Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsbegründung. Berufungsbegründungspflicht. Berufungsbegründungsschriftsatz. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Bezugnahme auf Zulassungsantrag
Leitsatz (amtlich)
War die Rüge der unterlassenen Einholung einer amtlichen Auskunft im Berufungszulassungsverfahren erfolgreich, so reicht die Bezugnahme auf den Zulassungsantrag aus, um die Berufung zu begründen.
Normenkette
VwGO § 124a Abs. 3, 6
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 20.11.2002; Aktenzeichen 12 UE 3317/99.A) |
VG Gießen (Entscheidung vom 07.05.1997; Aktenzeichen 8 E 11859/92.A(3)) |
Tenor
Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. November 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Die Beschwerde bliebe zwar mit dem von ihr ausdrücklich geltend gemachten Revisionszulassungsgrund der Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ohne Erfolg. Mit ihren Ausführungen zur Divergenzrüge beanstandet sie aber der Sache nach die fehlerhafte Auslegung und Anwendung des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO in einer Weise, welche den Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels entspricht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Der Verfahrensfehler liegt auch vor. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
Die Beschwerde beanstandet zu Recht, das Berufungsgericht habe überzogene Anforderungen an den Inhalt der nach § 124a Abs. 3 VwGO erforderlichen Berufungsbegründung gestellt und habe deshalb die Berufung nicht durch Beschluss nach § 125 Abs. 2 VwGO als unzulässig verwerfen dürfen. Nach § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO in der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung (ab 1. Januar 2002 § 124a Abs. 6 VwGO) muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Berufungsgründe enthalten. Welche Mindestanforderungen an die Berufungsbegründung zu stellen sind, hängt dabei wesentlich von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Das gesetzliche Erfordernis der Einreichung eines Schriftsatzes zur Berufungsbegründung kann grundsätzlich auch eine auf die erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags verweisende Begründung erfüllen, wenn damit hinreichend zum Ausdruck gebracht werden kann, dass und weshalb das erstinstanzliche Urteil weiterhin angefochten wird (vgl. Urteil vom 30. Juni 1998 – BVerwG 9 C 6.98 – BVerwGE 107, 117 ≪121≫). So genügt in asylrechtlichen Streitigkeiten eine Berufungsbegründung den Anforderungen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO regelmäßig etwa dann, wenn sie zu einer entscheidungserheblichen Frage ihre von der Vorinstanz abweichende Beurteilung deutlich macht, was auch durch die Bezugnahme auf die Begründung des insoweit erfolgreichen Zulassungsantrags und auf den Zulassungsbeschluss geschehen kann (vgl. den Beschluss des Senats vom 15. Oktober 1999 – BVerwG 9 B 491.99 – Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 13 und das vom Berufungsgericht zitierte Urteil vom 23. April 2001 – BVerwG 1 C 33.00 – BVerwGE 114, 155 ≪157 ff.≫ m.w.N.). Dem wird der Schriftsatz des Klägervertreters vom 10. November 1999 gerecht, der zur Begründung auf seinen erfolgreichen Berufungszulassungsantrag vom 16. August 1997 Bezug nimmt. Denn im Zulassungsantrag wird unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Kläger die unterlassene Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes durch das Berufungsgericht rügt, die beweisen sollte, dass der Kläger von den türkischen Sicherheitsbehörden zur Festnahme ausgeschrieben war. Der Kläger hat sich insoweit gegen die Verletzung seines rechtlichen Gehörs gewandt, das Berufungsgericht hat die Rüge als gerechtfertigt anerkannt und darauf abgestellt, dass der Kläger damit sein Vorbringen, gesucht zu werden, habe glaubhafter machen wollen (Zulassungsbeschluss vom 1. November 1999, S. 4 f.). Mehr musste der Kläger in dieser Situation zur Begründung der Berufung nicht ausführen. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Berufungsbegründung befasse sich nicht hinreichend damit, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil nach Ansicht des Berufungsklägers im Einzelnen unrichtig sei (BA S. 4), überspannt die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung. Dies gilt hier im Übrigen auch deshalb, weil das Berufungsgericht selbst die Darlegungen des Klägers zur unterlassenen Beweiserhebung über die vorgetragene Ausschreibung zur Festnahme als hinreichenden Grund nicht nur für die Berufungszulassung, sondern auch für eine förmlich angeordnete Beweisaufnahme durch Vernehmung des Klägers zu seinem Verfolgungsvortrag als Partei angesehen hat. Die Verwerfung der Beschwerde durch Beschluss nach § 125 Abs. 2 VwGO verletzt danach Verfahrensrecht.
Die angefochtene Entscheidung kann auch nicht in entsprechender Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO aufrechterhalten bleiben, weil sie das Berufungsgericht mit einer zweiten selbständig tragenden Begründung als unbegründet angesehen hat (BA S. 4 – 6). Denn im schriftlichen Verfahren nach § 125 Abs. 2 VwGO durfte eine Entscheidung in der Sache nicht ergehen. Für eine Entscheidung nach § 130a VwGO fehlt es an der erforderlichen Anhörung; die Einverständniserklärung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO war – abgesehen davon, dass der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten nicht zugestimmt hatte – durch die Anhörung nach § 125 VwGO wohl “verbraucht” (vgl. Beschluss vom 17. September 1998 – BVerwG 8 B 105.98 – Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 24 und Beschluss vom 29. Dezember 1995 – BVerwG 9 B 199.95 – Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 21 = NVwZ – Beilage 4/1996, 26). Außerdem hätte der Verwaltungsgerichtshof ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nur mit ehrenamtlichen Richtern entscheiden dürfen (§ 17 AGVwGO Hessen). Unter diesen Umständen kommt es auf die zusätzlich erhobene Gehörsrüge wegen der unterlassenen Beweiserhebung, die in der angefochtenen Entscheidung nicht begründet wird, für die Entscheidung des Senats nicht mehr an.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen
InfAuslR 2004, 130 |
AuAS 2004, 8 |
BayVBl. 2004, 477 |
DVBl. 2004, 125 |