Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 18.09.1998; Aktenzeichen 8 S 1279/98) |
Tenor
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 18. September 1998 wird aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 40 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Antragsteller wenden sich im Wege der Normenkontrolle gegen einen Bebauungsplan aus dem Jahre 1977, der in seinem zeichnerischen Teil u.a. Bauflächen für die Errichtung einer Sonderschule, der Räumlichkeiten einer Strandbadanlage sowie einer Eislaufbahn vorsieht und der in seinem Textteil die Möglichkeit eröffnet, auf der außerhalb der Baugrenzen festgesetzten Grünfläche Schwimmbecken mit den für den Badebetrieb erforderlichen Nebeneinrichtungen anzulegen. Die Sonderschule und die Badeanlage wurden bereits im Stadium der Planaufstellung genehmigt und werden seit ihrer Fertigstellung bestimmungsgemäß genutzt. Die Antragsteller sind Eigentümer von Grundstücken in der Nachbarschaft des Plangebiets. Sie setzen sich gegen die nach ihrer Ansicht gebietsunverträgliche Nutzung zur Wehr und beklagen unzumutbare Lärmbeeinträchtigungen.
Das Normenkontrollgericht hat ihre Anträge mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, ihnen fehle das Rechtsschutzinteresse. Sie könnten ihre Rechtsstellung nicht verbessern, auch wenn der Bebauungsplan für nichtig erklärt werde. Das Strandbad sei auf der Grundlage einer unanfechtbaren Baugenehmigung aus dem Jahre 1975 errichtet worden. An der Bestandskraft würde eine Nichtigerklärung des Bebauungsplans nichts ändern. Eine Rücknahme der Baugenehmigung komme wegen des langen Zeitraums, der seit der Erteilung verstrichen sei, nicht ernsthaft in Betracht.
Entscheidungsgründe
II.
Die Antragsteller machen mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde u.a. geltend, das Normenkontrollurteil weiche von dem Senatsbeschluß vom 28. August 1987 – BVerwG 4 N 3.86 – (BVerwGE 78, 85) ab. Diese Rüge greift durch.
Der Senat hat mehrfach bekräftigt, daß das Rechtsschutzbedürfnis, das im Normenkontrollverfahren als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung neben die Antragsbefugnis tritt, dann fehlt, wenn sich die Inanspruchnahme des Gerichts als nutzlos erweist, weil der Antragsteller seine Rechtsstellung mit der begehrten Entscheidung nicht verbessern kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Juli 1989 – BVerwG 4 N 3.87 – BVerwGE 82, 225, vom 25. Mai 1993 – BVerwG 4 NB 50.92 – und vom 22. September 1995 – BVerwG 4 NB 18.95 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 79 und 108). Hiervon ist nach der Rechtsprechung des Senats u.a. dann auszugehen, wenn der Antragsteller Festsetzungen bekämpft, auf deren Grundlage bereits Vorhaben genehmigt und verwirklicht worden sind (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. August 1987 – BVerwG 4 N 3.86 – a.a.O., und vom 9. Februar 1989 – BVerwG 4 NB 1.89 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 37).
Das Normenkontrollgericht verkürzt die Rechtsschutzproblematik indes, wenn es ausschließlich auf die unanfechtbar gewordene Baugenehmigung für das Strandbad abhebt, die die Grundlage für die Errichtung der für die Badeanstalt erforderlichen Funktionsräume bildet (Verwaltung, Kasse, Umkleide, Toiletten, Duschen, Sauna, Kiosk u. dgl.). Zu Unrecht beruft es sich für seine Auffassung auf den dem Senatsbeschluß vom 28. August 1987 vorangestellten Leitsatz, wonach einem Normenkontrollantrag, der sich gegen Festsetzungen eines Bebauungsplans richtet, zu deren Verwirklichung schon eine unanfechtbare Genehmigung erteilt worden ist, das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Antragsteller dadurch, daß der Bebauungsplan für nichtig erklärt wird, seine Rechtsstellung derzeit nicht verbessern kann. Mit diesem Zitat wird das Normenkontrollgericht dem eigentlichen Aussagegehalt der Senatsentscheidung nicht gerecht. Der Leitsatz ist auf den Sachverhalt zugeschnitten, der dem seinerzeit anhängigen Vorlageverfahren zugrunde lag. Beantragt war, einen Bebauungsplan insoweit für nichtig zu erklären, als er einen Bolzplatz festsetzte, für den bereits zuvor eine Baugenehmigung erteilt worden war. Vor diesem Hintergrund läßt sich dem Beschluß vom 28. August 1987 nicht der abstrakte Rechtssatz entnehmen, daß das Rechtsschutzbedürfnis entfällt, sobald ein beliebiges Vorhaben, dessen Zulässigkeit sich nach dem Bebauungsplan bestimmt, unanfechtbar genehmigt worden ist. Schafft ein Bebauungsplan die Grundlage für die Zulassung einer Mehrzahl von Vorhaben, so kann ein Antragsteller, der den Plan angreift, seine Rechtsstellung vielfach, wenn nicht sogar in der Regel, auch dann noch verbessern, wenn aus dem Kreis der planungsrechtlich zulässigen Vorhaben eines verwirklicht worden ist. Der Senat hat in dem vom Normenkontrollgericht zitierten Beschluß klargestellt, daß es insoweit nicht auf eine punktuelle Sicht, sondern auf eine Gesamtschau ankommt. Ob der Antragsteller seine Rechtsstellung durch einen erfolgreichen Angriff auf den Bebauungsplan aktuell verbessern kann, hat er losgelöst von den Besonderheiten des seinerzeit anhängigen Verfahrens davon abhängig gemacht, ob „der Bebauungsplan oder die mit dem Antrag bekämpfte einzelne Festsetzung durch genehmigte (oder genehmigungsfreie) Maßnahmen vollständig verwirklicht” worden ist (a.a.O., S. 92). Über diesen Rechtssatz hat sich das Normenkontrollgericht hinweggesetzt. Dahinstehen kann, welcher Zustand im Plangebiet erreicht sein muß, damit von einer „vollständigen Verwirklichung” des Bebauungsplans die Rede sein kann. Jedenfalls läßt sich das Rechtsschutzbedürfnis nicht schon dann verneinen, wenn die Erreichung wesentlicher Planungsziele noch aussteht. Ist der Bebauungsplan erst torsohaft verwirklicht, so bedarf es zumindest näherer Erläuterung, weshalb die Nichtigerklärung für den Antragsteller gleichwohl ohne jeden Nutzen sein soll.
Das Normenkontrollgericht legt selbst dar, daß der angegriffene Bebauungsplan neben den Festsetzungen, die bereits verwirklicht worden sind, Festsetzungen enthält, die im Planungsstadium steckengeblieben sind. Er nennt keine Gründe, die den Schluß nahelegen, daß diese Festsetzungen im Gesamtzusammenhang von bloß untergeordneter Bedeutung wären und für die Nachbarschaft keine zusätzlichen Beeinträchtigungen erwarten ließen. Eher drängt sich die Annahme des Gegenteils auf. Bisher unausgeschöpft geblieben ist die durch den angegriffenen Bebauungsplan eröffnete Möglichkeit, eine Eislaufbahn einzurichten und auf der außerhalb der Baugrenzen festgesetzten Grünfläche zusätzliche Schwimmbecken mit den für den Badebetrieb erforderlichen Nebeneinrichtungen anzulegen. Würde eine Eislaufbahn errichtet, so würden die Voraussetzungen dafür geschaffen, das für Erholungszwecke vorgesehene Areal am Bodensee nicht nur in der warmen, sondern auch in der kalten Jahreszeit einem breiten Publikum zu öffnen. Zusätzliche Schwimmbecken wären geeignet, die Kapazität und die Attraktivität des Strandbades zu steigern. Negative Folgen für die Antragsteller ließen sich in beiden Fällen nicht ausschließen. Wenn das Normenkontrollgericht gleichwohl ohne weitere Erläuterung meint, die für die Funktionsräume der Badeanstalt erteilte Baugenehmigung reiche aus, um den Antragstellern ein Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen, dann läßt sich dies nicht lediglich als Beleg dafür werten, daß es die Reichweite des vom Senat im Beschluß vom 28. August 1987 formulierten Rechtssatzes bei der Anwendung auf den konkreten Fall verkannt hat; vielmehr beruht seine Entscheidung auf einem abweichenden rechtlichen Ansatz.
Auf der Grundlage des Senatsbeschlusses vom 28. August 1987 würde das Rechtsschutzbedürfnis allenfalls dann fehlen, wenn die nach dem Bebauungsplan zulässigen, aber noch nicht verwirklichten Vorhaben unabhängig von der Gültigkeit des Plans zugelassen werden müßten, ohne von den Antragstellern abgewehrt werden zu können. Das Normenkontrollgericht hat indes keine Feststellungen getroffen, die den Schluß zulassen, daß die Eislaufanlage und die Schwimmbecken auch bei Anwendung des § 34 oder des § 35 BauGB nicht am Widerstand der Antragsteller scheitern würden.
Der Diskussion wert mag sein, ob das Rechtsschutzinteresse der Antragsteller so weit reicht, daß der Bebauungsplan insgesamt für nichtig erklärt wird, oder sich darauf beschränkt, daß die noch nicht verwirklichten Festsetzungen zum Gegenstand der Normenkontrolle gemacht werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Juni 1991 – BVerwG 4 NB 35.89 – BVerwGE 88, 268, und vom 25. Februar 1997 – BVerwG 4 NB 30.96 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 116). Selbst wenn die Antragsteller mit ihrem Antrag über das von ihnen erreichbare Ziel hinausgeschossen wären, ließe sich hieraus indes nicht ableiten, daß ihnen jegliches Rechtsschutzbedürfnis abzuerkennen ist.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 3 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG (20 000 DM je Grundstück der Antragsteller).
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Halama
Fundstellen