Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozesskostenhilfe für Berufungsbegründung. vorrangige Pflicht zur Bescheidung des Antrags auf Prozesskostenhilfe. Versäumung der Begründungsfrist. Wiedereinsetzung. Verwerfung der Berufung
Leitsatz (amtlich)
Hat das Oberverwaltungsgericht über den vor Ablauf der Frist zur Begründung der zugelassenen Berufung gestellten (ordnungsgemäßen) Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vorab entschieden, darf es die Berufung nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen.
Normenkette
VwGO §§ 60, 125, 124 Abs. 6, § 166
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 19.07.2002; Aktenzeichen 8 A 3366/01.A) |
VG Aachen (Entscheidung vom 01.08.2001; Aktenzeichen 6 K 1693/98.A) |
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Juli 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu Recht als Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen, ohne zuvor über den innerhalb der Berufungsbegründungsfrist gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts entschieden zu haben und ggf. Wiedereinsetzung nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu gewähren. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
Das Oberverwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss, mit dem es die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 6 VwGO versagt hat, ausgeführt, dass dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist nicht aus den von seiner Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsgesuch vom 24. Juni 2002 geltend gemachten Gründen gewährt werden konnte. Das ist insofern nicht frei von Bedenken, als das Oberverwaltungsgericht die anwaltlich versicherten Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers, sie habe das Original der Begründungsschrift vom 16. Mai 2002 “selbst in die Post gegeben”, von vornherein als ungeeignet angesehen hat, eine unverschuldete Versäumnis zu begründen. Die Beschwerde macht dagegen geltend, dieses Vorbringen sei so zu verstehen gewesen, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Schriftsatz am Tag der Zustellung des Zulassungsbeschlusses “auch selbst in den Briefkasten der Post eingeworfen” hat. Falls das zutrifft, hätte eine Nachfrage bei der Prozessbevollmächtigten des Klägers ergeben können, dass die Fristversäumung unverschuldet war. Unter diesen Umständen spricht einiges dafür, dass das Oberverwaltungsgericht mit seiner Auffassung, der Wiedereinsetzungsvortrag sei unheilbar unzureichend und nicht ergänzungsfähig gewesen, die Anforderungen an die Darlegung eines Wiedereinsetzungsgrundes überspannt hat. Dagegen führen die weiteren mit der Beschwerde erhobenen Einwände nicht auf einen Verfahrensfehler. Namentlich kann sich der Kläger nicht darauf berufen, dass eine Berufungsbegründung nicht erforderlich gewesen wäre (vgl. Beschluss vom 22. Januar 2002 – BVerwG 1 B 11.02 – Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 22 und Beschluss vom 3. Dezember 2002 – BVerwG 1 B 429.02 – AuAS 2003, 94 = BayVBl 2003, 412).
Das Oberverwaltungsgericht hat jedenfalls nicht genügend beachtet, dass der Kläger innerhalb der Berufungsbegründungsfrist durch den am 14. Juni 2002 beim Oberverwaltungsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 13. Juni 2002 Prozesskostenhilfe und die Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten beantragt und hierzu eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie einen Bescheid über die Gewährung von Sozialhilfe eingereicht hatte. Ohne über diesen – ordnungsgemäß begründeten und vollständigen – Antrag vorab zu entscheiden, hätte das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen (a.A. OVG Koblenz, Beschluss vom 5. Mai 1999 – 10 A 10234/99 – AuAS 1999, 197; ähnlich für gerichtskostenfreie Verfahren ohne Anwalts- und Begründungszwang VGH Mannheim Beschluss vom 22. Mai 2001 – 7 S 646/01 – NVwZ-RR 2001, 802; vgl. demgegenüber zum sozialgerichtlichen Verfahren BVerfG, Kammer-Beschluss vom 18. Dezember 2001 – 1 BvR 391/01 – FamRZ 2002, 531). Da auch für die Berufungsbegründung Vertretungszwang durch einen Rechtsanwalt besteht (§ 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht zuletzt etwa Beschluss vom 20. Juli 2000 – BVerwG 1 B 37.00 – ≪juris≫), hätte das Oberverwaltungsgericht zunächst über den formell ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der vollständigen Einreichung des Gesuchs entscheiden und die Erfolgsaussichten in der Hauptsache prüfen müssen. Nur so konnte es den nach seinen Angaben auf Prozesskostenhilfe angewiesenen Kläger in die Lage versetzen, sich durch einen ihm beigeordneten Rechtsanwalt im Berufungsverfahren – und damit auch zur Abgabe der Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO – vertreten zu lassen (oder – nach einer etwaigen Ablehnung des Antrags – selbst zu entscheiden, ob er die Berufung zurücknimmt oder das Verfahren unter Beantragung von Wiedereinsetzung in die abgelaufene Begründungsfrist auf eigene Kosten fortsetzt [vgl. BVerfG, Kammer-Beschluss vom 8. Januar 1996 – 2 BvR 306/94 – ≪juris≫]). Wäre das Oberverwaltungsgericht so vorgegangen, dann hätte es hier Prozesskostenhilfe – im Hinblick auf den vorgelegten Sozialhilfebescheid und den erfolgreichen Antrag auf Zulassung der Berufung – bewilligen und dem Kläger mit Rücksicht hierauf nach § 60 VwGO Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gewähren müssen (vgl. zuletzt Beschluss vom 17. April 2002 – BVerwG 3 B 137.01 – DVBl 2002, 1050 zur Gewährung von Wiedereinsetzung in die Einlegungs- und Begründungsfrist m.w.N.; vgl. etwa auch BVerfG, Kammer-Beschlüsse vom 26. September 2002 – 1 BvR 1419/01 – NVwZ 2003, 341 = DVBl 2003, 130 und vom 23. September 1992 – 2 BvR 871/92 – NJW 1993, 720). Denn der unbemittelte Kläger, der während des Laufs der Rechtsmittelfrist (oder – wie hier – Rechtsmittelbegründungsfrist) ein formell ordnungsgemäßes Prozesskostenhilfegesuch eingereicht hat, hat alles getan, was von ihm zur Wahrung der Frist erwartet werden kann (vgl. Beschluss vom 21. Januar 1999 – BVerwG 1 B 3.99 – Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 38 unter Hinweis auf BGH, NJW-RR 1993, 451 m.w.N.). Solange das Oberverwaltungsgericht über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren nicht entschieden hatte, durfte es danach die Berufung nicht aus formalen Gründen als unzulässig verwerfen und dem Kläger damit endgültig die Berufungsinstanz verschließen. Der Umstand, dass der Kläger seine Prozessbevollmächtigte möglicherweise schon vor der Beantragung von Prozesskostenhilfe für die zweite Instanz bzw. ohne Rücksicht auf den Erfolg des Prozesskostenhilfeantrags mit der Durchführung des Verfahrens beauftragt hatte, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Die unbemittelte Partei darf nicht schlechter gestellt werden, als wenn sie sich so verhalten hätte, wie es das Verfahrensrecht zulässt. Schließlich hätte der Kläger Prozesskostenhilfe beantragen können, ohne eine Berufungsbegründung vorzulegen; in diesem Falle hätte der Prozesskostenhilfeantrag nicht mit der vom Oberverwaltungsgericht gegebenen formalen Begründung abgelehnt werden können (vgl. BVerfG, Kammer-Beschluss vom 8. Januar 1996 a.a.O.; vgl. auch Kammer-Beschluss vom 13. Juli 1992 – 1 BvR 99/90 – NJW-RR 1993, 382). Durch die Vorgehensweise des Oberverwaltungsgerichts, das eine Wiedereinsetzung ohne Rücksicht auf den Prozesskostenhilfeantrag ablehnt und gleichzeitig Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt, wird der unbemittelte Kläger im Ergebnis gleich doppelt benachteiligt. Ihm wird nicht nur der Zugang zur Berufungsinstanz endgültig versperrt, sondern auch die Freistellung vom Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts, auf die er bei richtiger Sachbehandlung Anspruch gehabt hätte, verweigert.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt Verfahrensrecht und im Hinblick auf die Verweigerung des Zugangs zur Berufungsinstanz zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).
Dem Kläger ist nunmehr auf der Grundlage des vollständigen und an sich begründeten Prozesskostenhilfegesuchs vom 13. Juni 2002 Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zu gewähren und die Berufung im Hinblick auf die mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachgeholte Berufungsbegründung (durch Einreichung der Begründungsschrift vom 16. Mai 2002, die – wie regelmäßig so auch hier – in zulässiger Weise auf die erfolgreiche Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung Bezug nimmt ≪vgl. das Urteil vom 23. April 2001 – BVerwG 1 C 33.00 – BVerwGE 114, 155≫) als zulässig zu behandeln.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Richter
Fundstellen
ZAP 2003, 1106 |
DÖV 2004, 628 |
AuAS 2003, 259 |
DVBl. 2004, 68 |