Entscheidungsstichwort (Thema)
Klagebefugnis. Alarmreserve. Ausplanung. Begründung. Einberufungsbescheid. Ermessen. Personalbedarfsplanung
Leitsatz (amtlich)
Der Widerruf einer Einberufung zur Alarmreserve bedarf nicht der Mitteilung schriftlicher Gründe.
Die Ermessensbetätigung beim Widerruf eines Einberufungsbescheides unterliegt im Hinblick auf die Möglichkeit einer willkürlichen Benachteiligung des Wehrpflichtigen der gerichtlichen Überprüfung.
Normenkette
WPflG §§ 4, 21, 23, 48; VwVfG §§ 39-40, 49; VwGO § 42
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Urteil vom 15.05.2002; Aktenzeichen 1 E 629/01(3)) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2002 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Der Kläger ist Major der Reserve. Mit Einberufungsbescheid vom 3. Mai 1999 war er für den Verteidigungsfall zum …-…bataillon … beordert worden. Das Kreiswehrersatzamt D. widerrief mit Formular-Verfügung vom 9. Oktober 2000 diesen Einberufungsbescheid; eine Begründung enthielt der Bescheid nicht. Den dagegen mit Schreiben vom 19. Oktober 2000 erhobenen Widerspruch wies die Wehrbereichsverwaltung IV mit Bescheid vom 20. Februar 2001 mit der Begründung zurück, es fehle am Rechtsschutzinteresse, denn die allgemeine Wehrpflicht enthalte kein subjektives öffentliches Recht des Einzelnen auf Zulassung zum Wehrdienst.
Zur Begründung seiner daraufhin erhobenen Klage hat der Kläger ausgeführt, als Major der Reserve leiste er regelmäßig Wehrübungen ab. Am 20. Juli 2000 habe er im Rahmen einer solchen Wehrübung den Auftrag gehabt, einen Staatsakt der Bundesrepublik Deutschland zum Gedenken an das Attentat auf Hitler im Hinblick auf potenzielle Störer zu bewachen. Dabei sei er in einen Disput mit dem Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Opfer der NS-Militärjustiz über die rechtliche Einordnung von Wehrmachtsdeserteuren geraten. Jener habe daraufhin gegen ihn Dienstaufsichtsbeschwerde bei dem Bundesminister der Verteidigung erhoben. Zwar sei es zu keiner disziplinarischen Untersuchung des Vorgangs gekommen. Der Staatssekretär habe aber angeordnet, ihn auszuplanen und künftig auch nicht mehr zu Wehrübungen einzuberufen. Die Maßnahme des Kreiswehrersatzamtes widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Aufhebung des Alarmeinberufungsbescheides stelle sich unter den konkreten Umständen als belastender Verwaltungsakt dar, denn sie habe maßregelnden Charakter. Er werde durch die Entlassung aus der Alarmreserve von der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten ausgeschlossen.
Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Verfügung des Kreiswehrersatzamtes D. vom 9. Oktober 2000 und den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung IV vom 20. Februar 2001 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig; insbesondere sei der Kläger klagebefugt, weil ihm die Erfüllung einer für die eigene Person als bedeutsam erachteten staatsbürgerlichen Pflicht verwehrt werde. Die Klage sei auch begründet. Ein Recht des Wehrpflichtigen auf Heranziehung zum Wehrdienst gebe es zwar ebenso wenig wie einen Anspruch auf Beorderung für den Verteidigungsfall. Dies entziehe jedoch nicht sämtliche behördlichen Maßnahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle, die im Zusammenhang mit dem Ausschluss eines Wehrpflichtigen von der Wehrpflicht stünden. Die streitgegenständliche Verfügung des Kreiswehrersatzamtes sei deswegen fehlerhaft, weil es ihr entgegen § 39 Abs. 1 VwVfG an jeglicher Begründung fehle. Besondere wehrrechtliche Regelungen (§ 23 Abs. 1 Satz 4, § 21 Abs. 1 Satz 2 WPflG, § 17, § 13 Abs. 4 MustV) räumten die Begründungspflicht nicht aus, weil diese nur für Gründe des militärischen Bedarfs, nicht aber dann gälten, wenn augenscheinlich personalplanerische Erwägungen im Sinne einer Bedarfsdeckung beim Widerruf des Einberufungsbescheides nicht maßgeblich gewesen seien. Daher sei auf die den konkreten Einzelfall prägenden Umstände abzustellen. Der Kläger sei aber in der Folge einer gegen ihn im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit erhobenen Dienstaufsichtsbeschwerde ausgeplant worden. Um der Gefahr einer willkürlichen Entscheidung zu begegnen, bedürfe es daher einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den erhobenen Vorwürfen, deren Ergebnis in der Begründung der Widerrufsverfügung darzustellen sei.
Zur Begründung ihrer Revision bringt die Beklagte vor: Die Klage sei bereits unzulässig. Der Widerruf der Einberufung zur sog. Alarmreserve entfalte weder Statuswirkung, noch schließe er die Möglichkeit aus, dass der Kläger im Bedarfsfall im Rahmen seiner Verfügbarkeit (§ 23 WPflG) zum Wehrdienst herangezogen würde. Es handele sich also lediglich um die Aufhebung eines belastenden Verwaltungsaktes mit keinen anderen Rechtswirkungen als dem Wegfall dieser Belastung ohne rechtlich erhebliche Fortwirkungen. Im Übrigen sei der Widerruf rechtmäßig. Der Verwaltungsakt habe keiner Begründung bedurft. Dies folge aus § 39 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG; aus den Einberufungsvorschriften des Wehrpflichtgesetzes ergebe sich, dass es zur Konkretisierung der Gestellungspflicht ausreiche, Ort und Zeit des Dienstantritts sowie seine Dauer zu bestimmen. Dementsprechend könne für den Widerruf eines solchen Bescheides nichts anderes gelten.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils. Der Einberufungsbescheid möge keiner Begründung bedürfen. Für seinen Widerruf sei dies anders zu beurteilen. Der Widerrufsgrund ergebe sich im Unterschied zur Einberufung nicht aus einer Rechtsvorschrift. Im streitgegenständlichen Fall seien es keine Gründe des öffentlichen Wohls gewesen, welche zum Widerruf des Einberufungsbescheides geführt hätten.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die zulässige Revision ist begründet. Das erstinstanzliche Urteil hat die Klage zwar zu Recht als zulässig (a), aber unter Verstoß gegen Bundesrecht auch als begründet (b) angesehen. Das erstinstanzliche Urteil ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
a) Das Begehren des Klägers ist in der Form der Anfechtungsklage (aa) statthaft; er ist dafür klagebefugt (bb) und hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis (cc).
aa) Für das Begehren des Klägers ist die Anfechtungsklage die richtige Klageart (§ 42 Abs. 1 VwGO). Der Kläger erstrebt mit seiner Klage die Wiederherstellung des Bescheides vom 3. Mai 1999, mit dem er „für den Verteidigungsfall” zum …bataillon … „beordert” wurde. Dabei handelte es sich um eine bedingte Einberufung für den Verteidigungsfall nach § 4 Abs. 1 Nr. 4, § 48 Abs. 2 WPflG. Dieser Einberufungsbescheid ist durch den weiteren Bescheid vom 9. Oktober 2000, dessen Aufhebung der Kläger im vorliegenden Verfahren beantragt hat, widerrufen worden.
bb) Der Kläger ist auch klagebefugt, denn er macht eine mögliche Verletzung eigener Rechte geltend (§ 42 Abs. 2 VwGO).
Solches folgt allerdings nicht, wie das Verwaltungsgericht meint, bereits aus den Gründen, aus denen nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts die Zulässigkeit einer Klage gegen einen Ausmusterungsbescheid zu bejahen ist. Dieser Bescheid spricht dem betroffenen Wehrpflichtigen durch die Feststellung, er sei nicht wehrdienstfähig, die Verfügbarkeit für den Wehrdienst und damit von vornherein jede Möglichkeit und Aussicht ab, die Erfüllung der im Wehrdienst liegenden staatsbürgerlichen Pflicht zur eigenen persönlichen Aufgabe zu machen. Hierin kann wegen der Bedeutung dieser staatsbürgerlichen „Pflicht aller männlichen Staatsbürger …, für den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Rechtsgütern der Gemeinschaft, deren Träger sie selbst sind, einzutreten” (BVerfG, Urteil vom 13. April 1978 – 2 BvF 1/77, 2/77, 4/77 und 5/77, DVBl 1978, 394), eine die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO begründende Verletzung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des betroffenen Wehrpflichtigen (Art. 2 Abs. 1 GG) liegen (vgl. Urteil vom 25. April 1979 – BVerwG 8 C 52.77 – BVerwGE 58, 37 ≪40 f.≫). Um einen vergleichbaren Fall geht es hier nicht. Durch den angefochtenen Bescheid vom 9. Oktober 2000 ist der Kläger aus der sog. Alarmreserve entlassen und von der Verpflichtung befreit worden, sich im Verteidigungsfall bei einer bestimmten militärischen Dienststelle zum Wehrdienst einzufinden. Dagegen ist seine Zugehörigkeit zur allgemeinen Reserve und die damit verbundene Möglichkeit, dass er ebenso wie jeder andere Wehrpflichtige aufgrund seiner verfassungsrechtlich begründeten Wehrpflicht im Bedarfs- oder Verteidigungsfall erneut zum Wehrdienst einberufen wird, unberührt geblieben. Hinzu kommt, dass sich die Behörde in dem Bescheid vom 9. Oktober 2000 eine nochmalige „Mob-Beorderung” des Klägers ausdrücklich vorbehalten hat.
Die Klagebefugnis des Klägers lässt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, er wende sich mit seiner Klage gegen die Aufhebung eines ihn begünstigenden Verwaltungsakts. Zwar mag der Kläger seine frühere Zugehörigkeit zur Alarmreserve als Begünstigung empfinden. Jedoch enthält der aufgehobene Einberufungsbescheid vom 3. Mai 1999, wie sich bereits aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt, nach seinem insoweit allein maßgebenden Regelungsgehalt lediglich die Verpflichtung des Klägers, im Verteidigungsfall bei einer bestimmten Dienststelle Wehrdienst zu leisten, und damit keine Begünstigung, sondern eine Belastung des Klägers. Die Verpflichtung wurde ihm – was für die Einberufung von Wehrpflichtigen zum Wehrdienst allgemein gilt (vgl. Urteil vom 22. Februar 1985 – BVerwG 8 C 25.84 – BVerwGE 71, 63 ≪66≫; Urteil vom 12. Februar 1988 – BVerwG 8 C 22.86 – BVerwGE 79, 68 ≪71≫; Urteil vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 20.92 – BVerwGE 92, 153 ≪157≫) – nicht in seinem eigenen Interesse, sondern im öffentlichen Interesse an einer optimalen, an der Eignung der Wehrpflichtigen ausgerichteten Personalbedarfsdeckung der Bundeswehr auferlegt. Ein Recht des Klägers oder ein rechtlich erheblicher Vorteil im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG wurde hierdurch nicht begründet.
Zur Bejahung der Klagebefugnis führen jedoch die besonderen Umstände, die nach den im erstinstanzlichen Verfahren vom Kläger überreichten Unterlagen und den darauf beruhenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht ohne Einfluss auf den Erlass des angefochtenen Widerrufsbescheides waren. Sie werfen die Frage nach den äußersten Grenzen des gerichtlich im Interesse der Wehrpflichtigen nicht überprüfbaren Auswahl- und Organisationsermessen der Wehrersatzbehörden auf. Dass solche Grenzen hier unter Verletzung von subjektiven Rechten des Klägers überschritten sein könnten, ist nicht eindeutig ausgeschlossen. Das reicht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 42 Abs. 2 VwGO aus.
cc) Aus den Umständen seiner Entlassung aus der Alarmreserve ergibt sich zugleich auch ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers. Der Kläger nimmt das Gericht nicht zu unnützen Zwecken in Anspruch; vielmehr ist es möglich, dass die erstrebte gerichtliche Aufhebung des Widerrufsbescheides ihm zumindest einen tatsächlichen – ideellen – Vorteil verschafft.
b) Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Kläger wird durch den Widerrufsbescheid vom 9. Oktober 2000 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
aa) Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bedurfte der Bescheid vom 9. Oktober 2000 nicht im Interesse des von ihm in besonderer Weise betroffenen Klägers der Begründung.
Nach § 39 Abs. 1 VwVfG ist ein schriftlicher Verwaltungsakt schriftlich zu begründen. In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, welche die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Die Begründung von Ermessensentscheidungen, zu denen die hier angefochtene Entscheidung vom 9. Oktober 2000 zählt, soll auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Die Begründungspflicht gemäß § 39 Abs. 1 VwVfG gilt nach § 1 Abs. 1 VwVfG jedoch nicht, soweit das Fachrecht eine anderweitige Regelung trifft. In Wiederholung dieses Vorbehalts bestimmt § 39 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG, dass es einer Begründung nicht bedarf, wenn sich dies aus einer Rechtsvorschrift ergibt. Dazu ist nicht erforderlich, dass die Rechtsvorschrift die Begründungspflicht ausdrücklich ausschließt. Vielmehr reicht es – wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem bereits erwähnten Urteil vom 12. Februar 1988 – 8 C 22.86 – (a.a.O. S. 72) dargelegt hat – aus, dass sich der Ausschluss der Begründungspflicht aus Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt. In dem soeben genannten Urteil vom 12. Februar 1998 hat das Bundesverwaltungsgericht weiter ausgeführt, dass ein solcher Ausschluss auch bei der Einberufung von Wehrpflichtigen zum Wehrdienst anzunehmen ist. Gediente Wehrpflichtige haben sich nach § 23 Abs. 1 Satz 5 WPflG „entsprechend dem Einberufungsbescheid zum Wehrdienst in der Bundeswehr zu stellen”. Zur Konkretisierung der Gestellungspflicht bedarf es der Angabe von Ort und Zeit des Dienstantritts im Einberufungsbescheid (vgl. auch § 21 Abs. 1 Satz 2 WPflG). Ergänzend bestimmt § 9 Halbsatz 1 WPflV – ähnlich wie entsprechende Vorschriften der außer Kraft getretenen Musterungsverordnung – dass weitere Angaben in den Einberufungsbescheid aufzunehmen sind. Letzteres gilt freilich nicht für die hier in Rede stehende Einberufung für den Verteidigungsfall (§ 9 Halbsatz 2 WPflV). Jedenfalls ergibt sich aus dem vorbezeichneten Regelwerk, dass in den Fällen, in denen eine den militärischen Bedarf an Soldaten übersteigende Anzahl von Wehrpflichtigen zur Verfügung steht, die von der Beklagten getroffene Auswahlentscheidung im Einberufungsbescheid weder mitzuteilen noch zu begründen ist. Das begegnet keinen rechtsstaatlichen Bedenken; denn das der Beklagten eingeräumte Auswahlermessen dient – wie dargelegt – allein dem öffentlichen Interesse und lässt private Interessen des Wehrpflichtigen unberührt (vgl. Urteil vom 12. Februar 1988 – BVerwG 8 C 22.86 – a.a.O. S. 72). Nach diesen Grundsätzen ist die Beklagte sowohl beim Erlass eines Einberufungsbescheides als auch – erst recht – bei dessen Aufhebung von der Pflicht zur Begründung der getroffenen Personalauswahl befreit.
Die genannten speziellen Bestimmungen des Wehrpflichtrechts lassen die Begründungspflicht ausnahmslos entfallen. Das einfache Gesetzesrecht verlangt daher eine Begründung auch dann nicht, wenn der jeweilige Sachverhalt durch besondere Umstände geprägt ist. Der Vergleich des Tatbestandes von § 39 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG mit der Regelung über die Begründung von gleichartigen, in größerer Zahl erlassenen Verwaltungsakten in § 39 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG, welche die Einzelfallwürdigung gebietet, bestätigt dieses Ergebnis auch rechtssystematisch. Lassen sich dem Akteninhalt, insbesondere dem Vortrag des Klägers, Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die hier zu beachtenden äußersten Grenzen des behördlichen Ermessens überschritten und dadurch subjektive Rechte des Klägers verletzt wurden, so haben die Verwaltungsgerichte dem auf der Grundlage des Untersuchungsgrundsatzes nachzugehen. Das Fehlen einer Begründung für die behördliche Entscheidung hindert sie daran nicht.
bb) Der Widerrufsbescheid vom 9. Oktober 2000 ist auch nicht auf die Klage des Klägers in der Sache zu beanstanden.
Da die Entscheidungen über die Einberufung von Wehrpflichtigen zum Wehrdienst, wie bereits in den vorangegangenen Ausführungen mehrfach festgestellt worden ist, ausschließlich im öffentlichen Interesse an einer optimalen Personalbedarfsdeckung der Bundeswehr ergehen und nicht zugleich auch den privaten Interessen der Wehrpflichtigen dienen, hat ein Wehrpflichtiger kein Recht auf Heranziehung zum Wehrdienst; ebenso wenig hat er einen Anspruch darauf, dass die Behörde das ihr in diesem Zusammenhang eingeräumte Auswahlermessen rechtmäßig ausübt (vgl. Urteil vom 25. April 1979 – BVerwG 8 C 52.77 – a.a.O. S. 40; Urteil vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 20.92 – a.a.O. S. 157 m.w.N.). Aus diesem Grund sind die diesbezüglichen Entscheidungen der Behörde in aller Regel nicht geeignet, den Wehrpflichtigen in seinen Rechten zu verletzen.
Andererseits braucht der Wehrpflichtige nicht jede Auswahlentscheidung der Behörde ohne die Möglichkeit der Gegenwehr hinzunehmen. Namentlich kann er verlangen, dass die Behörde über seine Heranziehung oder Nichtheranziehung zum Wehrdienst frei von Willkür, d.h. ohne die Absicht entscheidet, ihn in sachwidriger Weise zu benachteiligen. In einem derartigen Fall liegt nicht nur ein Missbrauch des der Behörde eingeräumten Ermessens und damit eine Verletzung von objektivem Recht, sondern darüber hinaus auch ein Übergriff in die verfassungsrechtlich geschützte Individualrechtssphäre des Wehrpflichtigen vor, die dieser abzuwehren berechtigt ist. Denn kein Bürger braucht im Rechtsstaat eine ihn gezielt benachteiligende Willkürentscheidung der Behörde zu dulden; vielmehr kann er unter Berufung auf das jeweils berührte Grundrecht die Aufhebung dieser Entscheidung oder ihrer benachteiligenden Wirkungen erreichen. Diesem Ansatz entsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in früheren Entscheidungen für den Fall einer willkürlich diskriminierenden Heranziehung zum Wehrdienst eine Verletzung der subjektiven Rechte des Wehrpflichtigen für möglich gehalten (vgl. Urteil vom 19. Juni 1974 – BVerwG VIII C 89.73 – BVerwGE 45, 197 ≪199≫; Urteil vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 20.92 – Buchholz 448.0 § 21 WPflG Nr. 47 S. 15 ≪insoweit in BVerwGE 92, 153 nicht abgedruckt≫).
In dem hier zur Entscheidung stehenden Fall liegt indes auch in Anbetracht seiner Besonderheiten eine von der Beklagten zu verantwortende Willkürentscheidung zu Lasten des Klägers nicht vor. Zwar stellt sich die Entlassung des Klägers aus der Alarmreserve nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts als Folge des vom Kläger beschriebenen Vorfalls am 20. Juli 2000 und der daraufhin von seinem Diskussionsgegner erhobenen Dienstaufsichtsbeschwerde dar. Daraus folgt aber nicht, dass die von der Beklagten getroffene Entscheidung sachwidrig und damit willkürlich wäre. Denn das Verhalten des Klägers anlässlich des Staatsakts im Berliner Bendlerblock am 20. Juli 2000 konnte, ohne dass es auf Einzelheiten des Hergangs ankommt, bei der Beklagten die Frage aufwerfen, ob der Kläger für die ihm in Verteidigungsfall zugedachte Führungsaufgabe als Offizier … optimal geeignet war. Damit war derjenige Sachbereich angesprochen, auf den sich das personalplanerische Ermessen der Wehrersatzbehörden bezieht. Da die Beklagte im Rahmen ihrer Personalplanung auch und nicht zuletzt Eignungsgesichtspunkte zu berücksichtigen hatte, war es ihr nicht verwehrt, einen Zusammenhang zwischen dem Vorfall am 20. Juli 2000 und der weiteren Verwendung des Klägers als Reserveoffizier herzustellen. Insbesondere durfte sie in Erwägung ziehen, dass ein ausschließlich auf seine Überwachungsaufgabe als Leiter einer …einheit konzentriertes Verhalten des Klägers seinen dienstlichen Obliegenheiten besser entsprochen hätte als jede Art engagierten Auftretens gegenüber Teilnehmern der Kundgebung. Unter diesen Umständen lässt sich nicht feststellen, dass es der Beklagten bei der Entlassung des Klägers aus der Alarmreserve nicht um Überlegungen zu seiner mangelnden Eignung, sondern ausschließlich um die Ahndung eines von ihr angenommenen Fehlverhaltens ging und dass es sich daher bei dem Bescheid vom 9. Oktober 2000 um eine verkappte Form der disziplinarischen Maßregelung des Klägers handelte, die in sein Recht auf persönliche Ehre eingriff (vgl. zur Versetzung eines Beamten Urteil vom 28. April 1966 – BVerwG 2 C 68.03 – ZBR 1966, 280). Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte unter Verletzung von Art. 5 GG die Meinung des Klägers zur Problematik der Wehrmachtsdeserteure und deren Äußerung auch im dienstlichen Zusammenhang als solche unterbinden wollte.
Soweit dennoch in der Öffentlichkeit der Eindruck einer Maßregelung des Klägers entstanden sein sollte, kann er diesem Eindruck entgegenwirken. Auch ein Reserveoffizier hat das Recht, die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen sich selbst zu beantragen, um sich von dem Verdacht eines Dienstvergehens zu reinigen (vgl. jetzt § 58 Abs. 3, § 95 der Wehrdisziplinarordnung vom 16. August 2001, BGBl I S. 2093, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2001, BGBl I S. 4013). Der Kläger hat diesen Weg beschritten. Wie er dem Senat in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, hat das Verfahren noch nicht zu einem Ergebnis geführt.
2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Bardenhewer, Hahn, Gerhardt, Büge, Graulich
Fundstellen