würden, falls dieser eines solchen bedürfe. Zwar umfasse der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 GG auch das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern. Das Elternrecht garantiere Eltern den Vorrang bei der Verantwortung für das schutz- und hilfsbedürftige Kind. Diesem Verfassungsgebot entspreche § 1897 Abs. 5 BGB, der bei der Auswahl des Betreuers die Rücksichtnahme auf die Bindungen des Volljährigen auch zu den Eltern bestimme. Dieser Verfassungsgrundsatz gelte aber nicht, wenn eine Interessenkollision bestehe oder der Zweck der Maßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlange. Das sei vorliegend der Fall.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Rechte unter anderem aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG. Der Sohn der Beschwerdeführerin habe ursprünglich in der Privatwohnung der Beschwerdeführerin gewohnt und sei dort von der Beschwerdeführerin sowie von Angestellten betreut und versorgt worden. Um für den Sohn eine bessere Betreuung und Versorgung und eine größere soziale Anbindung zu gleichaltrigen Menschen zu ermöglichen, habe die Beschwerdeführerin ein großes und komfortables Appartement für den Sohn eingerichtet. Die Beschwerdeführerin selbst bewohne mit ihrem Ehemann ein in unmittelbarer Nähe des Appartements gelegenes Haus. Zwischen der Heimbetreibergesellschaft und dem Sohn bestehe kein Vertragsverhältnis, insbesondere werde für die vom Heim zur Verfügung gestellten Leistungen kein Entgelt gezahlt. In Fallkonstellationen, bei denen ein betreuter Mensch in einer von Familienangehörigen betriebenen Pflegeeinrichtung untergebracht werden solle, seien keine weitergehenden Interessenkonflikte abzusehen, als wenn der Betreuungsbedürftige durch die Familie selbst untergebracht, betreut und versorgt werde. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG liege zumindest dann vor, wenn der Familienangehörige nicht in einem Dienst- oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnis zu einer Einrichtung stehe, sondern diese selbst betreibe. Personen, die ihre Familienangehörigen in einer eigenen Einrichtung betreuten und versorgten, würden willkürlich ungleich gegenüber solchen Personen behandelt, die ihren Familienangehörigen außerhalb einer Einrichtung betreuen und versorgen ließen. Die Beschwerdeführerin sei bis heute die engste Bezugsperson des Betroffenen. Die Übertragung der Betreuerfunktion auf eine dritte Person sei geeignet, das Verhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn nachhaltig nachteilig zu beeinflussen. Das Bayerische Oberste Landesgericht habe verkannt, dass eine Nichtberücksichtigung der Beschwerdeführerin bei der Auswahl einer Betreuerin für ihren Sohn allenfalls gerechtfertigt gewesen wäre, wenn auch im Einzelfall eine konkrete Interessenkollision zu befürchten sei oder der Zweck der Betreuerbestellung aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlange.
Der Bayerischen Staatsregierung und der Beteiligten des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 GG angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind vom Bundesverfassungsgericht schon entschieden (vgl. die nachfolgend angeführten Entscheidungen). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat in der angegriffenen Entscheidung die inhaltlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 GG verkannt, als es die entfernte, abstrakte Möglichkeit einer Interessenkollision hat genügen lassen, um die Beschwerdeführerin nach § 1897 Abs. 3 BGB von ihrer Betreuerfunktion zu entbinden.
a) Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, die aus Eltern und Kindern bestehende Familiengemeinschaft als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren und zu fördern (vgl. BVerfGE 24, 119 ≪135≫; 33, 236 ≪238≫). Dabei garantiert Art. 6 Abs. 2 GG den Vorrang der Eltern bei der Verantwortung für das des Schutzes und der Hilfe bedürftige Kind. Diese Verfassungsgrundsätze gebieten eine bevorzugte Berücksichtigung der Familienangehörigen bei der Auswahl von Pflegern und Vormündern, sofern keine Interessenkollision besteht oder der Zweck der Fürsorgemaßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlangt; in diesen Grenzen sind auch bei der Bestellung von Interessenvertretern für künftige Kinder zunächst die Eltern heranzuziehen (vgl. BVerfGE 33, 236 ≪238 f.≫).
b) Diese Maßstäbe hat das Bayerische Oberste Landesgericht in seiner angegriffenen Entscheidung verkannt.
Entgegen der in der angegriffenen Entscheidung zum Ausdruck kommenden Auffassung gestattet das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG es nicht, § 1897 Abs. 3 BGB dahingehend auszulegen, dass bereits die entfernte, abstrakte Möglichkeit einer Interessenkollision genügen kann, um das Recht der Eltern auf eine bevorzugte Berücksichtigung bei der Auswahl von Betreuern für ihr volljähriges, schutzbedürftiges Kind einzuschränken.
aa) Allerdings haben die Fachgerichte im Ausgangsverfahren darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung bei der Einbringung des Betreuungsgesetzes, das zur Einfügung des § 1897 Abs. 3 BGB geführt hat, davon ausgegangen ist, der Inhaber oder Leiter eines Heims oder einer sonstigen Einrichtung könne nicht Betreuer eines Betreuten sein (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 125, rechte Spalte, und S. 126). Hieran anlehnend hat die Entscheidung des Landgerichts, auf die das Bayerische Oberste Landesgericht Bezug genommen hat, unter anderem darauf abgestellt, dass es zu einem Konflikt kommen könne, wenn es einerseits dem Interesse des Betroffenen entspräche, in ein anderes Heim oder eine ähnliche Einrichtung “überzuwechseln”, andererseits aber die Gefahr bestünde, dass es zu einer Schließung des Heims oder einer Verminderung des Personals führen würde, wenn der Betroffene (und auch andere) das Heim verlassen würde und von den danach erforderlichen Maßnahmen möglicherweise auch die Beschwerdeführerin betroffen sein könnte. Die Beschwerdeführerin ist auch Geschäftsführerin und Miteignerin des Einrichtungsträgers, in dem der Betreute untergebracht ist, so dass die zitierten Erwägungen zunächst als einschlägig erscheinen.
bb) Es ist indes bereits fraglich, ob die fachgerichtlich zitierte Aussage (in BTDrucks 11/4528, S. 125 und 126) die besondere Situation berücksichtigt hat, dass der Inhaber oder Leiter eines Heims zugleich leiblicher Elternteil eines Betreuten ist. Entgegen der Auffassung der Fachgerichte lässt § 1897 Abs. 3 BGB in Bezug auf die hier maßgebliche Tatbestandsvariante der “engen Beziehung” des Betreuers zu einer Einrichtung aufgrund seiner mangelnden Begriffsschärfe zumindest Wertungen zu (vgl. Zimmermann in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Familienrecht 4, 13. Auflage, § 1897 Rn. 28), die dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG Rechnung tragen. So mag im Allgemeinen die Aussage durchaus zutreffen, dass der Leiter einer Einrichtung im Sinne des § 1897 Abs. 3 BGB in einer engen Beziehung zu dieser Einrichtung steht, weil in diesen Fällen die (abstrakte) Gefahr einer Interessenkollision besonders groß ist. Diese im Allgemeinen zutreffende Einschätzung ist aber nicht ohne weiteres auf die besondere Situation übertragbar, in der ein Inhaber einer Heimeinrichtung – wie hier die Beschwerdeführerin – zugleich leibliches Elternteil des Betreuten ist. Hiergegen spricht schon, dass die Gesetzgebungsmaterialien im Zusammenhang mit § 1897 Abs. 1 BGB auch die Aussage enthalten, es sei nicht sinnvoll gewesen, solche Personen von der Betreuertätigkeit generell auszuschließen, die in Konkurs geraten seien. Eine solche Regelung “würde z.B. ausschließen, dass den Eltern eines geistig behinderten Volljährigen ein Aufgabenkreis im Bereich der Personensorge für ihr Kind, z.B. die Einwilligung in eine Heilbehandlung, zugewiesen” werde (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 125). Dies dokumentiert ebenso wie die Regelung des § 1897 Abs. 5 BGB, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Betreuung des Volljährigen durch seine leiblichen Eltern eine vorzugswürdige Sonderkonstellation gesehen hat. Nimmt ein leibliches Elternteil zugleich die Funktion des Leiters oder Inhabers eines Einrichtungsträgers wahr, sind damit zwar Interessenkollisionen nicht völlig ausgeschlossen, liegen jedoch wesentlich ferner als bei den (vom Gesetzgeber wohl allein ins Auge gefassten) Fällen, in denen zwischen dem Betreuten und dem Einrichtungsleiter keine engen verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen.
cc) Verfassungsrechtlich zu berücksichtigen ist dabei der Umstand, dass gerichtlich ausdrücklich festgestellt war, die Möglichkeit einer Interessenkollision sei derzeit konkret nicht absehbar. Auch die Beschwerdeführerin hat hierzu sinngemäß im fachgerichtlichen Verfahren unbestritten dargelegt, in ihrem konkreten Fall sei eine Interessenkollision faktisch ausgeschlossen. Ihr Sohn werde nämlich unentgeltlich in der Einrichtung versorgt. Es seien keine weitergehenden Interessenkonflikte absehbar, als wenn der Betreute durch die Familie selbst untergebracht, betreut und versorgt werde. Die Beschwerdeführerin werde deshalb ungleich gegenüber solchen Familien behandelt. Dies wird durch den Inhalt der beigezogenen Akte des fachgerichtlichen Verfahrens insoweit bestätigt, als es außer Frage steht, dass die Beschwerdeführerin bislang einen sehr hohen Aufwand betrieben hat, um ihr behindertes Kind angemessen zu betreuen und zu versorgen. So hat die Beschwerdeführerin einen Gebäudetrakt der Betreuungseinrichtung mit erheblichem Aufwand umbauen lassen, um ein Appartement nach den Anforderungen ihres Sohns herzustellen.
Da eine konkrete Interessenkollision nicht absehbar war, wird die Auslegung in der angegriffenen Entscheidung dem Elternrecht der Beschwerdeführerin nicht mehr gerecht, zumal das Gericht mildere, aber möglicherweise ähnlich geeignete Mittel zum Ausschluss einer Interessenkollision, etwa die Bestellung eines Ergänzungsbetreuers nach § 1899 BGB oder eine gesteigerte gerichtliche Kontrolldichte im Berichtswesen, nicht erkennbar ins Auge gefasst hat. Damit schränkt die angegriffene Entscheidung in ihrer Auslegung des § 1897 Abs. 3 BGB das Elternrecht der Beschwerdeführerin unverhältnismäßig ein.
2. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen und Kosten folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1504882 |
FamRZ 2006, 1509 |
NJW-RR 2006, 1009 |
BtPrax 2006, 228 |