Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 15.06.1990; Aktenzeichen L 5 J 14/90)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Juni 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Kläger unter Anrechnung einer Ersatzzeit vom 1. Juli 1942 bis 8. Mai 1945 Anspruch auf ein höheres Altersruhegeld hat.

Der am 9. Januar 1921 geborene Kläger war vom 1. Juli 1940 bis 8. Mai 1945 längerdienender Freiwilliger bei der Kriegsmarine. Die Beklagte bewilligte dem Kläger auf seinen Antrag vom 12. Oktober 1988 mit Bescheid vom 10. Februar 1989 vom 1. Februar 1986 an Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Wegen der Kriegsdienstzeit vom 1. Juli 1940 bis 8. Mai 1945 verwies die Beklagte den Kläger zunächst an die Deutsche Dienststelle beim Landesversicherungsamt Berlin, um dort die fiktive Nachversicherung gemäß § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) zu beantragen. Auf den Widerspruch des Klägers erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Juli 1989 die Wehrpflichtzeit vom 1. Juli 1940 bis 30. Juni 1942 als Ersatzzeit an und stellte deswegen die Rente der Höhe nach von Anfang an neu fest. Die Zeit vom 1. Juli 1942 bis 8. Mai 1945 erkannte die Beklagte nicht als Ersatzzeit an, da für diesen Zeitraum weiterhin die Durchführung einer fiktiven Nachversicherung in Betracht komme. Die Beklagte gab den Widerspruch als Klage an das Sozialgericht (SG) ab.

Das SG hat durch Urteil vom 9. Januar 1990 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 10. Februar 1989 idF des Bescheides vom 5. Juli 1989 verurteilt, bei der Berechnung des Altersruhegeldes auch die Zeit vom 1. Juli 1942 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit anzurechnen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 15. Juni 1990). Dabei ist es der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Entscheidungen vom 17. November 1987 – 5b RJ 98/86 – (SozR 7130 § 99 AKG Nr 4), vom 21. September 1988 – 5 RJ 4/88, 45/88 – sowie vom 21. Juni 1989 – 1 RA 43/87 – (SozR 7130 § 99 AKG Nr 5) gefolgt. Danach werde durch das Recht auf Nachversicherung nach § 99 Abs 1 Satz 1 AKG in der vor dem 17. November 1987 geltenden Fassung (aF) nur bei einem Ausscheiden aus dem Wehrdienst „vor dem 8. Mai 1945” die Anrechnung des Wehrdienstes als Ersatzzeit ausgeschlossen. Die Vorschrift könne nicht entgegen ihrem Wortlaut auf freiwillig Längerdienende angewandt werden, die noch am 8. Mai 1945 Wehrdienst geleistet haben. § 99 Abs 1 Satz 1 AKG idF des Art 74 des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG 1992≫ (= AKG nF) sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, obwohl Art 85 Abs 4 RRG 1992 bestimme, daß die Neufassung rückwirkend seit dem 17. November 1987 gelte. Der Versicherungsfall des Alters sei bereits vor dem 17. November 1987 eingetreten und es existiere keine Bestimmung, wonach Art 74 auch auf Versicherungsfälle Anwendung finden solle, die bereits vor dem gesetzlich festgelegten Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung eingetreten seien. Art 1 § 300 RRG 1992 beziehe sich nur auf die Regelungen des Art 1 und trete gemäß Art 85 Abs 1 RRG 1992 erst am 1. Januar 1992 in Kraft.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 99 Abs 1 Satz 1 AKG aF und nF sowie der Art 74 und 85 Abs 4 RRG 1992. Sie rügt weiter eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art 3 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫).

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Januar 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.

Dem Kläger steht die erhöhte Rente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu, weil die noch streitige Zeit vom 1. Juli 1942 bis einschließlich 8. Mai 1945 als Ersatzzeit (§ 1250 Abs 1 Buchst b der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) anzurechnen ist.

Nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO werden Zeiten des militärischen Dienstes, der ua während des Krieges geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Allerdings werden gemäß § 1260c Abs 2 RVO Ersatzzeiten nicht berücksichtigt, soweit für dieselbe Zeit eine Nachversicherung nur wegen eines fehlenden Antrages des Versicherten nicht durchgeführt worden ist. In diesen Fällen ist der Versicherungsträger berechtigt, die Voraussetzungen für die Nachversicherung festzustellen.

Die Voraussetzungen für eine Nachversicherung nach § 99 AKG sind im Falle des Klägers indes nicht erfüllt.

Der erkennende Senat hat bereits durch Urteile vom 17. November 1987 – 5b RJ 98/86 – (SozR 7130 § 99 AKG Nr 4) sowie vom 21. September 1988 – 5 RJ 4/88, 5 RJ 45/88 –, ihm folgend der 1. Senat des BSG im Urteil vom 21. Juni 1989 – 1 RA 43/87 -(SozR 7130 § 99 AKG Nr 5), entschieden, daß die Anrechnung des Wehrdienstes als Ersatzzeit durch das Recht auf Nachversicherung nach § 99 Abs 1 Satz 1 AKG aF nur bei einem Ausscheiden aus dem Wehrdienst vor dem 8. Mai 1945 ausgeschlossen wird. Die Vorschrift kann nicht entgegen ihrem Wortlaut auf freiwillig Längerdienende angewendet werden, die noch am 8. Mai 1945 Wehrdienst geleistet haben. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens der Beklagten fest. Mit gegenteiligen Äußerungen in der Literatur hat sich der Senat bereits eingehend auseinandergesetzt. Auch die neuen Argumente der Beklagten können den Senat nicht zur Aufgabe seiner Rechtsprechung bewegen.

Insoweit führt die Auslegung des § 99 AKG aF durch den Senat zu dem Ergebnis, daß diese Vorschrift mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG vereinbar ist. Diese auch für den Gesetzgeber verbindliche Grundrechtsbestimmung (BVerfGE 1, 14,

52) verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen (zuletzt: BVerfGE 79, 87, 98 ff; 79, 106, 121 ff; 79, 223, 236). Art 3 Abs 1 GG wird also nur verletzt, wenn tatsächliche Gleichheiten bzw Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse nicht berücksichtigt werden, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen (BVerfGE 60, 113, 119). Dabei hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stets betont, daß der Gesetzgeber bei gewährender Staatstätigkeit eine weitgehende Gestaltungsfreiheit hat (BVerfGE 49, 280, 283 mwN). Insoweit steht es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, zu bestimmen, ob, ab wann, in welcher Höhe und gegenüber welchem Personenkreis er mit der beabsichtigten Verbesserung beginnen will. Der erkennende Senat hat im übrigen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG bereits in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1988 (SozR 2200 § 1246 Nr 157, S 509 = NJW 1989, 190 – keine Sozialversicherungspflicht bei Beschäftigung von Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt –) entschieden, daß bei gewährender Staatstätigkeit dem Gesetzgeber ein weitgehender Gestaltungsspielraum einzuräumen ist.

Mit der Festlegung des Stichtages des Ausscheidens auf die Zeit „vor dem 8. Mai 1945” in § 99 Abs 1 Satz 1 AKG aF hat der Gesetzgeber diesen Gestaltungsspielraum bewußt ausgefüllt und das Ob, das Ende und den Personenkreis geregelt. Dieser weite Gestaltungsspielraum endet erst dort, wo eine ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist und mangels einleuchtender Gründe als willkürlich beurteilt werden muß (BVerfGE 39, 148, 153). Das bedeutet, daß dem Gesetzgeber trotz seiner weitgehenden Gestaltungsfreiheit, ob und in welchem Umfang eine bestimmte Leistung gewährt werden soll, eine sachwidrige Differenzierung bei näherer Abgrenzung des Kreises der Leistungsberechtigten nicht gestattet ist; Regelungen, die innerhalb eines vergleichbaren Personenkreises einzelne Gruppen bevorzugen oder benachteiligen, müssen für eine an der Gerechtigkeit orientierte Betrachtungsweise den geregelten Lebensverhältnissen entsprechen und durch vernünftige, sachlich einleuchtende Gründe gerechtfertigt sein.

Diese vernünftigen und sachlichen Gründe ergeben sich aus dem Sinn und Zweck des § 99 AKG aF. In § 99 Abs 1 AKG aF ist nur das Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst der in § 1 Abs 1 AKG genannten Rechtsträger gemeint. Die Vorschrift bezweckt einen Ausgleich dafür, daß diese Rechtsträger ihre Pflicht zur Nachversicherung gegenüber ihren früheren vor dem 8. Mai 1945 bei ihnen ausgeschiedenen Angehörigen nicht mehr erfüllen können (BVerwGE 21, 343, 349, 350). Es mußte sich also um eine Verpflichtung des Deutschen Reiches handeln, die zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden hatte. Darunter fallen nicht Ansprüche, die sich erst aus dem Untergang des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 und dem dadurch bedingten Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst ergeben (BSG SozR 7130, § 99 AKG Nr 4).

Soweit die Beklagte weiter einen Verstoß des angefochtenen Urteils gegen Art 3 Abs 1 GG darin sieht, daß bei denjenigen längerdienenden Freiwilligen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht, die ihr Dienstverhältnis am 8. Mai 1945 beendet haben und deren Versicherungsfall vor dem 17. November 1987 eingetreten ist, bei der Berechnung der Rente vor dem Urteil des erkennenden Senats vom 17. November 1987 aaO eine durchgeführte Nachversicherung berücksichtigt worden ist und dies trotz gleichen Sachverhalts nunmehr nicht mehr geschieht, so liegt ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG nicht vor. Denn nicht das angefochtene Urteil führt zur Ungleichbehandlung der Versicherten, sondern die Praxis der Beklagten, die § 99 AKG aF trotz des entgegenstehenden Wortlauts auch auf längerdienende Freiwillige angewandt hat, die am 8. Mai 1945 aus dem Dienst ausgeschieden sind.

Bei der Neufassung des § 99 Abs 1 Satz 1 AKG in Art 74 RRG 1992, durch welche die Worte „vor dem 8. Mai 1945” durch die Worte „vor dem 9. Mai 1945” ersetzt worden sind, handelt es sich nicht um eine bloße „Klarstellung”, sondern um eine „echte” Gesetzesänderung. Dies folgt bereits begriffsnotwendig aus der in Art 74 RRG 1992 vorgenommenen Datumsänderung. Dem steht auch nicht – wie das LSG zutreffend erkannt hat – der Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß – Bundestagsdrucksache – BT-Drucks 11/5530, S 72) entgegen, wo zu Art 66 a des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (dem heutigen Art 74 RRG 1992) die Auffassung vertreten wird, das Datum vom 8. Mai 1945 in § 99 Abs 1 Satz 1 AKG aF sei ein Redaktionsversehen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 17. November 1987 aaO dargelegt hat, ist die Vorschrift des § 99 Abs 1 Satz 1 AKG aF eindeutig und einer Interpretation über den Wortlaut hinaus nicht zugänglich. Die vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vertretene gegenteilige Auffassung hätte konsequenterweise eine Rückwirkung des Art 74 RRG 1992 auf das Inkrafttreten des AKG vom 5. November 1957 (BGBl I, 1747) erfordert. Damit wäre indes die seit dem Urteil des BSG vom 17. November 1987 ständige höchstrichterliche Rechtsprechung für die Vergangenheit ins Unrecht gesetzt und korrigiert worden, was mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar gewesen wäre (vgl Beschluß des BVerfG vom 31. März 1965 in BVerfGE 18, 429 ff). Der Gesetzgeber hat deshalb in Art 85 Abs 4 RRG 1992 die Rückwirkung des Art 74 RRG 1992 auf das Datum des BSG-Urteils vom 17. November 1987 aaO beschränkt und damit eine bloß klarstellende Funktion der Neufassung für die davor liegende Zeit gerade verneint.

Aus der zeitlichen Begrenzung der Rückwirkung in Art 85 Abs 4 RRG 1992 und aus dem Fehlen einer Übergangsregelung folgt weiter, daß die Anwendung der Vorschrift des § 99 Abs 1 Satz 1 AKG nF auf ab dem 17. November 1987 eingetretene Versicherungsfälle zu begrenzen ist. Dies entspricht dem in Art 2 § 5 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) normierten Grundsatz, daß für die Abgrenzung der Anwendbarkeit von altem und neuem Recht der Eintritt des Versicherungsfalls maßgebend ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG hat dieser Grundsatz eine über die Abgrenzung bei der Rentenreform 1957 hinausgehende Bedeutung. Auch wenn ein Gesetz, welches das Leistungsrecht (hier: § 99 Abs 1 Satz 1 AKG nF iVm § 1260c Abs 2 RVO) ändert, keine ausdrückliche Abgrenzungsbestimmung enthält, ist der Eintritt des Versicherungsfalles als Abgrenzungskriterium anzusehen (vgl BSG in SozR Nr 46 zu § 1267 RVO). Davon geht auch der Gesetzgeber aus, der dieses sogenannte Versicherungsfallprinzip im aufgezeigten zeitlichen Sinne erstmals in Art 1 § 300 Abs 1 RRG 1992 beseitigt hat. Insoweit heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs des RRG 1992 bei Art 1 § 291 – dem späteren Art 1 § 300 – (BR-Drucks 120/89, S 206):

„Absatz 1 enthält den Grundsatz, daß nach Inkrafttreten dieses Gesetzbuchs und bei zukünftigen Rechtsänderungen nur noch das neue Rentenrecht des Sozialgesetzbuches anzuwenden ist. Die Anwendbarkeit des alten oder neuen Rechts richtet sich also nicht mehr nach dem Zeitpunkt des Versicherungsfalls.”

Diese Beseitigung des Versicherungsfallprinzips im angezeigten Sinne tritt indes erst am 1. Januar 1992 in Kraft (Art 85 Abs 1 RRG 1992), so daß § 99 Abs 1 Satz 1 AKG in der gemäß Art 85 Abs 4 RRG 1992 ab 17. November 1987 in Kraft getretenen Fassung des Art 74 RRG 1992 nur anzuwenden ist, wenn der Versicherungsfall seit diesem Zeitpunkt eingetreten ist. Da der Kläger aber nach den für den erkennenden Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen des LSG bereits seit 1. Februar 1986 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres erhält und damit der Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 17. November 1987 erfolgt ist, verbleibt es hier bei der Anwendung des § 99 Abs 1 AKG aF im Sinne der eingangs genannten Entscheidungen des BSG, wonach die Voraussetzungen für eine Nachversicherung gemäß dieser Vorschrift beim Kläger nicht erfüllt sind.

Der Revision der Beklagten muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174146

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