Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an bauliche Anlagen. Baugestaltung. Verunstaltungsverbot. anerkannte Regeln der Baukunst. anerkannte Regeln der Technik
Leitsatz (amtlich)
Das landesrechtliche Gebot, „bauliche Anlagen nach den anerkannten Regeln der Baukunst durchzubilden”, ist als eigenständige Anforderung neben der weiteren, ebenfalls landesrechtlichen Anforderung, bauliche Anlagen „so zu gestalten, daß sie nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe nicht verunstaltend wirken” (Verunstaltungsverbot), bundesrechtlich nicht zu beanstanden (Bestätigung von BayVGH, Urteil vom 20. Juli 1999 – 2 B 98.1405 – zu Art. 11 Abs. 1 BayBO).
Normenkette
GG Art. 14 Abs. 1 S. 2; BayBO Art. 3 Abs. 1 S. 3, Art. 11 Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 20.07.1999; Aktenzeichen 2 B 98.1405) |
VG München (Entscheidung vom 23.03.1998; Aktenzeichen 8 K 97.1966) |
Tenor
Die Beschwerden des Klägers und der Landesanwaltschaft Bayern gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Juli 1999 werden zurückgewiesen.
Der Kläger und die Landesanwaltschaft Bayern tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 6 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
A.
Der Kläger begehrt die nachträgliche Baugenehmigung für die Errichtung zweier 2,56 bzw. 2,98 m breiter und 1,40 m hoher Dachgauben auf dem Dach seines Reihenhauses, das eine Dachneigung von 35 Grad aufweist. Seine Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Nach Zulassung der Berufung wurde sie vom Berufungsgericht wegen Verstoßes gegen die anerkannten Regeln der Baukunst abgewiesen. Hiergegen wenden sich die Landesanwaltschaft Bayern und der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
Entscheidungsgründe
B.
I. Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde der Landesanwaltschaft Bayern hat keinen Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht läßt offen, ob die Beschwerde der Landesanwaltschaft als Vertreter des öffentlichen Interesses zulässig ist. Hieran können im Hinblick auf die für jedes Rechtsmittel erforderliche Beschwer Zweifel bestehen. Allerdings setzt nach bisheriger Rechtsprechung die Beschwerde eines Vertreters des öffentlichen Interesses keine formelle Beschwerde voraus (vgl. BVerwG, Beschluß vom 11. März 1983 – BVerwG 9 B 2597.82 – BVerwGE 67, 64 ≪66≫; Urteil vom 19. Januar 1987 – BVerwG 9 C 247.86 – BVerwGE 75, 337 ≪339≫). Diese läge auch nicht vor. Die Landesanwaltschaft hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt. Der Vertreter des öffentlichen Interesses muß indes mit dem eingelegten Rechtsmittel zumindest inhaltlich eine anderslautende Entscheidung anstreben (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Juni 1977 – BVerwG 1 C 20.74 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 107 = NJW 1979, 1619). Ob dies mit der vorliegenden Beschwerde verfolgt wird, ist fraglich. Ginge es der Landesanwaltschaft als Vertreter des öffentlichen Interesses lediglich um eine andere Begründung der getroffenen Berufungsentscheidung, wäre dies zu verneinen. Es mag auch fraglich sein, in welcher Hinsicht insoweit Fragen des revisiblen Rechts überhaupt berührt würden. Das Beschwerdegericht läßt dies unentschieden, da die Beschwerde jedenfalls unbegründet ist.
2.1 Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Landesanwaltschaft beimißt.
Der anhängige Rechtsstreit würde den Senat nicht dazu nötigen, zur Frage der „rechtsstaatlich hinreichend präzisen Begrenzung unmittelbar gesetzesabhängiger Schranken der Baugestaltung” Stellung zu nehmen. Die Landesanwaltschaft räumt selbst ein, daß Art. 11 Abs. 1 BayBO, den das Berufungsgericht als Beurteilungsmaßstab herangezogen hat, dem Landesrecht angehört, das nach § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt. Ob dem gesetzlichen Erfordernis, „bauliche Anlagen nach den anerkannten Regeln der Baukunst durchzubilden”, neben dem Gebot, bauliche Anlagen „so zu gestalten, daß sie nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe nicht verunstaltend wirken”, eine eigenständige rechtliche Bedeutung zukommt, ist als eine Frage der Auslegung und Anwendung irrevisiblen Rechts der Entscheidung der Vorinstanz vorbehalten. Einen bundesrechtlichen Bezug stellt die Landesanwaltschaft in diesem Zusammenhang nicht mit dem Hinweis darauf her, daß die Tatbestandsvariante des Art. 11 Abs. 1 BayBO, auf die das Berufungsgericht abstellt, an den Anforderungen zu messen ist, die sich aus dem Verfassungsrecht ergeben. Hierzu gehört freilich u.a. die Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes, der als wichtiges Element des Rechtsstaatsprinzips verlangt, daß die gesetzliche Regelung in dem Maße, in dem die jeweilige Materie es zuläßt, eine voraussehbare und berechenbare Grundlage für das Handeln der Verwaltung bildet. Dies bedarf vor dem Hintergrund der umfangreichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Problemkreis (vgl. BVerfG, Urteile vom 24. April 1991 – 1 BvR 1341/90 – BVerfGE 84, 133 ≪149≫, und vom 17. November 1992 – 1 BvL 8/87 – BVerfGE 87, 243 ≪263≫; Beschlüsse vom 20. Oktober 1981 – 1 BvR 640/80 – BVerfGE 58, 257 ≪277≫, vom 3. November 1982 – 1 BvR 210/79 – BVerfGE 62, 169 ≪182≫, vom 18. Mai 1988 – 2 BvR 579/84 – BVerfGE 78, 205 ≪212≫, und vom 27. November 1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 ≪145≫) keiner erneuten Bekräftigung in einem Revisionsverfahren. Die Landesanwaltschaft meint trotz dieser reichhaltigen Judikatur einen Klärungsbedarf aufzeigen zu können, weil sie den Standpunkt vertritt, daß rechtsstaatliche Bestimmtheitserwägungen es dem Gesetzgeber unabhängig vom konkreten Sachbereich generell verwehren, sich des vom Berufungsgericht gebilligten Regelungskonzepts zu bedienen. Auch diese spezielle Fragestellung rechtfertigt indes nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Sie läßt, was die dem Gesetzgeber durch den Bestimmtheitsgrundsatz gezogenen Grenzen angeht, keine Erkenntnisse erwarten, die über den bisherigen Stand der Rechtsprechung hinausreichen.
Dem Gesetzgeber ist es unbenommen, den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen von der Beachtung „allgemein anerkannter Regeln” abhängig zu machen. Die tatbestandliche Anknüpfung an „allgemein anerkannte Regeln der Technik” gehört zu den herkömmlichen Regelungsmustern, die unter dem Blickwinkel der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit keinen Bedenken begegnen (vgl. BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978 – 2 BvL 8/77 – BVerfGE 49, 89 ≪135≫). Soweit das Gesetz auf „anerkannte Regeln” verweist, greift es zwar auf außerrechtliche Maßstäbe zurück. Das bedeutet aber nicht, daß sich der Gesetzgeber des Rechts begibt, selbst festzulegen, wieweit die normative Wirkung seiner Regelung reicht. Rechtliche Relevanz erlangen die Regeln, die als solche nur faktische Bedeutung haben, nicht deshalb, weil sie eigenständige Geltungskraft besitzen, sondern nur dadurch, daß der Gesetzgeber sie in seinen Regelungswillen aufnimmt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 1995 – BVerwG 4 B 250.95 – und vom 30. September 1996 – BVerwG 4 B 175.96 – Buchholz 445.4 § 18 b WHG Nrn. 1 und 2). Die unter Bestimmheitsgesichtspunkten gebotene tatbestandliche Eingrenzung wird bei dieser Verweisungstechnik insofern gewährleistet, als ausschließlich „allgemein anerkannte” Regeln eine Maßstabsfunktion erfüllen. Dazu zählen diejenigen Prinzipien und Lösungen, die in der Praxis erprobt und bewährt sind und von der Mehrzahl der Praktiker als richtig und notwendig akzeptiert werden (vgl. BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978 – 2 BvL 8/77 – a.a.O. ≪135≫; BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 1995 – BVerwG 4 B 250.95 – und vom 30. September 1996 – BVerwG 4 B 175.96 – a.a.O.). Besteht Unsicherheit darüber, ob eine Regel in diesem Sinne „allgemein anerkannt” ist, so haben die mit dieser Frage befaßten Behörden und Gerichte dies gegebenenfalls unter Einschaltung von Sachverständigen zu klären. Ebenso wie in anderen Regelungszusammenhängen, in denen der Gesetzgeber unbestimmte, im Einzelfall ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe verwendet, ist dies kein Indikator für einen Verstoß gegen das Gebot der Bestimmtheit (vgl. BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978 – 2 BvL 8/77 – a.a.O. ≪137≫).
Zu einer abweichenden Beurteilung besteht nicht deshalb Anlaß, weil Art. 11 Abs. 1 BayBO auf die „anerkannten Regeln der Baukunst” verweist, die nach der für den Senat verbindlichen Auslegung des Berufungsgerichts von den in Art. 3 Abs. 2 Satz 4 BayBO genannten „allgemein anerkannten Regeln der Technik” zu unterscheiden sind. Nach Auffassung der Vorinstanz erstreckt der Gesetzgeber mit diesem Merkmal über die Konstruktionsgrundsätze, die Statik und die Materialkunde hinaus das bauordnungsrechtliche Anforderungsprofil auch auf nichttechnische bauhandwerkliche und architektonische Grundsätze. In Anknüpfung an frühere Rechtsprechung (vgl. BayVGH, Urteil vom 8. November 1991, VGH n.F. 45, 47) deutet das Berufungsgericht Art. 11 Abs. 1 BayBO als nähere Konkretisierung der bauordnungsrechtlichen Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 BayBO. Nach Satz 1 dieser Vorschrift sind bauliche Anlagen u.a. so zu errichten, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gefährdet werden. Während sich unter dem Begriff der öffentlichen Sicherheit die normativ festgelegten Sicherheitsanforderungen zusammenfassen lassen, schließt das polizei- und ordnungsrechtliche Schutzgut der öffentlichen Ordnung die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln ein, deren Befolgung als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten sozialen Zusammenlebens angesehen wird (vgl. BVerfG, Beschluß vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81 u.a. – BVerfGE 69, 315 ≪352≫; BayVerfGH, Entscheidung vom 13. Oktober 1951 – Vf. 168 – V – 50 – VerfGH n.F. 4, 194). Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, deren Polizei- oder Ordnungsgesetze sich auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit beschränken, stellt der bayerische Gesetzgeber jedenfalls das Bauordnungsrecht weiterhin in den Dienst der Abwehr von Gefahren, die der öffentlichen Ordnung drohen. Dies begegnet unter dem Blickwinkel der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit keinen Bedenken, da die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel auch mit diesem Bedeutungsgehalt in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre präzisiert worden ist. Welche Regelungen zum Schutz dieses Rechtsgutes erforderlich sind, läßt sich mit hinreichender Sicherheit vorherbestimmen und unterliegt voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 25. Juli 1962 – 2 BvL 4/62 – BVerfGE 14, 245 ≪253≫, vom 23. Mai 1980 – 2 BvR 854/79 – BVerfGE 54, 143 ≪144≫, und vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81 u.a. – a.a.O. ≪353≫). Aus der Sicht des Berufungsgerichts gehören zur öffentlichen Ordnung im Bereich des Bauordnungsrechts insbesondere gestalterische Belange. Dies kleidet der Gesetzgeber in Art. 3 Abs. 1 Satz 3 BayBO eigens in die Forderung, daß bauliche Anlagen „einwandfrei zu gestalten” sind. Diesem Erfordernis ist Rechnung getragen, wenn die Anlage im Sinne des Art. 11 Abs. 1 BayBO nach den „anerkannten Regeln der Baukunst” durchgebildet ist. Die Bedeutung dieser Regeln erschöpft sich darin, den Begriff der einwandfreien Gestaltung aufzufüllen. Während in Art. 3 Abs. 1 BayBO lediglich die allgemeinen Anforderungen umschrieben werden, dienen die Regeln, auf die Art. 11 Abs. 1 BayBO Bezug nimmt, der Detailfestlegung. Der maßgebliche Inhalt dieser Verweisungsnorm besteht in der Anordnung, daß die anerkannten Regeln der Baukunst zu beachten sind. Mit dieser Regelung werden die Rechtspflichten der Normadressaten abschließend festgelegt. Ob den danach maßgeblichen Regeln genügt ist, richtet sich nach Auffassung des Berufungsgerichts in Parallele zu den anerkannten Regeln der Technik nach der „auf wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfahrung beruhenden Überzeugung der Mehrzahl der mit den einschlägigen Arbeiten befaßten Personen, daß die Einhaltung der Regel richtig und notwendig ist”. Diese Sichtweise führt entgegen den von der Landesanwaltschaft erhobenen rechtsstaatlichen Einwänden nicht im Ergebnis dazu, daß die Ordnungsbehörden ermächtigt werden, die Gestaltungsmaßstäbe selbst zu setzen. Das Berufungsgericht stellt klar, daß die gestalterischen Anforderungen von „bauhandwerklichen und architektonischen Grundsätzen” her zu bestimmen sind. Daraus folgt, daß zu den „fachlich vorgebildeten Kreisen”, auf deren Überzeugung es nach seiner Meinung ankommt, nur Personen gehören, denen diese Berufsfelder vertraut sind. Ob eine Regel der Baukunst allgemein anerkannt ist, haben die Bauordnungsbehörden auf der Grundlage des Berufungsurteils zu ermitteln und nicht autoritativ festzustellen. Daß dies im Einzelfall schwierig ist, stellt die grundsätzliche Zwecktauglichkeit der getroffenen Regelung nicht in Frage. Soweit ein Rest von Unsicherheit bleibt, ist dies eine unvermeidliche Folge jeder Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. BVerfG, Beschluß vom 26. Juni 1985 – 1 BvR 588/84 – BayVBl 1986, 143).
2.2 Die Divergenzrüge ist unzulässig. Sie genügt in mehrfacher Hinsicht nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Von einer Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kann nur dann die Rede sein, wenn das Berufungsgericht in Anwendung ein und derselben Rechtsvorschrift von einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz abgewichen ist. Diese Voraussetzung ist hier nach dem Beschwerdevorbringen schon deshalb nicht erfüllt, weil es an der Identität der Rechtsnormen fehlt. Nach Ansicht der Landesanwaltschaft hat sich das Berufungsgericht in Widerspruch zu der Auffassung gesetzt, die das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 28. Juni 1955 – BVerwG 1 C 146.53 – (BVerwGE 2, 172) zu dem in § 1 der Baugestaltungsverordnung verwendeten Begriff der „anständigen Baugesinnung” vertreten hat. Die Vorinstanz hat indes nicht diese längst außer Kraft getretene Vorschrift herangezogen, sondern Art. 11 Abs. 1 BayBO angewandt, der tatbestandlich auf die „anerkannten Regeln der Baukunst” und nicht auf die „anständige Baugesinnung” abstellt. Im übrigen übersieht die Landesanwaltschaft, daß die allgemeinen Schranken, die für den Zulassungstatbestand des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gelten, Gültigkeit auch für den Fall der Divergenz beanspruchen. Dazu gehört, daß die geltend gemachte Abweichung eine Rechtsfrage betrifft, die im Revisionsverfahren klärungsfähig ist. Daran fehlt es, wenn die einander gegenübergestellten Rechtssätze nicht dem revisiblen Recht entnommen sind. So liegt es hier. Die Landesanwaltschaft räumt selbst ein, daß Art. 11 Abs. 1 BayBO, auf den sich das Berufungsgericht stützt, dem irrevisiblen Recht angehört. Wie dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 1955 zu entnehmen ist, handelte es sich auch bei der Baugestaltungsverordnung um Landesrecht. Hiervon abgesehen kommt eine Zulassung der Revision auf der Grundlage des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nur in Betracht, wenn das Berufungsgericht von einem Rechtssatz abgewichen ist, der für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragend war. Auch diesem Erfordernis ist hier nicht genügt. Das Urteil vom 28. Juni 1955 wird von der Auffassung getragen, daß die Vorinstanz zu Unrecht von der Rechtsgültigkeit des § 1 Abs. 4 der Kreisbauordnung des Landeskreises Mannheim ausgegangen sei. Die Ausführungen zu § 1 der Baugestaltungsverordnung dienen lediglich dazu, das Gericht, an das die Sache nach § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO zurückverwiesen wurde, darauf hinzuweisen, daß bei der erneuten Prüfung „zu untersuchen” sein werde, inwieweit diese Vorschrift anwendbar sei.
2.3 Auch die Aufklärungsrüge ist unzulässig. Die Landesanwaltschaft legt nicht dar, in welcher Richtung das Berufungsgericht weitere Ermittlungen hätte anstellen müssen. Sie weist darauf hin, daß nach den tatrichterlichen Feststellungen in der Nachbarschaft „bereits eine Vielzahl ähnlich großer und ähnlich gestalteter Dachgauben vorhanden ist”, und bemängelt, daß die Vorinstanz dieser „gebauten Wirklichkeit” keine Bedeutung beimißt. Einen Aufklärungsmangel zeigt sie mit diesem Vorbringen indes nicht auf. Wieweit der Sachverhalt erforscht werden muß, ist von der materiellrechtlichen Sicht des Tatrichters her zu beurteilen. Das Berufungsgericht vertritt die Rechtsauffassung, daß eine Dachgaube, die das „Dach selbst als Randerscheinung verkümmern” läßt, gegen die anerkannten Regeln der Baukunst verstößt. Es nennt verschiedene Quellen als Beleg für die in den maßgeblichen Fachkreisen vorherrschende Auffassung, daß sich Dachgauben bei herkömmlichen Dachformen nur dann „harmonisch in die Gesamtarchitektur des Gebäudes” einfügen, wenn sie durch das Merkmal der Unterordnung gekennzeichnet sind. Von diesem materiellrechtlichen Ansatz her erübrigten sich weitere Nachforschungen. Denn eine Regel der Baukunst verliert, solange sie im Sinne der Verweisungsnorm „anerkannt” ist, ihre maßstabsbildende Kraft nicht dadurch, daß sie in einer Mehrzahl von Fällen nicht beachtet wird.
II. Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde des Klägers ist ebenfalls unbegründet.
1. Die aufgeworfenen Fragen würden dem Senat in dem erstrebten Revisionsverfahren keine Gelegenheit zur Klärung oder Fortentwicklung des Rechts bieten.
Die Beschwerde legt nicht dar, inwiefern die Rechtsprechung des Senats zum Baugestaltungsrecht unter dem Blickwinkel des Art. 14 GG der Vertiefung bedarf. Der Senat hat in seinen Beschlüssen vom 27. Juni 1991 – BVerwG 4 B 138.90 – Buchholz 401.41 Baugestaltungsrecht Nr. 4, und vom 13. April 1995 – BVerwG 4 B 70.95 – (Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 309) ausgeführt, daß es sich bei Baugestaltungsvorschriften um Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG handelt, bei denen der soziale Bezug des Eigentums besonders ausgeprägt ist. Bauwerke wirken schon deshalb stark in den öffentlichen Raum hinein, weil sich ihrem Eindruck keiner, der mit ihnen konfrontiert wird, entziehen kann. Das rechtfertigt es, die Eigentümerbefugnisse in diesem Bereich detailliert festzulegen. Art. 11 Abs. 1 BayBO fügt sich mit der Anordnung, die anerkannten Regeln der Baukunst zu beachten, in diesen Rahmen ein. Wie sich bereits aus dem systematischen Aufbau der Vorschrift ergibt, steht dieses Erfordernis in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem Verunstaltungsverbot. Zwar kann es nach der Wertung des Berufungsgerichts „im Einzelfall” zu weitergehenden Anforderungen führen. Die Beschwerde zeigt jedoch keine Umstände auf, die darauf hindeuten, daß aus diesem Grunde der Gewährleistungsgehalt des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht mehr gewahrt ist. Auf der Grundlage des Berufungsurteils, das insoweit Ausdruck einer ständigen Rechtsprechung ist (vgl. BayVGH, Urteil vom 8. November 1991, VGH n.F. 45, 47), steht nicht zu befürchten, daß von der ersten Tatbestandsalternative des Art. 11 Abs. 1 BayBO extensiver Gebrauch gemacht wird. Das Berufungsgericht betont mit Nachdruck, daß „bei der Auslegung des Begriffs der anerkannten Regeln der Baukunst eher Zurückhaltung geboten (ist). Er muß auf einen gesicherten Kernbestand an grundlegenden bauästhetischen Ordnungsvorstellungen beschränkt bleiben”. Das Beschwerdevorbringen bietet keine Anhaltspunkte dafür, daß Art. 14 GG aus Gründen, die der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht berücksichtigt hat, eine weitere Eingrenzung gebietet.
Soweit der Kläger die Frage nach der Bedeutung „außerjuristischer Regeln” mit der Frage nach den „Rechtsquellen” verknüpft, spricht er das Problem an, ob der aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbare Vorrang des Gesetzes gewahrt ist. Auch diese Fragestellung rechtfertigt vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber in Art. 11 Abs. 1 BayBO angewandten Normierungstechnik nicht die Zulassung der Revision auf der Grundlage des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Kläger geht selbst davon aus, daß die anerkannten Regeln der Baukunst dadurch in Recht transformiert worden sind, daß sie in Art. 11 Abs. 1 BayBO als Tatbestandsmerkmal aufgeführt werden. Es bedarf nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, um zu bestätigen, daß sich gegen eine derartige Rezeption keine grundsätzlichen rechtsstaatlichen Einwände erheben lassen. Die Verweisung stellt ein rechtlich zulässiges Mittel dar, um Regeln, die als solche lediglich faktische Wirkung erzeugen, in rechtlich verbindliche operationable Maßstäbe zu transformieren. Eine Verlagerung von Normsetzungsbefugnissen liegt hierin nicht. Der Gesetzgeber gibt seine Verantwortung nicht an Private ab, die zur Rechtsetzung nicht legitimiert sind. Soweit er Regeln aus dem außerrechtlichen Bereich rezipiert, nimmt er sie in seinen Regelungswillen auf. Aus dem von der Beschwerde angesprochenen Publikationserfordernis läßt sich nicht ableiten, daß die Regeln bei diesem Rezeptionsvorgang in derselben Weise veröffentlicht werden müssen wie das Gesetz, in dem auf sie Bezug genommen wird. Regeln zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie sich aus der Praxis heraus entwickeln. Ihre Anerkennung ist nicht davon abhängig, daß sie bestimmten formalen Anforderungen genügen. Insbesondere brauchen sie nicht schriftlich niedergelegt zu sein. Eine schriftliche Fixierung erleichtert allenfalls den Nachweis ihrer Existenz, ist hierfür aber nicht Voraussetzung, da sich ihr Bedeutungsgehalt auch auf andere Weise feststellen läßt. Eine rechtssatzförmige Verkündung erübrigt sich, weil es bei ihnen nicht darum geht, Rechtsnormen Geltung zu verschaffen, die ohne die dafür unabdingbare Publikation nicht in Kraft treten können. Die Regeln haben keine Rechtsnormqualität. Rechtliche Relevanz erlangen sie lediglich dadurch, daß sie im Wege der Rezeption Inhalt der Verweisungsnorm werden, die ihrerseits dem Erfordernis genügen muß, ordnungsgemäß verkündet zu sein.
2. Die Divergenzrüge genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Der Kläger bezeichnet keinen abstrakten Rechtssatz, mit dem sich das Berufungsgericht in Widerspruch zu der Rechtsauffassung gesetzt haben könnte, die das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 29. August 1961 – BVerwG 1 C 14.61 – (NJW 1962, 506) vertreten hat. Gegenstand der rechtlichen Prüfung des Bundesverwaltungsgerichts waren nicht die „anerkannten Regeln der Baukunst” im Sinne des Art. 11 Abs. 1 BayBO, sondern u.a. die „Technischen Vorschriften und Richtlinien für die Einrichtung und Unterhaltung von Niederdruckgasanlagen in Gebäuden und Grundstücken”, die im Urteil vom 29. August 1961 als anerkannte Regeln der Technik gekennzeichnet werden. Das Bundesverwaltungsgericht hebt hervor, daß diese Regeln mangels Rechtsnormqualität nicht als eigenständige Grundlage für behördliche Eingriffe oder für die Feststellung von Rechtsverletzungen geeignet sind, als Erkenntnisquellen oder Erfahrungsregeln aber gleichwohl rechtlich bedeutsam sein können. Daß für die „anerkannten Regeln der Baukunst” Entsprechendes gilt, hat das Berufungsgericht weder in Abrede gestellt noch auch nur in Zweifel gezogen.
3. Auch die Verfahrensrüge ist unzulässig. Der Kläger sieht einen Verfahrensmangel darin, daß das Berufungsgericht vom Antrag auf Zulassung der Berufung bis zur Zulassungsentscheidung ein Jahr hat verstreichen lassen. Er legt indes nicht dar, inwiefern das Berufungsurteil auf dieser Verzögerung beruhen kann. Er macht selbst nicht geltend, daß die Vorinstanz ohne den von ihm angenommenen Verfahrensverstoß zu einem für ihn günstigeren Ergebnis hätte gelangen können.
C.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 und § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 3 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Halama
Fundstellen
Haufe-Index 1422491 |
BauR 2000, 859 |
DÖV 2000, 518 |
GewArch 2000, 296 |
NuR 2000, 328 |
ZfBR 2000, 279 |
BRS 2000, 555 |
BayVBl. 2000, 698 |
UPR 2000, 346 |
FSt 2000, 334 |