Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 30.11.1990) |
SG München (Urteil vom 21.06.1989) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. November 1990 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. Juni 1989 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Erziehungsgeld.
Die Klägerin und ihr Ehemann, beide italienische Staatsangehörige, wohnten seit 1983 in München. Der Ehemann ist als Prüfer Bediensteter des Europäischen Patentamtes in München. Aus der Ehe ist der am 9. Februar 1987 in München geborene Sohn Lorenzo F. … hervorgegangen. Den Antrag der Klägerin, ihr Erziehungsgeld für die ersten sechs Lebensmonate ihres Sohnes zu gewähren, lehnte der beklagte Freistaat unter Hinweis auf Art 18 des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Patentorganisation (BGBl 1976 II S 985, 991) ausschließlich deswegen ab, weil die Organisation ein eigenes Sozialversicherungssystem errichtet habe und der darin versicherte Personenkreis grundsätzlich von der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit und damit auch des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) ausgenommen worden sei (Bescheid vom 5. August 1987; Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1987).
Das Sozialgericht München (SG) hat den Beklagten unter Aufhebung der streitigen Verwaltungsentscheidungen verurteilt, der Klägerin Erziehungsgeld ab 9. Februar 1987 für sechs Monate zu gewähren (Urteil vom 21. Juni 1989). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat auf die – vom SG zugelassene – Berufung des beklagten Freistaats das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1990). Das Berufungsgericht ist folgender Ansicht: Zwar erfülle die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen nach § 1 Abs 1 Nr 1 bis 4 BErzGG. Obwohl das Erziehungsgeld eine „Familienleistung” iS von Art 1 Abs 1 lit. u, ii der Verordnung (EWG) 1408/71 und die Klägerin Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften sei, könne § 1 BErzGG keine Anwendung finden. Dem stünden nämlich zwischenstaatliche Kollisionsnormen entgegen (Hinweis auf § 30 Abs 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I). Solche Normen fänden sich zwar nicht ausdrücklich im BErzGG. Jedoch habe die Europäische Patentorganisation einen umfassenden Schutz gegen die Wechselfälle des Lebens geschaffen (Hinweis auf Versorgungsordnung für die Beamten des Europäischen Patentamtes vom 20. Oktober 1977 – Europäische Patentorganisation – Rechtsvorschriften Nr 2 – und auf den Kollektiven Versicherungsvertrag der Europäischen Patentorganisation vom 26. September 1977 mit einigen privaten Versicherungsunternehmen), der die Klägerin einbeziehe. Außerdem sei deutsches Recht auf die Bediensteten des Europäischen Patentamtes und ihre Familienangehörigen „vielfach nicht anzuwenden” (Hinweis auf Art 14, 16, 18 des og Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Patentorganisation und auf Art 17 Buchst a des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Patentorganisation über den Sitz des Europäischen Patentamts). Deshalb erfasse das deutsche System der Sozialen Sicherheit den Personenkreis dieser Bediensteten und ihrer Angehörigen nicht. Etwas anderes gelte nur, soweit ausnahmsweise eine besondere Anknüpfung bestehe, an der es hier jedoch fehle.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 1 Abs 1 BErzGG und von Art 3 und Art 6 des Grundgesetzes (GG). Sie erfülle alle gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen. Kollisionsnormen, die der Anwendung des Gesetzes entgegenstünden, seien weder im BErzGG noch im überstaatlichen Recht vorhanden. Insbesondere sei sie nicht aus dem Geltungsbereich des Rechts der Sozialen Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeschieden. Entgegen der Ansicht des LSG unterliege sie – anders als ihr Ehemann – mit ihrem Einkommen den deutschen steuerrechtlichen Vorschriften.
Die Klägerin beantragt,
- Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. November 1990 und die Bescheide des Beklagten vom 5. August 1987 und vom 14. Oktober 1987 aufzuheben,
- den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin für das Kind Lorenzo F. … Erziehungsgeld ab dem 9. Februar 1987 für sechs Monate zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. November 1990 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Gedanke, daß die Zugehörigkeit zu einem eigenständigen System der Sozialen Sicherheit der Gewährung von Familienleistungen nach deutschem Recht grundsätzlich entgegenstehe, werde dadurch unterstrichen, daß hinsichtlich der Ehegatten von Nato-Truppenmitgliedern zum 1. Juli 1990 eine gesetzliche Rechtsverbesserung (§ 1 Abs 6 BErzGG) erfolgt sei. Eine spezialgesetzliche Regelung, welche die Klägerin und ihren Ehemann in den vom BErzGG begünstigten Personenkreis einbeziehe, stehe gerade nicht zur Verfügung.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig. Ihr schriftsätzlich gestellter Antrag läßt zusammen mit der Revisionsbegründung hinreichend erkennen, daß sie neben der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG die Zurückweisung der Berufung des Beklagten gegen das ihrer Klage stattgebende Urteil des SG begehrt.
Das Rechtsmittel ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung des – einkommensunabhängigen (§ 5 Abs 1 und Abs 2 BErzGG) – Erziehungsgeldes für die ersten sechs Lebensmonate ihres Kindes Lorenzo.
Gemäß § 1 Abs 1 Nrn 1 bis 4 BErzGG (in der hier maßgeblichen Fassung vom 6. Dezember 1985 – BGBl I S 2154) hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, mit einem Kind, für das ihm die Personsorge zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst betreut und erzieht und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit (iS von § 2 BErzGG) ausübt.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erfüllt die Klägerin sämtliche Anspruchsvoraussetzungen: Sie hatte im streitigen Zeitraum ihren Wohnsitz, entgegen der Ansicht des LSG nicht nur ihren gewöhnlichen Aufenthalt (dazu: BSGE 67, 243, 247 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2), in München, lebte mit ihrem Kind, für das ihr die Personensorge zustand, in einem Haushalt, betreute und erzog es selbst und ging auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Ihr im März 1987 gestellter Antrag hatte gemäß § 4 Abs 2 BErzGG Rückwirkung bis zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes im Februar 1987. Ihr steht deshalb das begehrte Erziehungsgeld zu.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sind Ausländer, die in der Zeit, für die sie Erziehungsgeld begehren, den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse dauerhaft, erlaubt und rechtlich beständig im Inland haben (§ 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG), nur dann von der Anwendung des BErzGG ausgeschlossen, wenn dies spezialgesetzlich oder durch zwischen- oder überstaatliches Recht (§ 30 Abs 2 SGB I) angeordnet worden ist. Denn nach dem in § 31 SGB I niedergelegten Gesetzesvorbehalt dürfen ua Ansprüche auf Erziehungsgeld nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes (oder durch vorrangiges Recht iS von § 30 Abs 2 SGB I) aufgehoben oder eingeschränkt werden. Da § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ff BErzGG den persönlichen Anwendungsbereich dieses Gesetzes grundsätzlich abschließend umschreibt und danach für die Klägerin gilt, hätte das LSG das BErzGG nur dann nicht anwenden dürfen, wenn dies in einer dem Gesetzesvorbehalt genügenden Spezialregelung vorgeschrieben wäre; allgemeine Erwägungen über die Zugehörigkeit der Klägerin zu einem anderen (zwischen- oder überstaatlichen) Sicherungssystem reichen hierfür nicht aus. Jedoch enthält weder das BErzGG noch das über- oder zwischenstaatliche Recht eine Rechtsnorm, welche die Klägerin aus dem Anwendungsbereich des BErzGG ausschließt oder es aus anderen Gründen gestattet, ihr das begehrte Erziehungsgeld zu versagen:
Dies bedarf in Blick auf das BErzGG keiner Darlegung. Insbesondere bezweckt § 1 Abs 4 BErzGG, der die Gewährung von Erziehungsgeld – unter weiteren Voraussetzungen – auf solche Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften ausweitet, die – anders als die Klägerin – ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, eine Ausdehnung, keine Einschränkung des berechtigten Personenkreises. Die nicht den persönlichen Anwendungsbereich des BErzGG, sondern einen anspruchsvernichtenden Umstand regelnde Vorschrift des § 8 Abs 3 BErzGG, wonach dem Erziehungsgeld oder dem Mutterschaftsgeld vergleichbare Leistungen, die – anders als im vorliegenden Fall – außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes in Anspruch genommen werden, Erziehungsgeld ausschließen, ist erst am 1. Juli 1989 in Kraft getreten.
Aber auch aus dem über- und zwischenstaatlichen Recht (EWGV 1408/71; Gesetz über das internationale Patentübereinkommen vom 21. Juni 1976 – BGBl II S 649 –; Europäisches Patentübereinkommen – BGBl 1976 II S 826; Protokoll über die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Patentorganisation – BGBl 1976 II S 985; Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Patentorganisation über den Sitz des Europäischen Patentamts vom 7. Februar 1978 – BGBl II S 337 ff) ergibt sich kein Ausschlußgrund: Die einzige Vorschrift, die sozialrechtlichen Inhalt hat und deshalb im vorliegenden Zusammenhang in Betracht kommen könnte, ist Art 18 des og Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Patentorganisation. Danach sind die Organisation und die Bediensteten des Europäischen Patentamts, vorbehaltlich von Abkommen, die nach Art 25 mit den Vertragsstaaten geschlossen werden, von sämtlichen Pflichtbeiträgen an staatliche Sozialversicherungsträger befreit, sofern die Organisation ein eigenes Sozialversicherungssystem errichtet. Aber unabhängig davon, welche Rechtswirkungen dieses Protokoll entfalten kann (zur Rechtswirkung von Protokollerklärungen in der Europäischen Gemeinschaft: Karl, JZ 1991, 593), läßt schon der Wortlaut der Vorschrift keinen Zweifel daran aufkommen, daß nur „die Bediensteten des Europäischen Patentamts”, zu denen die Klägerin nicht gehört, und auch diese nur in bezug auf ihre Tätigkeit für die Organisation (vgl Art 19 aaO) und schließlich nur hinsichtlich derjenigen Systeme der Sozialen Sicherheit von der Anwendung (hier: deutschen) staatlichen Rechts ausgenommen sein sollen, die durch Pflichtbeiträge finanziert werden. Zu diesen Systemen gehört – wie das SG zutreffend erkannt hat und nicht näher darzulegen ist – das BErzGG nicht. In diesem Zusammenhang ist klarstellend den Ausführungen des Berufungsgerichts entgegenzutreten, bei der Gewährung von Erziehungsgeld handele es sich um „Familienbeihilfen” iS von Art 1 Abs 1 lit. u, ii EWGV 1408/71; denn Erziehungsgeld wird – anders als dort vorausgesetzt – nicht „ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt”, sondern hängt vor allem von weiteren, in § 1 Abs 1 Nrn 1 bis 4 BErzGG im einzelnen geregelten Voraussetzungen ab.
Soweit der beklagte Freistaat unter Hinweis auf § 1 Abs 6 BErzGG (eingefügt mit Wirkung vom 1. Juli 1990 durch Art 1 Nr 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes vom 17. Dezember 1990 – BGBl I S 2823) die Auffassung vertritt, es bedürfe einer spezialgesetzlichen Regelung, daß Bedienstete des Europäischen Patentamtes und ihre Angehörigen in den vom BErzGG begünstigten Personenkreis einbezogen werden könnten, ist dem entgegenzuhalten, daß sich die Rechtslage genau umgekehrt verhält: Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung (seit: BSGE 67, 243 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2; BSGE 67, 238 = SozR 3-7833 § 1 Nr 1; jew mwN) geklärt hat, enthält das BErzGG in § 1 Abs 1 Nr 1 (jetzt Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm Satz 2) eine einseitige Kollisionsnorm, die iVm Abs 2 und 4 aaO – vorbehaltlich über- oder zwischenstaatlicher Regelungen (dazu BSG SozR 6150 § 13 Nr 5) – den persönlichen Anwendungsbereich des BErzGG grundsätzlich abschließend regelt. Jedoch schließt Art 13 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3. August 1959, zuletzt geändert durch Abkommen vom 21. Oktober 1971 (BGBl 1973 II S 1022), die Mitglieder einer Truppe, eines zivilen Gefolges und deren Angehörige grundsätzlich völlig von der Anwendung der im Bundesgebiet geltenden Bestimmungen über Soziale Sicherheit und Fürsorge aus (dazu zuletzt Urteile des erkennenden Senats vom 28. Juni 1990 – 4 REg 36/89, VdK-Mitt 1990, Nr 11, 33; Urteil vom 25. April 1990 – 4 REg 3/89, SozSich 1991, 64 = VersorgVerw 1990, 79; BSG SozR 6180 Art 13 Nr 5). Deshalb bedurfte (worauf der Senat hingewiesen hatte: BSG SozR 6180 Art 13 Nr 5 S 32) die (Wieder-) Einbeziehung von Ehegatten eines Mitglieds einer Natotruppe oder des zivilen Gefolges schon wegen des Gesetzesvorbehalts (§ 31 SGB I) – zumindest – einer Regelung durch formelles Gesetz.
Nach alledem war die zutreffende Entscheidung des SG wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.
Fundstellen