Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslösungsanspruch eines Arbeitnehmers des Baugewerbes. Wohne am Betriebssitz bei auswärtiger Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Der Auslösungsanspruch nach dem BRTV-Bau setzt voraus, daß der Arbeitnehmer außerhalb seiner Erstwohnung übernachtet. Eine Übernachtung am Ort der Baustelle ist aber nicht erforderlich.

 

Normenkette

BRTV-Bau vom 3. Februar 1981 i.d.F. vom 27. April 1990 § 7 Nr. 4.1

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 19.12.1990; Aktenzeichen 5 Sa 479/90)

ArbG Kiel (Urteil vom 05.09.1990; Aktenzeichen 4 b Ca 1137/90)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 19. Dezember 1990 – 5 Sa 479/90 – wird auf Kosten der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte zur Zahlung eines Bruttobetrags von 1.197,92 DM verurteilt wird und Zinsen nur aus den Nettobeträgen zu zahlen sind.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der 53jährige Kläger war vom 16. Januar 1990 bis 6. Juli 1990 bei der Beklagten, einem Bauunternehmen mit Sitz in K…, als Maurer beschäftigt. In den Monaten Mai und Juni 1990 arbeitete er auf einer Baustelle der Beklagten in F…. Für diese Zeit verlangt er von der Beklagten Auslösung in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 1.197,92 DM.

Der Kläger besitzt eine Eigentumswohnung in S…, Kreis P…, für die er einen monatlichen Abtrag von etwa 491,-- DM zahlt und von der aus er an den Arbeitstagen, an denen er am Betriebssitz der Beklagten in K… beschäftigt war, mit einem Bus nach K… fuhr. Während seiner Tätigkeit in F… übernachtete er bei einer Bekannten in K…, weil der erste Bus aus S… erst um 7.15 Uhr in K… eintraf, während die Beklagte ihre Mitarbeiter mit einem Firmenfahrzeug bereits um 5.30 Uhr von K… aus nach F… transportierte. An den Kosten der Wohnung seiner Bekannten in K… beteiligte sich der Kläger nicht.

Der Kläger hat vorgetragen, ihm stehe für die Monate Mai und Juni 1990 ein Anspruch auf Auslösung zu, weil ihm die tägliche Rückkehr zu seiner Wohnung in S… nicht zumutbar gewesen sei. Er sei auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Mit diesen hätte er die Baustelle in F… von seiner Wohnung in S… aus nicht pünktlich zum Arbeitsbeginn ereichen können.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.197,92 DM nebst 4 % Zinsen aus 1.091,34 DM seit 25. Juli 1990 und aus 1.197,92 DM seit 21. August 1990 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der tarifliche Anspruch auf Auslösung setze voraus, daß der Arbeitnehmer einen getrennten Haushalt führe und der auswärtige Arbeitseinsatz ursächlich für die getrennte Haushaltsführung sei. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, wenn ein Arbeitnehmer – wie der Kläger – nicht am Ort der Baustelle, sondern am Ort des Betriebssitzes übernachte.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision mit der Maßgabe, daß er die Hauptforderung als Bruttobetrag und Zinsen nur aus den sich ergebenden Nettobeträgen begehrt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage im Ergebnis mit Recht stattgegeben. Die Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger 1.197,92 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus den sich ergebenden Nettobeträgen seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Dieser Betrag steht dem Kläger als tarifliche Auslösung für die Monate Mai und Juni 1990 zu.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet im Klagezeitraum (Mai und Juni 1990) der Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 3. Februar 1981 in der Fassung vom 27. April 1990 (BRTV-Bau) kraft Allgemeinverbindlichkeit mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 4 Abs. 1, § 5 Abs. 4 TVG). Für die Klageforderung sind folgende Vorschriften des BRTV-Bau heranzuziehen:

§ 7

Fahrtkostenabgeltung, Verpflegungszuschuß und Auslösung

  • Bau- oder Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt
  • Auslösung

    Der Arbeitnehmer, der auf einer Bau- oder Arbeitsstelle tätig ist, die mehr als 25 km vom Betrieb entfernt ist, und dem die tägliche Rückkehr zur Wohnung (Erstwohnung) nicht zuzumuten ist, hat für jeden Kalendertag, an dem die getrennte Haushaltsführung hierdurch verursacht ist, Anspruch auf eine Auslösung.

    Bei dem Arbeitnehmer, der vor einem Einsatz nach Nr. 1 bereits einen getrennten Haushalt führte, gilt der Einsatz nach Nr. 1 als ursächlich für die getrennte Haushaltsführung, wenn er auf einer mindestens 25 km vom Betrieb entfernten Bau- oder Arbeitsstelle tätig ist, und wenn ihm die tägliche Rückkehr weder zu seiner Erstwohnung noch zu seiner beibehaltenen oder aufgegebenen Zweitwohnung zuzumuten ist.

    Das Merkmal der getrennten Haushaltsführung gilt als erfüllt, wenn der Arbeitnehmer die Unterhaltungskosten mindestens einer Wohnung (Erst- oder Zweitwohnung) überwiegend trägt und außerhalb seiner Erstwohnung übernachtet.

    Die tägliche Rückkehr ist nicht zumutbar, wenn der normale Zeitaufwand für den einzelnen Weg von der Wohnung zur Bau- oder Arbeitsstelle bei Benutzung des zeitlich günstigsten öffentlichen Verkehrsmittels oder eines vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten ordnungsgemäßen Fahrzeugs mehr als 1 1/4 Stunden beträgt.

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Auslösung nach Nr. 4.1. Er war im Klagezeitraum unstreitig auf einer Baustelle beschäftigt, die mehr als 25 km vom Betrieb der Beklagten entfernt war. Die Baustelle lag in F…, der Betriebssitz in K…. Dem Kläger war auch die tägliche Rückkehr zu seiner Wohnung nicht zuzumuten. Was die Tarifvertragsparteien unter Wohnung verstehen, haben sie durch den Klammerzusatz “Erstwohnung” erläutert. Klammerzusätze zu einem bestimmten Begriff haben im allgemeinen den Sinn, diesen Begriff zu erläutern (BAG Urteil vom 28. April 1982 – 4 AZR 642/79 – AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau). Davon ist auch mangels anderweitiger Anhaltspunkte im vorliegenden Fall auszugehen. Erstwohnung des Klägers ist seine Eigentumswohnung in S…. Die Unterkunft in K… hat er erst später gewählt. Von der Baustelle in F… war ihm die tägliche Rückkehr zu seiner Erstwohnung in S… nicht zumutbar, weil der normale Zeitaufwand für den einzelnen Weg von der Wohnung in S… zur Baustelle in F… bei Benutzung des zeitlich günstigsten öffentlichen Verkehrsmittels unstreitig mehr als 1 1/4 Stunden betrug. Diese nähere Bestimmung der Unzumutbarkeit der täglichen Rückkehr haben die Tarifvertragsparteien in § 7 Nr. 4.1 Abs. 4 BRTV-Bau bindend festgelegt.

Der Kläger führte auch einen getrennten Haushalt. Was unter getrennter Haushaltsführung zu verstehen ist, haben die Tarifvertragsparteien ebenfalls verbindlich festgelegt. Nach § 7 Nr. 4.1 Abs. 3 BRTV-Bau gilt das Merkmal der getrennten Haushaltsführung als erfüllt, wenn der Arbeitnehmer die Unterhaltskosten mindestens einer Wohnung (Erst- oder Zweitwohnung) überwiegend trägt und außerhalb seiner Erstwohnung übernachtet. Beide Merkmale sind erfüllt. Der Kläger trägt die Unterhaltskosten seiner Erstwohnung in S… allein. Er hat auch im Klagezeitraum außerhalb seiner Erstwohnung, nämlich in K…, übernachtet.

Entgegen der Auffassung der Revision ist auch die getrennte Haushaltsführung des Klägers durch seine Tätigkeit auf der Baustelle in F… verursacht. Insoweit reicht es aus, daß er wegen seiner Tätigkeit in F… den Haushalt getrennt führte, d. h. in einer Zweitwohnung übernachtete. Wäre der Kläger am Betriebssitz der Beklagten in K… beschäftigt worden, hätte er – wie in der Vergangenheit praktiziert – in seiner Erstwohnung in S… übernachtet. Nur weil er in F… beschäftigt war und ihm die tägliche Rückkehr zur Erstwohnung in S… nicht zumutbar war, hat er in der Zweitwohnung in K… übernachtet. Damit war die Beschäftigung in F… ursächlich für die getrennte Haushaltsführung. Dies genügt zur Erfüllung der tariflichen Voraussetzung für die Auslösung.

Entgegen der Auffassung der Revision setzt der Anspruch auf Auslösung nicht voraus, daß der Arbeitnehmer am Ort der Baustelle eine Zweitwohnung hat und dort übernachtet. Bei der Auslegung von Tarifverträgen ist zwar nicht nur der reine Tarifwortlaut zu berücksichtigen, sondern auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil nur so der Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden kann (BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Gerade daraus ist aber im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Revision zu schließen, daß für den Anspruch auf Auslösung eine Übernachtung am Ort der Baustelle nicht erforderlich ist. Wenn die Tarifvertragsparteien den Auslösungsanspruch an eine durch die Tätigkeit verursachte getrennte Haushaltsführung knüpfen, wollen sie damit ersichtlich dem Umstand Rechnung tragen, daß bei einer getrennten Haushaltsführung erhöhte Kosten anfallen. Das haben sie auch in § 2 des Tarifvertrags über die Auslösungssätze für die gewerblichen Arbeitnehmer des Baugewerbes vom 1. März 1990 zum Ausdruck gebracht, wenn es dort heißt, daß die Auslösung "Ersatz für den Mehraufwand für Verpflegung und Übernachtung (Unterkunft) im Sinne der steuerrechtlichen Vorschriften" ist. Erhöhte Kosten fallen aber bei jeder Übernachtung außerhalb der Erstwohnung an, gleichgültig, wo sich die Zweitwohnung befindet. Da die Auslösungssätze nach dem Tarifvertrag über die Auslösungssätze für die gewerblichen Arbeitnehmer des Baugewerbes vom 1. März 1990 einheitlich sind und nicht an einen bestimmten Übernachtungsort anknüpfen, geht es auch nicht zu Lasten des Arbeitgebers, wenn der Arbeitnehmer nicht am Arbeitsort, sondern an einem anderen Ort seine Zweitwohnung bezieht. Wenn z. B. ein Arbeitnehmer, der in München wohnt und in Kassel arbeitet, in Kassel übernachtet, erhält er die gleiche Auslösung, als wenn er eine Zweitwohnung in Göttingen beziehen würde. Die Übernachtung an einem Ort außerhalb des Arbeitsortes bringt im allgemeinen höhere Kosten (zusätzliche Fahrtkosten) mit, geht aber nicht zu Lasten des Arbeitgebers, der den gleichen Auslösungssatz zahlen muß. Insoweit geht es zu Lasten des Arbeitnehmers, wenn er in einer Zweitwohnung außerhalb des Arbeitsortes übernachtet und deshalb höhere Kosten aufwenden muß. Wenn im vorliegenden Fall dem Arbeitnehmer durch die Übernachtung in einer Zweitwohnung außerhalb des Arbeitsortes keine höheren Kosten erwachsen sind, weil er mit einem Firmenfahrzeug von der Arbeitsstelle zum Betriebssitz gebracht wurde, ändert dies nichts an der Erfüllung der Voraussetzungen für den Auslösungsanspruch. Die tarifliche Vorschrift des § 7 Nr. 4.1 BRTV-Bau stellt nämlich nicht auf die Unzumutbarkeit der täglichen Rückkehr zum Betrieb ab, was durchaus möglich und vielleicht auch sinnvoller gewesen wäre, sondern auf die Unzumutbarkeit der täglichen Rückkehr zur Erstwohnung.

Dieser Auslegung steht die bisherige Senatsrechtsprechung nicht entgegen. Der Senat hat zwar zum Begriff der Haushaltsführung zu früheren Fassungen des BRTV-Bau ausgeführt, diese setze voraus, daß der Bauarbeiter neben seinem Haushalt am Wohnort auch noch am auswärtigen Arbeitsort einen zweiten Haushalt führe (BAG Urteil vom 14. November 1973 – 4 AZR 78/73 – AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG Urteil vom 6. Mai 1987 – 4 AZR 590/86 -unveröffentlicht). Damit hat der Senat aber nur den Normalfall angesprochen, weil der Arbeitnehmer bei einer Auswärtsbeschäftigung in aller Regel auch am Arbeitsort übernachtet. Auf die vorliegend zu beurteilende Fallgestaltung brauchte der Senat in den beiden angeführten Urteilen nicht einzugehen, weil in beiden Fällen die Kläger der damaligen Rechtsstreite auch am Arbeitsort ihre Zweitwohnung besaßen.

Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kommt eine Heranziehung des § 7 Nr. 4.1 Abs. 2 BRTV-Bau nicht in Betracht. Diese Vorschrift betrifft nämlich nur Arbeitnehmer, die vor ihrem auswärtigen Einsatz bereits einen getrennten Haushalt führten, d. h. zwei Wohnungen unterhielten. Wenn ein solcher Arbeitnehmer von einer auswärtigen Baustelle aus in seine Zweitwohnung zurückkehren und dort übernachten kann, entstehen ihm keine zusätzlichen Kosten, weil er auch ohne die auswärtige Beschäftigung die Kosten der getrennten Haushaltsführung (für zwei Wohnungen) tragen müßte. Für diesen Sonderfall trifft § 7 Nr. 4.1 Abs. 2 BRTV-Bau eine Regelung und stellt auf die Unzumutbarkeit der Rückkehr zu beiden Wohnungen ab. Im vorliegenden Fall hat der Kläger aber erst nach Aufnahme seiner Tätigkeit auf der Baustelle in F… – … die Zweitwohnung begründet, so daß die auswärtige Tätigkeit ursächlich für diese erhöhten Kosten war. Auf die Unzumutbarkeit der täglichen Rückkehr zur Zweitwohnung in K… kommt es daher nicht an.

Im übrigen erscheint es zweifelhaft, ob ein Arbeitnehmer, dem die tägliche Rückkehr zu seiner Erstwohnung und zu seiner Zweitwohnung unzumutbar ist, der aber gleichwohl täglich zu einer dieser Wohnungen zurückkehrt, Anspruch auf Auslösung hat. Darauf kommt es aber im vorliegenden Fall nicht an, da § 7 Nr. 4.1 Abs. 2 BRTV-Bau nicht anwendbar ist.

Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

 

Unterschriften

Schaub, Schneider, Dr. Etzel, Dr. Koffka, Hauk

 

Fundstellen

Haufe-Index 838589

NZA 1992, 382

RdA 1992, 63

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