Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Kündigungsfrist
Leitsatz (redaktionell)
Eintägige tarifliche Kündigungsfrist aufgrund Betriebsübung
Normenkette
BGB § 622 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 10. Mai 1995 – 2 Sa 67/95 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger, der Mitglied der IG-Metall ist, begann am 3. Mai 1994 bei der Beklagten eine Tätigkeit als Kranfahrer zu einem Bruttostundenverdienst von 13,80 DM bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Im Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes in Mecklenburg-Vorpommern – gültig ab 1. November 1991 – (im folgenden: MTV Verkehrsgewerbe), der auf Seiten der Gewerkschaft von der ÖTV abgeschlossen worden ist, ist in § 3 unter der Überschrift „Probezeit” geregelt:
- Bei der Einstellung wird eine Probezeit vereinbart. Falls nichts anderes vereinbart wird, gelten die ersten 4 Wochen als Probezeit. Die Probezeit darf 3 Monate nicht überschreiten.
- Bis zum Ablauf der Probezeit kann das Arbeitsverhältnis beiderseits mit einer Frist von einem Werktag gekündigt werden. Die Kündigung des Probearbeitszeitverhältnisses kann beiderseits bis zum letzten Tag der Probezeit erfolgen.
Am 5. Mai 1994 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum Ablauf des 6. Mai 1994 mündlich. Die Parteien streiten um die richtige Kündigungsfrist.
Der Kläger hat geltend gemacht, die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis in Anwendung des § 622 Abs. 1 BGB erst zum 15. Juni 1994 beendet. Deshalb schulde die Beklagte auch die Vergütung bis zu diesem Tag mit dem Betrag von 3.091,20 DM brutto (28 Tage × 8 Stunden × 13,80 DM) abzüglich 1.375,– DM netto Arbeitslosengeld. Der Kläger hat in Abrede gestellt, daß eine eintägige Kündigungsfrist einzelvertraglich vereinbart worden sei, und hat weiter bestritten, daß die Anwendung des gesamten Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes bei der Beklagten betriebsüblich sei. Da er nur zwei Tage bei der Beklagten gearbeitet habe, habe er jedenfalls keine Kenntnis von der Geltung dieses Tarifvertrages gehabt.
Der Kläger hat beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 5. Mai 1994 nicht zum 6. Mai 1994 aufgelöst worden ist, sondern über diesen Zeitpunkt hinaus bis zum 15. Juni 1994 fortbestanden hat,
- die Beklagte zu verurteilen, an ihn, den Kläger, 3.091,20 DM brutto abzüglich 1.375,– DM (Arbeitslosengeld) zu zahlen.
Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag vorgetragen, zumindest aufgrund einer betrieblichen Übung gelte die eintägige Kündigungsfrist gemäß § 3 Ziff. 2 MTV Verkehrsgewerbe. Sie, die Beklagte, sei Mitglied des Fachverbandes und wende den einschlägigen Tarifvertrag auf alle Beschäftigten unabhängig davon an, ob diese organisiert seien oder nicht (Beweis: Buchhalterin Z.). Auf die Kenntnis von einer derartigen betrieblichen Übung durch den Arbeitnehmer komme es nicht an. Im übrigen sei dem Kläger bei der Anstellung gesagt worden, man zahle mehr als Tarif.
Das Arbeitsgericht hat nach den Klageanträgen erkannt. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte nach wie vor die Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß das Arbeitsverhältnis mangels Anwendbarkeit des MTV Verkehrsgewerbe nur mit der ordentlichen Kündigungsfrist des § 622 Abs. 1 BGB aufgelöst werden konnte und dem Kläger deshalb aus Annahmeverzug noch der geltend gemachte Zahlungsanspruch zusteht.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentliche wie folgt begründet: Das Arbeitsgericht habe zu Recht die Kündigungsfrist von vier Wochen zum 15. des Kalendermonats (§ 622 Abs. 1 BGB) angewandt, weil weder von einer Tarifbindung der Parteien, noch von einer betrieblichen Übung auszugehen sei, was den Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes angehe. Die Anwendung des einschlägigen Tarifvertrages auf alle Beschäftigten – einschließlich dessen Probezeit-Kündigungsfrist von einem Tag – habe die Beklagte nicht substantiiert dargestellt; jedenfalls scheitere dessen Anwendung auf das Arbeitsverhältnis des Klägers an dem Umstand, daß der Kläger eine eventuelle betriebliche Übung weder kannte noch habe kennen müssen. Mangels Einhaltung der zutreffenden Kündigungsfrist sei die Beklagte in Annahmeverzug geraten (§ 615 BGB).
II. Dem folgt der Senat im Ergebnis und teilweise auch in der Begründung. Die Revision rügt zu Unrecht, der Kläger könne nicht mehr den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis 15. Juni 1994 geltend machen und außerdem komme § 622 Abs. 1 BGB nicht zur Anwendung.
1. Da am 5. Mai 1994 nur eine einzige Kündigung ausgesprochen worden ist, war für die Beklagte von Anfang an klar, daß der Kläger diese Kündigung angreifen wollte, von der er mangels Kenntnis der eintägigen Kündigungsfrist des MTV Verkehrsgewerbe annehmen mußte, es handle sich um eine außerordentliche Kündigung. Diese Kündigung vom 5. Mai 1994 war mithin Streitgegenstand, so daß es sich bei der Umformulierung des Antrages laut Schriftsatz vom 31. August 1994 nur um eine Präzisierung im Sinne des § 264 Ziff. 2 ZPO handelt. Jedenfalls wäre in der Umstellung der Klage auch eine sachdienliche Klageänderung im Sinne des § 263 ZPO zu sehen, wenn man nicht schon davon ausgehen will, die Beklagte habe in eine solche formelle Klageänderung eingewilligt, weil sie sich schon beim Arbeitsgericht hierauf rügelos eingelassen hat, § 267 ZPO.
2. Der Klageantrag zu 1 ist in der vorliegenden Form gemäß § 256 ZPO zulässig, weil der Kläger die Feststellung des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses bis zum 15. Juni 1994 unter Bezugnahme auf die nach seiner Auffassung maßgebliche Kündigungsfrist des § 622 Abs. 1 BGB anstrebt, wofür ihm ein rechtliches Interesse an alsbaldiger Feststellung auch neben dem Zahlungsantrag nicht abgesprochen werden kann, zumal von der Feststellungswirkung für die Ausfüllung der Arbeitspapiere, Arbeitsbescheinigung usw. Rechtsfolgen ausgehen (vgl. Senatsurteil vom 20. März 1986 – 2 AZR 296/85 – AP Nr. 9 zu § 256 ZPO 1977).
3. Die Feststellungsklage ist auch sachlich begründet.
Im Gegensatz zur früheren Regelung des § 622 BGB a.F. ist nunmehr in § 622 Abs. 3 BGB n.F. die Frist für die Kündigung während einer vereinbarten Probezeit gesetzlich auf zwei Wochen festgelegt. Zwar können hiervon abweichende Regelungen durch Tarifvertrag vereinbart werden, § 622 Abs. 4 BGB. Dessen Verbindlichkeit für die Arbeitsvertragsparteien setzt aber entweder voraus, daß beiderseits Tarifgebundenheit vorliegt, was hier unstreitig nicht der Fall ist, oder daß im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages die abweichenden tarifvertraglichen Bestimmungen zwischen nichttarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbart sind, § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB. Auf eine solche konkrete, einzelvertragliche Vereinbarung mit dem Kläger beruft sich die Beklagte selber nicht, sondern nur auf eine betriebliche Übung betreffend die Anwendung des hier einschlägigen MTV Verkehrsgewerbe. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte das Bestehen einer solchen betrieblichen Übung überhaupt ausreichend substantiiert vorgetragen hat (vgl. dazu BAG Urteile vom 3. August 1982 – 3 AZR 503/79 – BAGE 39, 271 = AP Nr. 12 zu § 242 BGB Betriebliche Übung und vom 4. September 1985 – 7 AZR 262/83 – BAGE 49, 290, 295 = AP Nr. 22, a.a.O., zu I 2 a der Gründe, m.w.N.). Denn der Regelung des § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB ist jedenfalls zu entnehmen, daß eine solche eventuelle betriebliche Übung – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden hat – dem betroffenen Arbeitnehmer nicht nur bekannt gewesen, sondern daß er hiermit auch einverstanden gewesen sein muß. Wenn nämlich § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB ausdrücklich eine Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien verlangt, so setzt das übereinstimmende Willenserklärungen voraus (ähnlich Gaul, ZTR 1991, 188, 191; KR-Hillebrecht/Spilger, 4. Aufl., § 622 BGB Rz 189; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rz 123, 125; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 111 I 4, S. 856; Soergel/Kraft, BGB, 11. Aufl., § 622 Rz 21; Staudinger/Preis, BGB, 13. Aufl., § 622 Rz 47; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 6. Aufl., Rz 384; MünchKomm-Schwerdtner, 2. Aufl., § 622 BGB Rz 49; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 3 Rz 95, 107, 116–120). Da die Beklagte selber nicht behauptet hat, die angeblich bestehende betriebliche Übung über die Anwendung des in Rede stehenden Tarifvertrages sei dem Kläger bekannt gewesen, geschweige denn, daß er hiermit einverstanden gewesen sei, kommt eine Anwendung der Probezeitvorschrift des § 3 MTV Verkehrsgewerbe nicht in Betracht.
4. Da die Beklagte sich neben dem Hinweis auf den MTV Verkehrsgewerbe nicht darauf berufen hat, mit dem Kläger sei einzelvertraglich eine Probezeit vereinbart worden, kommt auch die gesetzliche Probezeit-Kündigungsfrist von zwei Wochen nicht zum Tragen, sondern die ordentliche Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 1 BGB.
5. Soweit die Beklagte schließlich die Zulässigkeit der Klageerweiterung durch Erhebung der Zahlungsklage unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Klagänderung mit der Revision angreift, gelten die Ausführungen oben zu II 1 sinngemäß: Die Beklagte hat sich auch insoweit rügelos auf die Zahlungsklage eingelassen.
Das Landesarbeitsgericht hat auch in der Sache selbst einen Anspruch des Klägers aus § 615 BGB zutreffend bejaht, weil die Beklagte sich mit der zur Unzeit erklärten Kündigung ab dem 6. Mai 1994 in Annahmeverzug befand. Dies beruht auf der Anwendung des § 296 BGB, wie der Senat im Urteil vom 24. November 1994 (– 2 AZR 179/94 – AP Nr. 60 zu § 615 BGB, mit Anm. von Ramrath, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; zuletzt Urteil vom 21. März 1996 – 2 AZR 362/95 – n.v., zu II 1 der Gründe) im einzelnen begründet hat. Dort hat der Senat u.a. ausgeführt, die Anwendung des § 296 Satz 1 BGB bringe im Vergleich zu dem Ansatz nach § 295 BGB eine Lösung gerade für Lohnansprüche bis zur Erhebung der Kündigungsschutzklage; deshalb sei auf die Mitwirkungsverpflichtung des Arbeitgebers nach § 296 Satz 1 BGB abzustellen. Die Beklagte hat es im übrigen geflissentlich übersehen, daß der Kläger schon in der Klageschrift ausdrücklich seine Arbeitskraft angeboten und Entgeltansprüche aus Annahmeverzug geltend gemacht hat.
Unterschriften
Etzel, Bitter, Fischermeier, Hayser, Bensinger
Fundstellen