Entscheidungsstichwort (Thema)
Deutscher Volkszugehöriger. Ausschluss vom Erwerb des Spätaussiedlerstatus bei Bedeutsamkeit für das kommunistische Herrschaftssystem. Einbeziehung in Aufnahmebescheid eines Angehörigen trotz Statusausschluss nach § 5 BVFG. Härtefall, verfahrensbedingter
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Statusausschlussvorschrift des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG (wie Urteil vom 29. März 2001 – BVerwG 5 C 17.00 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt).
2. § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG steht einer Einbeziehung in den Aufnahmebescheid eines Angehörigen gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG nicht entgegen.
3. „Verfahrensbedingter” Härtefall nach § 27 Abs. 2 BVFG.
Normenkette
BVFG 2000 § 5 Nr. 2 Buchst. b, § 27
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 24.05.2000; Aktenzeichen 2 A 3411/99) |
VG Köln (Entscheidung vom 21.06.1999; Aktenzeichen 19 K 5589/94) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 2000 wird in Bezug auf den Kläger – unter Abweisung seiner Klage im Übrigen – dahin abgeändert, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger in den Aufnahmebescheid seines Vaters einzubeziehen.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Tatbestand
I.
Die Kläger begehren die Aufnahme als Spätaussiedler bzw. die Einbeziehung in einen Aufnahmebescheid.
Der Kläger wurde am 29. Dezember 1942 in Wosnesenko im Kreis Makinsk in Kasachstan geboren. Seine Eltern sind der deutsche Volkszugehörige Josef Ditrich, der mit einem im April 1992 beantragten Aufnahmebescheid vom 2. Dezember 1993 im April 1994 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt ist, und die deutsche bereits im Jahre 1958 verstorbene Volkszugehörige Berta Ditrich. Die seit dem Jahre 1966 mit dem Kläger verheiratete Klägerin ist russische Volkszugehörige.
Den am 17. Februar 1993 gestellten Antrag auf Aufnahme in das Bundesgebiet lehnte das Bundesverwaltungsamt mit Bescheid vom 16. September 1993 ab, weil der Kläger wegen seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Kreissowjets und als 1. Sekretär der KPdSU im Kreis Makinsk den Ausschlussgrund nach § 5 BVFG erfülle, so dass auch die Klägerin, die russische Volkszugehörige sei, nicht in einen Bescheid des Klägers einbezogen werden könne. Der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht dagegen hat die Klage abgewiesen, und zwar im Wesentlichen aus folgenden Gründen:
Dem Anspruch des Klägers auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG stehe § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG entgegen. Diese Vorschrift sei mangels Überleitungsvorschriften des Haushaltssanierungsgesetzes das nach den materiellrechtlichen Vorschriften des Bundesvertriebenengesetzes im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung anzuwendende Recht zur Beurteilung des von den Klägern geltend gemachten Aufnahmeanspruchs. Es könne dahingestellt bleiben, ob bereits die Position als Sowchosdirektor, die der Kläger von 1975 bis 1983 innegehabt habe, die Voraussetzungen des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG erfülle. Denn jedenfalls die von dem Kläger 1983 bis 1990 innegehabten Stellungen als Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Kreises Jermentau, als Vorsitzender des Exekutivkomitees des Sowjets des Kreises Jermentau und als Erster Sekretär der kommunistischen Partei des Kreises Makinsk seien Funktionen im Sinne dieser Bestimmung, die den Erwerb der Rechtsstellung als Spätaussiedler ausschlössen. Grund für den Ausschluss sei, dass Aufnahmebewerber sich dadurch in einer Weise in dieses System eingefügt und ihm gedient hätten, dass davon auszugehen sei, dass sie jedenfalls gegen die deutsche Minderheit gerichteten Maßnahmen im Aussiedlungsgebiet nicht (mehr) unterlegen seien und deshalb eine Aufnahme als Spätaussiedler nicht geboten sei. Der Kläger sei in der Zeit ab Januar 1988 bis August 1990 Erster Sekretär der KPdSU des Kreises Makinsk gewesen. Damit habe er die höchste Führungsposition in diesem Kreis innegehabt, da die Partei der Verwaltung des Kreises gegenüber weisungsbefugt gewesen sei. Diese Position sei in besonderem Maße für die Aufrechterhaltung und Fortführung des kommunistischen Herrschaftssystems bedeutsam gewesen. Dies gelte jedoch nur für die Zeit von Januar 1988 bis zum 7. Februar 1990, denn in der ehemaligen Sowjetunion habe das kommunistische System jedenfalls nicht mehr nach dem 7. Februar 1990 bestanden. Aber auch in der Zeit davor, nämlich mindestens seit Januar 1983, habe der Kläger eine Funktion im Sinne des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG ausgeübt. Eine Funktion sei auch dann als für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam geltend anzusehen, wenn sie in der Regel an die Mitgliedschaft des Funktionsträgers in der KPdSU gebunden gewesen sei. Sowohl für die Stellung als Leiter der Landwirtschaftsabteilung, der die Sowchosen des Kreises unterstanden hätten und die das wichtigste Verwaltungsressort in den ländlichen Gebieten gewesen sei, als auch für die Stellung als Vorsitzender des Exekutivkomitees des Sowjets des Kreises Jermentau, also als höchster Verwaltungsbeamter des Kreises, sei die Parteimitgliedschaft erforderlich gewesen. Der Kläger selbst sei auch seit langer Zeit Parteimitglied gewesen.
Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Einbeziehung in den Aufnahmebescheid seines Vaters gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG, weil der Vater des Klägers als Bezugsperson das Aussiedlungsgebiet bereits im April 1994 endgültig verlassen habe. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG sei aber nur auf Ehegatten und Abkömmlinge von Personen im Sinne des Satzes 1 anwendbar, also auf Personen, die ihren Wohnsitz noch in den Aussiedlungsgebieten gehabt hätten. Schließlich komme auch eine nachträgliche Einbeziehung als Härtefall gemäß § 27 Abs. 2 BVFG nicht in Betracht. Der Kläger habe hierzu lediglich auf das erhebliche Alter seines Vaters bei der Ausreise verwiesen. Darüber hinaus sei nichts dafür vorgetragen und es sei auch sonst nicht ersichtlich, weshalb es dem Vater des Klägers nicht möglich gewesen sei, die Erteilung des Einbeziehungsbescheids an seinen Sohn in Kasachstan abzuwarten. Allein die Tatsache, dass der Vater des Klägers bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland fast 82 Jahre gewesen sei, sei für sich nicht geeignet, eine besondere Härte zu begründen.
Da dem Kläger ein Aufnahmebescheid nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG nicht erteilt werden könne, scheide die allein in Betracht kommende Einbeziehung der Klägerin in den Bescheid ihres Ehegatten gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG aus.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren weiter: Die neu geschaffene Vorschrift des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG könne zu einer unechten Rückwirkung führen. Ein derartiges Gesetz sei zwar grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könne jedoch der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes je nach Lage der Verhältnisse im Einzelfall Schranken setzen. Die Kläger hätten bereits im Jahre 1993 ihre Aufnahmeanträge gestellt. Auch hätten sie in erster Instanz obsiegt. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs hätten durch die Neuregelung des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG Ausgaben für Bund, Länder und Gemeinden in nicht bestimmbarer Höhe im Zusammenhang mit Aufnahme und Eingliederung von Spätaussiedlern vermieden werden sollen. Bei dieser Rechtslage sei dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes der Kläger bei der erforderlichen Abwägung mehr Gewicht zuzubilligen als der in die Zukunft gerichteten Vermeidung von Mehrausgaben. Der Kläger habe bis zur Rechtsänderung die Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts: Die von den Klägern behauptete unechte Rückwirkung liege nicht vor. Eine solche habe sich nicht aus § 5 Nr. 1 Buchstabe d BVFG a.F. ergeben, denn diese Vorschrift habe keinen Status begründet. Vielmehr habe sie bei Vorliegen der Voraussetzungen den betroffenen Personenkreis gerade vom Statuserwerb ausgeschlossen. Darüber hinaus erfolge aus dem Nichtvorliegen des Ausschlusstatbestands auch nicht automatisch die Aufnahme bzw. der Erwerb des Spätaussiedlerstatus. Es müssten in jedem Fall die materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 6 BVFG gegeben sein. Zusätzlich seien das Verlassen des Herkunftsgebietes im Wege des Aufnahmeverfahrens, die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und die Aufnahme aufgrund eines Aufnahmebescheides erforderlich gewesen. Weil erhebliche Zweifel bestanden hätten, ob den Klägern nach altem Recht ein Aufnahmebescheid zu erteilen gewesen wäre, könnten sie sich nicht darauf berufen, dass bereits eine geschützte bzw. zu schützende Rechtsposition entstanden sei. Gründe, aus denen den Klägern Vertrauensschutz zu gewähren wäre, weil ausnahmsweise das Vertrauen des Einzelnen in den Fortbestand der Rechtslage das Wohl der Allgemeinheit überwiege, seien nicht ersichtlich. Die Kläger übersähen, dass nicht nur § 5 BVFG geändert worden sei, sondern aufgrund der sinkenden Aufnahmezahlen auch eine Anpassung der Festschreibung der nach § 27 BVFG jährlich aufzunehmenden Spätaussiedler erfolgt sei und der in der amtlichen Begründung insoweit enthaltene Hinweis auf Einsparung sich klar erkennbar allein hierauf beziehe. Demgegenüber bestehe der Grund für die Änderung des Ausschlusstatbestands gerade darin, dass nunmehr an das fehlende Kriegsfolgenschicksal der Antragsteller angeknüpft werde und nicht mehr die „Unwürdigkeit” maßgebend sein solle.
Der Oberbundesanwalt trägt vor:
Zwar hätten die Kläger den Aufnahmeantrag bereits im Februar 1993 gestellt, das Bundesvertriebenengesetz sei aber dennoch in seiner neuen Fassung anzuwenden, denn ein Verpflichtungsbegehren könne nur Erfolg haben, wenn im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Erlass des erstrebten Verwaltungsakts bestehe. Nach der zutreffenden Würdigung des Berufungsgerichts habe der Kläger eine dem § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG entsprechende Funktion ausgefüllt. Das ergebe sich auch aus der Begründung des Regierungsentwurfs zum Haushaltssanierungsgesetz vom 17. September 1999, in der die Funktion eines Berufsfunktionärs beispielhaft als solche aufgeführt sei, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems als bedeutsam gegolten habe. Zutreffend habe das Berufungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des mit dem Haushaltssanierungsgesetz ohne Überleitungsvorschrift ergangenen § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG nicht in Frage gestellt. Es fehle bereits an einer geschützten Rechtsposition der Antragsteller, in die die Regelung hätte eingreifen können, da der Rechtsstatus als Spätaussiedler erst mit dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets entstehe. Auch gebe es keinen Vertrauensschutz dahin, dass der Gesetzgeber die außer dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets erforderlichen Voraussetzungen für den Erwerb des Status nach dem Bundesvertriebenengesetz nicht für die Zukunft modifiziere. Schließlich führe auch die nach Auffassung der Revisionskläger unzumutbar lange Verfahrensdauer nicht zu einer Verpflichtung des Gesetzgebers, eine Übergangsregelung zu erlassen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers hat teilweise Erfolg. Die Revision der Klägerin dagegen ist unbegründet, so dass sie zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht entschieden, dass dem Kläger kein Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nach den §§ 26, 27 Abs. 1 Satz 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993 (BGBl I S. 829), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts (Haushaltssanierungsgesetz – HSanG –) vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2543) zusteht.
Zu Recht hat das Berufungsgericht dem Aufnahmeanspruch des Klägers die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Regelung des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG i.d.F. des Art. 6 Nr. 1 Buchstabe b HSanG entgegen gehalten. Diese Vorschrift gilt in Ermangelung gesetzlicher Überleitungsvorschriften auch für noch nicht abgeschlossene Aufnahmeverfahren (vgl. BVerwGE 99, 133 ≪135 ff.≫).
Nach § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG n.F. erwirbt den Status des Spätaussiedlers nicht, wer in den Aussiedlungsgebieten eine Funktion ausgeübt hat, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt oder aufgrund der Umstände des Einzelfalls war. Die Vorschrift knüpft an das fehlende Kriegsfolgeschicksal des Antragstellers an (BTDrucks 14/1523, S. 172; 14/1636, S. 175). § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG macht dies jedoch – ebenso wie seine Vorgängervorschrift § 5 Nr. 1 Buchstabe d BVFG a.F. – nicht an dem Erreichen einer bestimmten beruflichen Stellung und der hiermit verbundenen wirtschaftlichen Privilegierung in der Gesellschaft des Herkunftslandes fest. Das Gesetz billigt damit dem deutschen Volkszugehörigen nach wie vor zu, nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch eine herausgehobene berufliche Stellung zu erreichen, und zwar auch innerhalb der Staatsverwaltung, der Armee und der staatlich gelenkten Wirtschaftsverwaltung in der früheren Sowjetunion (vgl. BVerwGE 108, 340 ≪343 f.≫ zur Vorgängervorschrift). § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG geht vielmehr davon aus, dass das für deutsche Volkszugehörige sonst (möglicherweise) bestehende Kriegsfolgenschicksal nicht mehr fortbestand, wenn der deutsche Volkszugehörige im Aussiedlungsgebiet eine Funktion ausgeübt hat, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt, weil er damit den Schutz dieses Systems genoss.
Nicht verkannt wird, dass auch diese Gruppe deutscher Volkszugehöriger nach dem Ende ihrer Funktionsausübung und insbesondere nach dem Untergang des kommunistischen Herrschaftssystems gegebenenfalls mit Nachteilen wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit rechnen muss. Das für die Rechtsstellung als Spätaussiedler nach § 4 BVFG maßgebliche Kriegsfolgenschicksal knüpft aber nicht nur an die Benachteiligung als deutscher Volkszugehöriger oder deren Nachwirkungen an, sondern setzt weiter einen örtlichen und zeitlichen Bezug, den ständigen Aufenthalt bzw. Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet seit den in § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BVFG genannten Stichtagen, voraus. Damit stellt § 4 BVFG für die Rechtsstellung als Spätaussiedler mit den sich daraus ergebenden Rechten wesentlich auf eine in den Aussiedlungsgebieten entstandene und fortdauernde Gefahrenlage ab. Fehlt sie, z.B. bei späterer Einreise in das Aussiedlungsgebiet, z.B. zur Heirat, oder ist sie unterbrochen, z.B. bei Aus- und späterer Wiedereinreise, so sind spätere Benachteiligungen aufgrund deutscher Volkszugehörigkeit kein die Rechtsstellung als Spätaussiedler nach § 4 BVFG begründendes Kriegsfolgenschicksal. Entsprechend betrifft auch der Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG einen Fall, in dem die ursprünglich für den deutschen Volkszugehörigen bestehende Gefahrenlage entfallen ist. Das Gesetz geht davon aus, dass derjenige, der in den Aussiedlungsgebieten eine Funktion ausgeübt hat, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt, den Schutz dieses Systems genoss, für ihn also die für Volksdeutsche sonst bestehende Gefahrenlage nicht fortbestand. Wenn dieser Volksdeutsche dann später doch Benachteiligungen unterliegen sollte, z.B. nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Volksdeutscher in einer dann selbständigen Republik der ehemaligen Sowjetunion, so ist doch die ursprüngliche für die Rechtsstellung als Spätaussiedler maßgebliche Gefahrenlage unterbrochen gewesen und vermag eine neu entstehende Gefahrenlage nicht mehr die Rechtsstellung als Spätaussiedler zu begründen.
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sich die Frage, welche Funktionen i.S. des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG gewöhnlich als bedeutsam galten, nach den zur Zeit des kommunistischen Herrschaftssystems herrschenden politischen und rechtlichen Auffassungen im Aussiedlungsgebiet beantwortet. Diese waren – wie der Senat bereits zur Vorgängervorschrift hervorgehoben hat (BVerwGE 108, 340 ≪345 f.≫) – in der früheren Sowjetunion geprägt durch die führende Rolle, die der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) in Staat und Gesellschaft zukam. Art. 6 Abs. 1 S. 1 der sowjetischen Verfassung vom 7. Oktober 1977 bezeichnete die KPdSU als die „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft” und den „Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen”. Dem entsprach auch die Verfassungswirklichkeit und die politische Doktrin in der Sowjetunion (vgl. Meissner, in: Handbuch der Sowjetverfassung, redigiert von Martin Fincke, 2. Aufl. 1983, Art. 6 Rn. 8 ff.). Folgerichtig war die KPdSU auch auf allen territorialen Ebenen der Unionsrepubliken (vgl. Art. 79, 145 Sowjetverfassung 1977) bis hinunter zu den Rayons und den ländlichen Ortschaften, Siedlungen, Stadtbezirken und Kleinstädten mit Parteikomitees, Büros und Sekretariaten vertreten, um ihren Führungsanspruch bis auf die unterste staatliche Ebene hinab zur Geltung zu bringen. Zur Durchsetzung ihrer führenden Rolle hatte sich die Partei einen mit hauptamtlich tätigen Funktionären besetzten Apparat geschaffen, der zusammen mit den Parteiorganen das Herzstück des kommunistischen Herrschaftssystems bildete (vgl. Voslensky, Nomenklatura, 3. Aufl. 1987, S. 171 f.). Zu Recht ist deshalb das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass hauptamtlich tätige Parteifunktionäre der KPdSU eine Funktion ausgeübt haben, die in der ehemaligen Sowjetunion für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt im Sinne des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG.
Eine solche Funktion hat der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts innegehabt. Er wurde 1975 zum Direktor eines Sowchos im Kreis Makinsk bestellt. Diese Tätigkeit übte er bis Januar 1983 aus, als er zum Leiter der Landwirtschaftsabteilung der Verwaltung des Kreises Jermentau ernannt wurde. Im Januar 1985 wurde er zum Vorsitzenden der Exekutive des Kreissowjets der Volksdeputierten des Kreises Jermentau gewählt. Dieses Amt nahm er bis Januar 1988 wahr, als er zum Ersten Sekretär des Kreisparteikomitees der kommunistischen Partei des Kreises Makinsk ernannt wurde. Im Januar 1990 wurde er zusätzlich zum Vorsitzenden des Kreissowjets der Volksdeputierten des Kreises Makinsk gewählt und im Mai 1990 außerdem zum Vorsitzenden der Exekutive des Kreissowjets der Volksdeputierten des Kreises Makinsk bestimmt. Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG aufgrund der Tätigkeiten des Klägers als Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Kreises Jermentau, als Vorsitzender des Exekutivkomitees des Sowjets des Kreises Jermentau und als Erster Sekretär der kommunistischen Partei des Kreises Makinsk als erfüllt angesehen. Es kann dahingestellt bleiben, ob all diese Funktionen zur Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galten, wofür angesichts der Verwaltungsleitungsfunktionen vieles spricht. Denn jedenfalls die Funktion des Klägers als Erster Sekretär der kommunistischen Partei des Kreises Makinsk erfüllt unzweifelhaft den Tatbestand des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG, denn als Erster Sekretär hatte der Kläger zumindest auf Kreisebene eine umfangreiche Machtposition und Einflussmöglichkeit (vgl. auch das Gutachten Lippott, Institut für Ostrecht, S. 5 oben). Zum Machterhalt der KPdSU war es erforderlich, ihren Führungsanspruch auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft sicherzustellen. Deshalb entsprach auch der Aufbau der KPdSU dem der staatlichen und quasistaatlichen Organisationen, so dass es keine Rolle spielt, ob der Position des Klägers auch auf den Gesamtstaat der UdSSR gesehen entsprechende Bedeutung zukam.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht dagegen einen – angesichts der uneingeschränkten Zulassung und Einlegung der Revision noch anhängigen – Anspruch des Klägers auf Einbeziehung in den Aufnahmebescheid seines Vaters verneint. § 5 BVFG steht dem nicht entgegen. In § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ist nicht vorgeschrieben, dass die den Ausschluss vom Erwerb des Spätaussiedlerstatus regelnde Vorschrift des § 5 BVFG entsprechend anzuwenden sei und deshalb bei Vorliegen eines der dort genannten Ausschlusstatbestände in der Person des Ehegatten oder Abkömmlings auch deren Einbeziehung in den der jeweiligen Bezugsperson erteilten Aufnahmebescheid hindere. Vielmehr ist eine sinngemäße Anwendung des § 5 BVFG lediglich in § 7 Abs. 2 Satz 2 BVFG angeordnet. Diese Vorschrift schließt „Ehegatten und die Abkömmlinge des Spätaussiedlers, die die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 oder 2 nicht erfüllen, aber die Aussiedlungsgebiete im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen haben”, aber nur von den in § 7 Abs. 2 Satz 1 BVFG vorgesehenen Rechten und Vergünstigungen aus, wenn in ihrer Person einer der in § 5 BVFG angeführten Tatbestände gegeben ist. Diese Regelung würde eines Sinnes entbehren, wenn bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 BVFG in der Person des Ehegatten oder Abkömmlings bereits eine Einbeziehung in den Aufnahmebescheid der jeweiligen Bezugsperson ausgeschlossen wäre. Sie könnten dann nämlich schon nicht – wie § 7 Abs. 2 Satz 1 BVFG verlangt – die Aussiedlungsgebiete „im Wege des Aufnahmeverfahrens” verlassen haben, was bei Ehegatten und Abkömmlingen, die die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 oder 2 BVFG nicht erfüllen, nur durch Einbeziehung in den Aufnahmebescheid der jeweiligen Bezugsperson geschehen kann. § 7 Abs. 2 BVFG geht somit gerade davon aus, dass eine Einbeziehung des Ehegatten oder Abkömmlings in den Aufnahmebescheid der jeweiligen Bezugsperson nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass in ihrer Person ein Ausschlusstatbestand im Sinne des § 5 BVFG gegeben ist (so bereits Beschluss vom 18. Februar 2000 – BVerwG 5 B 216.99 –).
Dem Berufungsgericht ist freilich im Ausgangspunkt darin beizupflichten, dass die volksdeutsche Bezugsperson, in deren Aufnahmebescheid der Abkömmling einbezogen werden will, bei Einbeziehung des Abkömmlings in den Aufnahmebescheid noch ihren Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten haben muss, diese also noch nicht unter Aufgabe ihres Wohnsitzes verlassen haben darf. Diese Voraussetzung ist nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Der Vater des Klägers hat das Aussiedlungsgebiet im April 1994 verlassen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger aber einen Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung als Härtefall gemäß § 27 Abs. 2 BVFG. Hier liegt eine verfahrensbedingte Härte darin, dass der Kläger, der seine Aufnahme in das Bundesgebiet am 17. Februar 1993 beantragt hatte, noch bis zur Ausreise seines Vaters im April 1994 nach § 27 Abs. 1 BVFG in dessen Aufnahmebescheid hätte einbezogen werden können, dass dies aber nicht geschehen ist. Der Kläger hat mit Antrag vom 17. Februar 1993 seine Aufnahme in das Bundesgebiet begehrt. Dieser Aufnahmeantrag ist primär dahin zu verstehen, dass der Kläger seine Aufnahme aus eigenem Recht nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG begehrt. Der Antrag enthält aber zugleich auch für den Fall, dass die Aufnahme aus eigenem Recht nicht gewährt wird, hilfsweise als ein Weniger den Antrag auf Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Ehegatten oder eines Elternteils nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG, soweit ein solcher beantragt oder erteilt ist. Das sieht auch die Beklagte so und verfährt – wie dem Senat aus der Einlassung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung eines früheren Verfahrens vom 19. Oktober 2000 bekannt ist – in ihrer Verwaltungspraxis bereits seit wenigen Monaten der Umstellung auf die seit Anfang 1993 geltende Rechtslage dahin gehend, dass bei Aufnahmeanträgen aus eigenem Recht jeweils auch geprüft wird, ob eine Einbeziehung in einen beantragten oder erteilten Aufnahmebescheid des Ehegatten oder eines Elternteils möglich ist. Dieser Verwaltungspraxis und dem Gebot der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) entsprechend wäre es von der Antragstellung des Klägers im Februar 1993 bis zur Ausreise seines Vaters im April 1994 möglich gewesen, den Kläger in dessen Aufnahmebescheid vom 2. Dezember 1993 einzubeziehen. Eine möglicherweise abweichende Namensschreibung in den Anträgen des Klägers und seines Vaters hätte die der Verwaltungspraxis des Beklagten sonst entsprechende Zusammenführung ihrer Anträge angesichts der weiteren persönlichen Daten nicht gehindert. Vielmehr umfassen die Angaben des Klägers zur Person des Vaters in seinem Aufnahmeantrag die Seiten 8, 9 und 10. Nimmt man hinzu, dass es bei dem Alter des Vaters – fast 82 Jahre im Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland – diesem nicht zumutbar war, weiter im Aussiedlungsgebiet (bis zur Einbeziehung seines Sohnes in den Aufnahmebescheid) zu warten, dann ist ein Härtefall im Sinne von § 27 Abs. 2 BVFG zu bejahen.
Da gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG eine Einbeziehung der Klägerin nur in einen – hier nicht in Betracht kommenden – Aufnahmebescheid ihres Ehemanns nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG möglich wäre, muss ihre Revision zurückgewiesen werden.
Die Kosten des Verfahrens werden gemäß § 155 Abs. 1 VwGO gegeneinander aufgehoben.
Unterschriften
Dr. Säcker, Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Franke, Dr. Jannasch
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 12.04.2001 durch Stoffenberger Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
DÖV 2002, 440 |
DVBl. 2001, 1527 |