Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 27.04.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. April 1988 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Sperrzeit eingetreten ist, weil die Klägerin ihr Ausbildungsverhältnis einvernehmlich gelöst hat.

Die Klägerin (geboren am 6. Februar 1968) stand ab 1. Oktober 1985 in einem Berufsausbildungsverhältnis zu der Gemeinnützigen Bildungseinrichtung für Fortbildung und Umschulung GmbH (F+U). Das Ausbildungsverhältnis endete in gegenseitigem Einvernehmen zum 31. Oktober 1986, nachdem die F+U schon zuvor zum 30. September 1986 wegen häufiger Fehlzeiten die Kündigung ausgesprochen hatte.

Die Klägerin meldete sich am 31. Oktober 1986 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Als Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gab sie an, daß sie im letzten halben Jahr in fünf verschiedene Betriebe geschickt worden sei, was nicht der Sinn der Ausbildung sein könne.

Die Beklagte bewilligte Alg ab 24. Januar 1987. Für die Zeit davor stellte sie den Eintritt einer Sperrzeit vom 1. November 1986 bis 23. Januar 1987 (12 Wochen) fest, da die Klägerin ihr Ausbildungsverhältnis selbst gekündigt habe (Bescheid vom 16. Dezember 1986). Ihr Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1987).

Auf die Klage hat das Sozialgericht Mannheim (SG) den Bescheid idF des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg vom 1. November 1986 bis 23. Januar 1987 zu gewähren (Urteil vom 12. November 1987). Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg -LSG- vom 27. April 1988).

Das LSG hat entschieden, daß § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht auf Ausbildungsverhältnisse angewendet werden könne. Diese Bestimmung beziehe sich nur auf Arbeitsverhältnisse, von denen sich Berufsausbildungsverhältnisse wesentlich unterschieden. Die beitragsrechtliche Einbeziehung von Ausbildungsverhältnissen sei kein zwingender Hinweis, daß beide Gruppen auch leistungsrechtlich gleich zu behandeln seien. Hinzu komme, daß die Bereitschaft zur Eingehung eines Ausbildungsverhältnisses weder unter § 103 AFG noch unter § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AFG falle. Der Gesetzgeber habe unter ausdrücklichem Hinweis auf Art 12 des Grundgesetzes (GG) diese Fälle nicht einbezogen (BT-Drucks zu V/4110 S 21). Dieser – allerdings zu § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG gegebene – Hinweis des Gesetzgebers habe umfassende Bedeutung und könne nicht auf diese Vorschrift beschränkt werden. Daraus erhelle, daß das Gesetz keine Lücke enthalte.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, Sinn und Zweck des § 119 AFG bestehe darin, daß die Gemeinschaft der Beitragszahler sich gegen Risikofälle wehren könne, deren Eintritt der Versicherte selbst zu vertreten habe. Dies gelte auch für Ausbildungsverhältnisse. Es sei unzutreffend, daß sich im Hinblick auf die Zahl der in Betracht kommenden Fälle die Belastung der Beitragszahler in Grenzen halte. In § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG habe es keines klarstellenden Hinweises bedurft, da der Gesetzeswortlaut auch Ausbildungsverhältnisse umfasse.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt

die Revision zurückzuweisen.

Sie verweist auf das angefochtene Urteil und meint, Sanktionen wie Sperrzeitregelungen bedürften klarer Konkretisierung. Der Wortlaut des § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG lasse die Einbeziehung von Ausbildungsverhältnissen nicht erkennen. Im übrigen sei nicht einzusehen, aus welchen Gründen undiszipliniertes Verhalten im Rahmen von Schulungsmaßnahmen nicht zur Verhängung einer Sperrzeit führe, ein solches Verhalten im Rahmen von Ausbildungsverträgen jedoch die Anwendung der Sperrzeit rechtfertige.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits in einem ähnlichen Fall entschieden, daß sich § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG auch auf Ausbildungsverhältnisse erstreckt (Urteil vom 26. April 1989 – 7 RAr 70/88 – SozR 4100 § 119 Nr 35). Diesem Urteil schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an. Da somit entgegen der Auffassung des LSG § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG auch im vorliegenden Fall zu prüfen ist, das LSG aber insoweit infolge seiner abweichenden Rechtsauffassung noch keine Feststellungen getroffen hat, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Klägerin ist einzuräumen, daß Sanktionen wie Sperrzeitregelungen deutlicher Konkretisierung im Gesetz bedürfen. Aus diesem Grunde genügt es zur Rechtfertigung der Anwendung des § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG auf Ausbildungsverhältnisse noch nicht, daß vom Zweck der Bestimmung her möglicherweise eine solche Auslegung wünschenswert wäre, das AFG bei der Verwendung des Begriffs „Arbeitsverhältnis” unscharf war und keine Gründe vorliegen, die gegen die Einbeziehung der Ausbildungsverhältnisse sprechen. Nachdem jedoch der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand vom 20. Dezember 1988 (BGBl I, 2343) – in Kraft getreten am 1. Januar 1989 – in § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG den Begriff „Arbeitsverhältnis” zur Vereinheitlichung der Terminologie im Verhältnis zu § 101 Abs 1 AFG durch den Begriff „Beschäftigungsverhältnis” ersetzt hat (s dazu BT-Drucks 11/2990 S 20 zu Nr 20 zu Buchst a), womit er offensichtlich eine Klarstellung herbeiführen wollte, und nachdem kurz darauf der 7. Senat des BSG (aaO) entschieden hat – wie dargelegt –, erscheint es dem erkennenden Senat nicht gerechtfertigt, von dieser Rechtsprechung abzuweichen (vgl BSGE 40, 292 = SozR 5050 § 16 Nr 9).

Die Anwendung des § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG auf Ausbildungsverhältnisse führt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu sachwidrigen oder verfassungswidrigen Ergebnissen. Die Sperrzeit tritt nämlich nur dann ein, wenn der Auszubildende für sein Verhalten keinen wichtigen Grund hat. Ein wichtiger Grund ist überall dort anzuerkennen, wo das Grundrecht des Auszubildenden auf freie Wahl des Berufs nach Art 12 GG in seinem Kernbereich berührt wird. Dies hat der Gesetzgeber selbst vorgegeben, indem er in der Begründung zu § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG darauf hingewiesen hat, daß die Ablehnung eines Ausbildungsverhältnisses keine Sperrzeit auszulösen vermag (zu BT-Drucks V/4110 S 21 zu § 108a zu Abs 1 Satz 1 Nr 3). Entsprechendes muß gelten, wenn der Auszubildende aus beruflichen Gründen beschließt, die Ausbildung zu wechseln oder zu beenden (§ 15 Abs 2 Nr 2 des Berufsbildungsgesetzes).

Diese Konstruktion des Gesetzes räumt dem Jugendlichen den erforderlichen Freiraum dafür ein, sich auch gegen eine nicht sachgerecht erscheinende oder für ihn ungeeignete Ausbildung zu wehren oder diese deshalb abzubrechen. Insoweit ist im Hinblick auf Art 12 GG eine Auslegung geboten, die dem Einzelnen einen weiten Spielraum in seiner Ausbildungsentscheidung ermöglicht. Im übrigen kann durch die Abgrenzung des Begriffs „wichtiger Grund” der besonderen Situation des Ausbildungsverhältnisses und jugendtypischem Verhalten Rechnung getragen werden.

Ob und inwieweit sich daraus für den vorliegenden Fall Konsequenzen ergeben, wird das LSG zu entscheiden haben, sobald es die zur Anwendung von § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG erforderlichen Feststellungen nachgeholt hat.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172867

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