Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS. Zumutbarkeit eines Festhaltens am Arbeitsverhältnis wegen Zeitablaufs
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 7. Mai 1996 – 9 Sa 1199/95 – wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
VonRechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die der Beklagte wegen der Tätigkeit der Klägerin für das frühere Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gemäß Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 5 Ziff. 2 EV) ausgesprochen hat.
Die im Jahre 1959 geborene Klägerin war seit September 1989 Angestellte der Volkspolizei und seit Gründung des Beklagten Schreibkraft in der Polizeidienststelle G.. Am 10. Dezember 1990 füllte sie den allen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Freistaat Sachsen vorgelegten Fragebogen aus. Dabei beantwortete sie die Frage nach einer Tätigkeit für das frühere MfS mit „ja” und führte handschriftlich folgendes aus:
„Die unfreiwillige Bekanntschaft mit den Herren von der Stasi machte ich damals in der Kaderabteilung meines ehemaligen Betriebes, als ich während der Arbeitszeit hinbestellt wurde. Ich sollte Auskünfte über einen Bekannten geben, der in meiner Begleitung gesehen wurde. Nach diesem Gespräch folgte dann ein weiteres, wo ich mich dann zur Mitarbeit überreden ließ. Der Hauptgrund abzulehnen, war einfach Angst.
Meine Mitarbeit bestand im Beantworten von Fragen. Hauptsächlich wurde ich über asoziale Jugendliche, die ich durch meine Tanzbesuche kannte, ausgefragt und auch über Einwohner aus unserem Dorf. Über den größten Teil dieser Leute konnte ich keine oder unwichtige Antworten geben, da ich mich nicht um die Privatangelegenheiten gekümmert habe.
Zeitraum der Mitarbeit: Mitte oder Ende 1982, außer 1983 bis 1984 (in dieser Zeit hatte ich keine Verbindungen), bis ungefähr Anfang 1987.
Anzahl der Treffs: ca. 10 bis max. 15 für die gesamte Zeit.
Ort: ungefähr viermal im Rathaus, Eingang Stadthausstraße, später bin ich im Auto abgeholt worden.
Grund f. Beendigung: Ehrlich, ich hatte die Nase voll. Bin nicht zur Verabredung dagewesen. Später bin ich schwanger geworden und umgezogen.
Ich möchte versichern, daß ich ab 1987 wirklich keine Verbindung mehr zur Staatssicherheit hatte.”
Am 12. Februar 1991 wurde die Klägerin durch die vom Sächsischen Staatsministerium des Innern gebildete Kommission mündlich angehört. Sie gab zu Protokoll, sich freiwillig ohne Druck zur Mitarbeit beim MfS bereit erklärt, eine schriftliche Verpflichtungserklärung unterschrieben und hierbei den Decknamen „Monika Müller” gewählt zu haben. Zum Inhalt der Berichte und der Mitarbeit gab sie an: „westdeutscher Freund meiner Bekannten; Fam. einer meiner Freundinnen; Vorgänge in d. Kaufhalle (ehem. Arbeitsstelle)”. Weiter teilte die Klägerin mit, im Jahre 1982 eine Zuwendung über ca. 40,– M erhalten zu haben. Die letzte Zusammenkunft mit MfS-Vertretern datierte sie auf 1987.
Daraufhin erging am 12. Februar 1991 ein Beschluß des Sächsischen Staatsministeriums des Innern, in dem festgestellt wurde, die Klägerin könne in den Polizeidienst des Freistaates Sachsen übernommen werden.
Im Februar 1995 erhielt der Beklagte eine Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (Gauck-Behörde). Hiernach lag eine schriftliche Verpflichtungserklärung vor. Die Klägerin hatte als Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit (IMS) den Decknamen „Monika Müller”. Ziel der Werbung war nach der Darstellung des MfS der Einsatz zur Bearbeitung der im operativen Vorgang „Satan” erfaßten Personen und die Absicherung von Jugendtanzveranstaltungen im Raum H. Die Klägerin hatte ein Präsent im Wert von 38,– M erhalten. Es lagen 17 Treffberichte der Führungsoffiziere und 19 Berichte der Führungsoffiziere nach Informationen der Klägerin sowie ein handschriftlicher Bericht und eine Adressenmitteilung der Klägerin vor. Die Berichte enthielten Informationen über Personen aus dem Umgangskreis der Klägerin, Bewohner des Dorfes, deren Besucher, Jugendliche und besondere Vorkommnisse bei Tanzveranstaltungen sowie Probleme und Mißstände an der Arbeitsstelle der Klägerin. Das letzte Treffen fand am 13. November 1987 statt. Im Abschlußbericht des MfS vom 9. Februar 1989 heißt es u.a.:
„Der IM zeigte Bereitschaft zur Lösung der gestellten Aufgaben, jedoch realisierte er sie nicht. Seine persönlichen Interessen überwiegten. Trotz Erläuterungen und Instruierungen zeigten sich beim IM keine Verhaltensänderungen. Die Treffdisziplin war ungenügend. Über persönliche Dinge sprach der IM kaum. Bis 1987 wurde der IM in IMK/KW getroffen. Die Berichterstattung des IM war auswertbar und teilweise operativinteressant, jedoch entsprachen die Ergebnisse nie den objektiven Möglichkeiten des IM.
Der IM ist parteilos. Zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR bezieht der IM eine fortschrittliche Haltung. Da er sich jedoch ungenügend mit aktuell-politischen Problemen beschäftigt, versteht er es nicht in jedem Fall diese zu werten. Im Arbeitsbereich nimmt sie am gesell. Leben teil, wobei von ihr keinerlei Aktivitäten ausgehen. Funktionen übt sie nicht aus. Op.-Interes. Verbindungen unterhält sie keine.”
In diesem Abschlußbericht ist als Grund der Beendigung der Zusammenarbeit „Nichteignung/Perspektivlosigkeit” angekreuzt.
Am 22. März 1995 wurde die Klägerin wiederum angehört. Der Anhörende vermerkte auf dem Beschluß vom 12. Februar 1991 handschriftlich:
„Beschluß nach Anhörung bestätigt. Der Inhalt des BStU-Berichts und die in Erklärung und Anhörung gemachten Angaben stimmen überein. Es liegt nur eine geringe inhaltlich unbelastende Berichtstätigkeit vor.”
Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 5. Mai 1995, der Klägerin am 8. Mai 1995 zugegangen, außerordentlich fristlos.
Mit der am 24. Mai 1995 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage macht die Klägerin geltend, die Kündigung vom 5. Mai 1995 sei unwirksam. Sie habe ihre Tätigkeit für das MfS zu keinem Zeitpunkt verschwiegen, sondern offengelegt. In Kenntnis dieser Tätigkeit habe der Beklagte sie bis zum Erhalt der Gauck-Auskunft weiterbeschäftigt. Da die Gauck-Auskunft keine erheblichen neuen Erkenntnisse zutage gefördert habe, sei es dem Beklagten verwehrt, das Arbeitsverhältnis nunmehr zu kündigen.
Die Klägerin hat beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 5. Mai 1995 aufgelöst worden sei,
- den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsrechtsstreits als Schreibkraft weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er vertritt die Auffassung, die Kündigung sei wirksam. Die Klägerin habe bewußt für das MfS gearbeitet. Eine Weiterbeschäftigung sei unzumutbar, weil die Klägerin im Schreibdienst Zugang zu vertraulichen Unterlagen habe. Im Anschluß an die Angaben vom 10. Dezember 1990 und vom 12. Februar 1991 sei ein Vertrauenstatbestand zugunsten der Klägerin nicht entstanden. Damals sei nämlich der Vorbehalt einer Auswertung der Gauck-Akten erklärt worden. Es sei zulässig, vor Ausspruch der Kündigung die Gauck-Auskunft abzuwarten; denn die notwendige Einzelfallprüfung und Interessenabwägung sei erst nach einer gesicherten Kenntnisnahme des gesamten Vorgangs möglich.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision hält der Beklagte an seinem Klageabweisungsantrag fest.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, zwar habe die Tätigkeit der Klägerin für das MfS zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens Anfang 1991 die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis für den Beklagten begründet. Zum Kündigungszeitpunkt hätten aber aufgrund der über vierjährigen unveränderten Weiterbeschäftigung der Klägerin im sächsischen Polizeidienst in Kenntnis der zugestandenen MfS-Tätigkeit keine hinreichenden Umstände für eine Unzumutbarkeit mehr vorgelegen. Die Kündigung habe nicht erst nach Vorliegen des Berichts des Bundesbeauftragten ausgesprochen werden können. Die Klägerin habe im Dezember 1990 und Februar 1991 hinreichend genaue Angaben zu ihrer Tätigkeit für das MfS gemacht; es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, sie habe ihre Tätigkeit bewußt überzeichnet. Verständigerweise habe der Beklagte daher nach Vorliegen des Gauck-Berichts allenfalls noch weitergehende Hinweise auf eine Tätigkeit für das MfS erwarten können. Solche weitergehenden Hinweise hätten sich aber nicht ergeben. Die Klägerin sei nur in dem Umfang tätig geworden wie von ihr bereits 1990/91 zugestanden. Aufgrund ihrer Angaben habe für den Beklagten auch nicht nur der Verdacht einer Tätigkeit, sondern die hinreichend sichere Kenntnis bestanden.
Würde man demgegenüber annehmen, der Beklagte habe zum Zeitpunkt der Kündigung noch einen Kündigungsgrund im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV gehabt, wäre das Kündigungsrecht des Beklagten doch verwirkt (§ 242 BGB). Mit dem Beschluß vom 12. Februar 1991 habe der Beklagte zum Ausdruck gebracht, er werde wegen der von der Klägerin selbst angegebenen Gründe das Arbeitsverhältnis nicht mehr kündigen. Insoweit sei zugunsten der Klägerin ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Auch das für die Verwirkung erforderliche Zeitmoment sei gegeben.
II. Schon die Hauptbegründung der angefochtenen Entscheidung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Nach Art. 20 Abs. 1 EV gelten für die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts die in der Anlage I zum Einigungsvertrag vereinbarten Kündigungsregelungen. Unstreitig hat das im September 1989 begründete Arbeitsverhältnis der Klägerin beim Zugang der Kündigungserklärung mit dem Beklagten fortbestanden. Das Landesarbeitsgericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, daß Art. 20 EV Anwendung findet (vgl. Senatsurteile vom 20. Januar 1994, BAGE 75, 266 und BAGE 75, 280, zu B II bzw. II 1, 2 der Gründe).
2. Die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung vom 5. Mai 1995 folgt nicht schon daraus, daß der Beklagte bereits mehr als 2 Wochen vor der Kündigung von den maßgebenden Kündigungstatsachen Kenntnis erlangt hat. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, stellt Abs. 5 Ziff. 2 EV auch insofern eine eigenständige Regelung dar, als Fristen, innerhalb derer die Kündigung auszusprechen ist, keine Anwendung finden. Das gilt für § 626 Abs. 2 BGB ebenso wie für § 54 Abs. 2 BAT-O, sofern es sich hierbei überhaupt um eine gegenüber § 626 Abs. 2 BGB eigenständige Regelung handelt (Senatsurteile vom 11. Juni 1992, BAGE 70, 309 und BAGE 70, 323, zu B II 1 b bzw. A II 1 b der Gründe; Senatsurteile vom 22. April 1993 – 8 AZR 655/92 – und – 8 AZR 656/92 – jeweils n.v., zu II 4 der Gründe). Der Gesetzgeber hat abschließend festgelegt, was unzumutbar ist.
3. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung zutreffend die ständige Rechtsprechung des Senats zu den Voraussetzungen einer Kündigung wegen Tätigkeit für das frühere MfS zugrunde gelegt.
a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX).
Aus der Eigenständigkeit der Kündigungsregelung in Abs. 5 Ziff. 2 EV folgt, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Abs. 5 EV, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Anders als § 626 BGB stellt Abs. 5 EV nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsverhältnis „bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwider handelt oder einen Verwirkungstatbestand setzt.
Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zum Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, aaO, zu B II 1c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.
Die Tätigkeit eines inoffiziellen Mitarbeiters ist häufig nach außen nicht erkennbar geworden. Ein inoffizieller Mitarbeiter arbeitete typischerweise verdeckt. Dennoch kann es nicht darauf ankommen, ob er nicht entdeckt wurde und deshalb seine Tätigkeit für das MfS nicht bekannt ist. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht aufgebaut werden auf der Annahme, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden.
Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat. Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer.
b) Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. § 626 Abs. 2 BGB stellt eine Konkretisierung des Gedankens dar, daß die Fortsetzung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses aufgrund von Zeitablauf zumutbar werden kann (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334, 340, zu II 3 a bb der Gründe, m.w.N.). Die sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses nach längerer Zeit verbietet sich auch unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens. Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen. Diese Auslegung folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG, nach dem der Staat einen Mindestkündigungsschutz zur Verfügung stellen muß. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann daher der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten.
Eine feste Zeitgrenze, ab wann keine Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis mehr gegeben ist, besteht nicht. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist auf einmalige Vorfälle zugeschnitten und paßt wegen der besonderen Umstände der deutschen Wiedervereinigung nicht. Vielmehr bedarf es einer Prüfung, aus welchen Gründen nicht innerhalb der Zweiwochenfrist gekündigt wurde, sowie einer Abwägung des Zeitablaufs mit dem Gewicht der Kündigungsgründe. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles. Das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war (Senatsurteil vom 28. April 1994, aaO).
4. Das Landesarbeitsgericht hat die dargestellten Grundsätze revisionsrechtlich einwandfrei angewendet und demnach die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 5. Mai 1995 ohne Rechtsfehler verneint.
a) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Tätigkeit der Klägerin für das MfS habe noch Anfang 1991 einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung dargestellt und ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheinen lassen, trifft zu. Das bedarf keiner näheren Begründung, da es für die Wirksamkeit der Kündigung allein auf den Kündigungszeitpunkt ankommt.
b) Der Auffassung der Revision, der öffentliche Arbeitgeber dürfe generell jeweils vor Ausspruch der Kündigung die Auskunft des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen abwarten, ist nicht zu folgen. Diese Rechtsansicht widerspricht der aus verfassungsrechtlichen Gründen gebotenen Auslegung, der Kündigungsberechtigte dürfe einen Kündigungsgrund nicht beliebig lange zurückhalten (oben II 3 b der Gründe). Der Sinn und Zweck einer allgemeinen Befragung durch Fragebogen ging gerade dahin, im Regelfall – bei vollständiger und wahrheitsgemäßer Auskunft – hinreichende Sicherheit über den Ausspruch einer Kündigung zu erlangen, um eine rasche Erneuerung des öffentlichen Dienstes zu erreichen (Senatsurteil vom 7. September 1995 – 8 AZR 828/93 – AP Nr. 24 zu § 242 BGB Auskunftspflicht, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt, zu II 3 a der Gründe). Könnte der Arbeitgeber dann doch die Gauck-Auskunft abwarten, käme dem Fragebogen nur die Funktion zu, ggf. einen zusätzlichen Kündigungsgrund wegen Unehrlichkeit zu gewinnen.
Der Hinweis der Revision auf den Beschluß des SächsOVG vom 23. August 1994 (2 S 243/94) geht fehl. Dieser Beschluß befaßt sich mit der Auslegung von § 15 Abs. 4 SächsBG im Zusammenhang mit der Rücknahme der Beamtenernennung. Hierfür gelten nicht dieselben Maßstäbe wie für Abs. 5 Ziff. 2 EV. Es kann daher dahinstehen, ob dem SächsOVG überhaupt zu folgen wäre. Zuzugeben ist der Revision allerdings, daß sich der Kündigungsgrund, insbesondere bei ungenauer oder unvollständiger Auskunft des Arbeitnehmers, oftmals erst aufgrund der amtlichen Auskunft herausstellen wird. Das damit verbundene Risiko geht grundsätzlich zu Lasten des Arbeitnehmers.
c) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Beklagte habe die wesentlichen Kündigungsgründe zum Kündigungszeitpunkt Anfang Mai 1995 bereits mehr als vier Jahre hinreichend sicher gekannt, ist zutreffend.
Die Angaben der Klägerin im Dezember 1990 und Februar 1991 enthielten nach der rechts fehlerfreien Würdigung des Landesarbeitsgerichts alle wesentlichen äußeren und inneren Tatsachen zu ihrer MfS-Tätigkeit. Die Rüge der Revision hiergegen greift nicht durch. Die Einzelheiten, die sie aufzählt, sind für die angemessene und abschließende Würdigung des Kündigungssachverhalts ersichtlich unwesentlich. Sie waren nach der zutreffenden Würdigung des Landesarbeitsgerichts von der Auskunft der Klägerin mitumfaßt.
Die seitens der Klägerin mitgeteilten Tatsachen begründeten nicht nur einen Verdacht bei dem Beklagten. Der Beklagte hat nicht vorgetragen, er habe der Klägerin „nicht geglaubt” und mangels hinreichender Überzeugung von der MfS-Tätigkeit auf „bessere Beweismittel” gewartet. Die Revision unterscheidet nicht genügend zwischen Verdacht als fehlender Überzeugung und der fehlenden Kenntnis aller (substantiierten) Einzeltatsachen.
Aufgrund der substantiierten Kenntnis der Beklagten im Februar 1991 war eine abschließende Entscheidung einschließlich Einzelfallwürdigung und Interessenabwägung möglich. Eine solche Entscheidung ist am 12. Februar 1991 auch getroffen worden.
Die Auskunft des Bundesbeauftragten vom Februar 1995 enthielt keine weitergehenden Tatsachen, die dann erst Anlaß für eine Kündigung hätten sein können. Die Einzelberichte der Klägerin entsprachen nach Inhalt und Bedeutung dem, was die Klägerin 1990/91 angegeben hatte. Daß die Klägerin auch in einen operativen Vorgang („Satan”) eingebunden war, begründet keine neue Qualität der Berichtstätigkeit. Ihre sonstigen Angaben trafen ebenfalls zu. Der Versuch der Revision, die Auskunft des Bundesbeauftragten abweichend zu würdigen, bleibt ohne Erfolg. Der Beklagte hat die Kündigung von 1995 dann auch auf den schon seit 1991 bekannten Sachverhalt gestützt. Er hat nicht etwa geltend gemacht, die Kündigung sei erst durch bestimmte nachträglich bekannt gewordene Einzelheiten bedingt.
d) Der Senat folgt der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, die über vierjährige unveränderte Weiterbeschäftigung der Klägerin in Kenntnis des Kündigungsgrundes mache die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar. Bei einer derart langen Kenntnis vom Kündigungsgrund erscheint ein (weiteres) Festhalten am Arbeitsverhältnis jedenfalls angesichts der untergeordneten Tätigkeit der Klägerin als Angestellte im Schreibdienst eindeutig nicht mehr unzumutbar. Der Beklagte macht sein Anliegen einer Erneuerung des öffentlichen Dienstes selbst unglaubwürdig, wenn er die belastete Klägerin zunächst über vier Jahre weiterbeschäftigt, ihr dann aber doch ohne neue wesentliche Erkenntnisse kündigt.
Darüber hinaus hat der Beklagte im Beschluß vom 12. Februar 1991 zum Ausdruck gebracht, er werde die zugestandenen Tatsachen nicht zum Anlaß einer Kündigung nehmen. Sein Verhalten ist also auch unter diesem Gesichtspunkt widersprüchlich. Er hat zwar nicht erklärt, unter allen Umständen von einer Kündigung abzusehen. Wie schon das Arbeitsgericht richtig erkannt hat, hätte es für eine Kündigung aber neuer Tatsachen, nämlich über die Angaben der Klägerin hinausgehender Umstände bedurft. Der Vorbehalt einer Auswertung der Gauck-Akten kann nur in diesem Sinne verstanden werden. Demgegenüber legt die Revision nur das dar, was nach den Angaben der Klägerin im Dezember 1990/Februar 1991 von der Auskunft des Bundesbeauftragten erwartet werden mußte.
III. Da der Kündigungsrechtsstreit durch das vorliegende Urteil rechtskräftig abgeschlossen wird, ist über den Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung nicht mehr zu entscheiden.
IV. Der Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Müller-Glöge, Mikosch, Haible, Mache
Fundstellen