Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufenthaltsverbot. Ausnahmefall. Ausweisung. Ausweisungsschutz. Ausweisungsermessen. Ausweisungswirkungen. Befristung. Einreiseverbot. Ermessen. Ermessensausfall. Freizügigkeit. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Regelfall. Rücknahme. Rücknahmeanspruch. Rücknahmeermessen. Sperrwirkung. Übermaßverbot. Unionsbürger. Unionsbürgerschaft. Verhältnismäßigkeit. Verlustfeststellung
Leitsatz (amtlich)
Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung – und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung – liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (Fortentwicklung der Rspr).
Normenkette
AufenthG § 102 Abs. 1; AuslG 1990 § 47 Abs. 1, 3, § 48 Abs. 1 Nr. 4; EMRK Art. 8; FreizügG/EU § 7 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6; LVwVfG BaWü § 48; VwVfG § 48; VwGO §§ 44, 88, 114 S. 2, § 121; EG Art. 18; RL 90/364/EWG Art. 1
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 24.01.2007; Aktenzeichen 13 S 451/06) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 12.10.2005; Aktenzeichen 16 K 3901/04) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. Januar 2007 geändert, soweit es das Begehren des Klägers auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung betrifft.
Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Im Übrigen werden die Revision des Klägers und die Revision des Beklagten zurückgewiesen.
Der Kläger und der Beklagte tragen je ein Viertel der Kosten des bisherigen Verfahrens in allen Rechtszügen. Im Übrigen bleibt die Entscheidung über die Kosten der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der Kläger, ein 1973 im Bundesgebiet geborener italienischer Staatsangehöriger, erstrebt die Verpflichtung des Beklagten, seine unbefristete Ausweisung zurückzunehmen oder hilfsweise ihre Wirkungen zu befristen.
Der Kläger ist in Deutschland bei seiner Mutter und seinem Stiefvater, Gastarbeitern italienischer Staatsangehörigkeit, aufgewachsen. Er schloss die Hauptschule ab und verrichtete nach Abbruch von zwei Lehren Gelegenheitsarbeiten. Seit seiner Jugend konsumiert er Drogen und war zuletzt heroinabhängig. Bei ihm wurden eine HIV- und eine Hepathitis-C-Infektion diagnostiziert, die medikamentöser Behandlung bedurften. Er lebte seit 1993 mit seiner späteren deutschen Ehefrau zusammen; im März 1990 wurde sein Sohn M… und im Mai 1995 seine Tochter G… geboren. Die Ehe wurde im Jahr 2002 geschieden; der Kläger hat dabei auf das Sorgerecht für die Kinder verzichtet.
Seit seinem 14. Lebensjahr fiel der Kläger strafrechtlich auf, insbesondere wegen Eigentums- und Vermögensdelikten sowie Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Im Juni 1996 und Juli 1997 wurde er u.a. wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Betruges, Urkundenfälschung und Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu Gesamtfreiheitsstrafen von zwei Jahren und neun Monaten sowie einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Bei der Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung gab er mit Schreiben vom 2. Februar 1997 an, dass er in Italien keine Verwandten habe und der italienischen Sprache nicht mächtig sei. Er befürchte dort Existenzprobleme, weil er zu diesem Land keinen Bezug habe. Wenn er Deutschland verlassen müsse, könne er seine Familie nicht mehr sehen und versorgen. Nachdem die Staatsanwaltschaft für den Fall der Abschiebung ein Absehen von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe angekündigt hatte, erklärte der Kläger mit Schreiben vom 15. Februar 1998 gegenüber der Ausländerbehörde:
“… Darum beantrage ich nun selber meine Abschiebung aus der BRD, und ziehe hiermit die Beschwerde vom 02.02.97 die ich Ihnen geschickt habe zurück. Ich habe in der BRD nichts mehr zu suchen, da meine Freundin und meine beiden Kinder mit mir nach Italien gehen. …”
Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Kläger mit Bescheid vom 4. März 1998 aus und drohte ihm die Abschiebung an. Es ging davon aus, dass der Kläger keine Freizügigkeit genieße und deshalb Europäisches Gemeinschaftsrecht auf ihn keine Anwendung finde. Angesichts der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers lägen die Voraussetzungen für eine Ist-Ausweisung vor, diese sei aber wegen der Lebensgemeinschaft mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern zu einer Regel-Ausweisung herabgestuft. Umstände, die ausnahmsweise ein Absehen von der Regelausweisung rechtfertigten, ergäben sich weder aus den den Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten noch den persönlichen Verhältnissen des Klägers. Ermessen wurde nicht ausgeübt. Der Kläger hat den Bescheid nicht angefochten und wurde am 25. Juli 1998 nach Italien abgeschoben.
Nach unerlaubter Wiedereinreise wurde er mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 4. August 2000 u.a. wegen Diebstahls und schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt, die er derzeit verbüßt.
Am 26. Mai 2004 beantragte der Kläger die Rücknahme der Ausweisung, hilfsweise deren sofortige Befristung. Die Ausweisung sei rechtswidrig, denn er sei als Kind italienischer Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt und hätte deshalb nur im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfen.
Mit Bescheid vom 29. September 2004 lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe mit der Erklärung vom 15. Februar 1998 auf sein Freizügigkeitsrecht verzichtet; im Übrigen hätten aber auch die Voraussetzungen für die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers vorgelegen. Die Rücknahme der Ausweisung sei deshalb rechtlich ausgeschlossen. Eine Befristung komme nicht in Betracht, denn der Kläger sei auch nach der Ausweisung massiv straffällig geworden. Angesichts seiner Drogenabhängigkeit gehe von ihm nach wie vor eine hohe Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage in Haupt- und Hilfsantrag abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 24. Januar 2007 (InfAuslR 2007, 182) den Bescheid des Regierungspräsidiums vom 29. September 2004 aufgehoben und das beklagte Land verpflichtet, über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden; im Übrigen hat er die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs kann der Kläger ein Freizügigkeitsrecht von seinen beiden Kindern ableiten, die neben der deutschen auch die italienische Staatsangehörigkeit besitzen. Deshalb sei die Ausweisung wegen fehlender Ermessensbetätigung rechtswidrig und die Rücknahme gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG möglich gewesen. Das Rücknahmeermessen sei aber weder im angefochtenen Bescheid ausgeübt noch sei im Berufungsverfahren eine Ermessensausübung wirksam nachgeholt worden. Ein über die Verpflichtung zur Bescheidung hinausgehender unbedingter Rücknahmeanspruch ergebe sich weder aus nationalem noch aus Gemeinschaftsrecht. Die Aufrechterhaltung der Ausweisung sei nicht “schlechthin unerträglich”, da deren Rechtswidrigkeit bei Erlass nicht evident und der Kläger mit seiner Abschiebung einverstanden gewesen sei. Er könne auch keine “deklaratorische Aufhebung” der Ausweisung mit Blick auf das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz beanspruchen. Da der Kläger mit dem Hauptantrag teilweise Erfolg habe, brauche über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden.
Gegen das Urteil haben sowohl der Beklagte als auch der Kläger Revision eingelegt.
Der Beklagte wendet sich gegen die Verpflichtung zur Neubescheidung des Rücknahmeantrags und macht im Wesentlichen geltend, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs sei der Kläger im Zeitpunkt der Ausweisung nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen. Selbst wenn man ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht unterstelle, scheide die Rücknahme der Ausweisung aus. Die Voraussetzungen des § 12 AufenthG/EWG hätten vorgelegen; denn der Kläger sei vielfach straffällig geworden und es bestehe wegen der unbewältigten Drogenproblematik nach wie vor eine hohe Wiederholungsgefahr. Wenn man dem Kläger ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht zubillige, müsse der Behörde in gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 114 Satz 2 VwGO die Möglichkeit eingeräumt werden, das Rücknahmeermessen nachträglich auszuüben.
Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Ausweisung und beanstandet, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht über sein Hilfsbegehren auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung entschieden habe. Er führt zur Begründung im Wesentlichen an, dass die Rücknahme der Ausweisung gemäß § 48 VwVfG zwingend geboten sei. Auf § 12 AufenthG/EWG als gemeinschaftswidriger Rechtsgrundlage der Ausweisung könne sich eine gemeinschaftsrechtskonforme Praxis allenfalls zufällig entwickeln. Eine gemeinschaftsrechtswidrige Ausweisung sei zwingend zurückzunehmen. Die Verpflichtung zur Rücknahme ergebe sich auch aus Art. 8 EMRK, denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehe die Pflicht, schon bei Erlass einer Ausweisung deren Befristung mit zu prüfen. Außerdem sei die altrechtliche Ausweisung des Klägers mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes unwirksam geworden.
Nach der Auffassung des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht bestehen die Wirkungen der Ausweisung gemäß § 102 Abs. 1 AufenthG fort.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des beklagten Landes ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit Bundesrecht im Ergebnis zutreffend entschieden, dass das Regierungspräsidium erneut über die Rücknahme der Ausweisung zu befinden hat (1.). Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit sie den Anspruch auf zwingende Rücknahme der Ausweisung betrifft (2.). Seine Revision ist aber insoweit begründet, als das Berufungsgericht über den hilfsweise gestellten Befristungsantrag hätte entscheiden müssen (3.). Insoweit beruht das Berufungsurteil auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat über den geltend gemachten Befristungsanspruch mangels notwendiger Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Der Kläger hat nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für Baden-Württemberg – LVwVfG – Anspruch auf erneute Bescheidung seines Rücknahmeantrags. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme liegen vor. Denn die Ausweisung vom 4. März 1998 war rechtswidrig. Der Beklagte hat das ihm eröffnete Rücknahmeermessen jedoch nicht ausgeübt.
a) Die Rücknahme einer Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist neben der Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU möglich; denn die Rechtsgrundlagen von Rücknahme und Befristung unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Rechtsfolgen (Urteil vom 7. Dezember 1999 – BVerwG 1 C 13.99 – BVerwGE 110, 140 ≪143≫). Eine Rücknahme setzt grundsätzlich voraus, dass der aufzuhebende Verwaltungsakt noch Regelungswirkungen äußert (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 48 Rn. 48). Das ist hier der Fall, denn die Ausweisung vom 4. März 1998 ist als “Altausweisung” eines Unionsbürgers mit den daran anknüpfenden gesetzlichen Sperrwirkungen gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar 2005 weiter wirksam (Urteil vom 4. September 2007 – BVerwG 1 C 21.07 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt).
b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (Beschluss vom 7. Juli 2004 – BVerwG 6 C 24.03 – BVerwGE 121, 226 ≪229 m.w.N.≫). Das war hier der Fall. Da der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegen.
aa) Entgegen der Auffassung des Klägers war die Ausweisung allerdings nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil ihre Wirkungen von der Ausländerbehörde nicht bereits bei Erlass befristet worden sind. Die dem System des deutschen Ausländerrechts immanente Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen (vgl. Beschluss vom 31. März 1981 – BVerwG 1 B 853.80 – Buchholz 402.24 § 15 AuslG Nr. 3) erweist sich nicht als konventionswidrig (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007 – Beschwerde Nr. 31753/02 – Kaya – InfAuslR 2007, 325 ≪326≫). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbots nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK (Urteil vom 17. April 2003 – Beschwerde Nr. 52853/99 – Yilmaz – NJW 2004, 2147; Urteil vom 27. Oktober 2005 – Beschwerde Nr. 32231/02 – Keles – InfAuslR 2006, 3 ≪4≫; Urteil vom 22. März 2007 – Beschwerde Nr. 1638/03 – Maslov – InfAuslR 2007, 221 ≪223≫). Damit übereinstimmend stellt auch der Senat bei der Prüfung, ob die Ausländerbehörde eine Befristung im Ausweisungszeitpunkt vorzunehmen hat, auf die Umstände des Einzelfalles ab (vgl. Urteil vom 15. März 2005 – BVerwG 1 C 2.04 – Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42). Der Verweis auf die Befristung bleibt für den Kläger auch nicht etwa eine rein theoretische Möglichkeit, sondern ein praktisch wirksames Mittel zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in zeitlicher Dimension. Seine Unionsbürgerschaft (Art. 18 EG) bietet ihm mit ihren aufenthaltsrechtlichen Inhalten einen Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet.
bb) Die Ausweisung vom 4. März 1998 war aber rechtswidrig, weil sie als Regelausweisung ohne die notwendige Ermessensausübung durch den Beklagten ergangen ist.
(1) Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger sich auf ein von seinen Kindern abgeleitetes Freizügigkeitsrecht berufen könne. Es hat deshalb im vorliegenden Fall mit Blick auf die Rechtsprechung des Senats, nach der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nur noch im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfen (Urteil vom 3. August 2004 – BVerwG 1 C 30.02 – BVerwGE 121, 297 ≪301 ff.≫), einen Ermessensausfall angenommen. Ob das Berufungsgericht zu Recht ein Freizügigkeitsrecht des Klägers bejaht hat, ist fraglich.
Zum einen bestehen Bedenken, ob die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts zur Wahrnehmung der Personensorge durch den Kläger für die Annahme eines von seinen Kindern abgeleiteten Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 EG i.V.m. der im Ausweisungszeitpunkt noch geltenden Richtlinie 90/364/EWG (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 – Rs. C-200/02 – Zhu und Chen – Slg. 2004, I-9925 Rn. 45) ausreichen. Zum anderen erscheint zweifelhaft, ob die Ableitung eines Freizügigkeitsrechts aus den genannten Vorschriften nicht zusätzlich voraussetzt, dass auch der begünstigte Elternteil die “Beschränkungen und Bedingungen” eines Aufenthaltsrechts (hier: Krankenversicherungsschutz und Vorhandensein ausreichender Existenzmittel gemäß Art. 1 Abs. 1 RL 90/364/EWG) erfüllt. Denn andernfalls würde bei der richterrechtlichen Erweiterung von Aufenthaltsrechten der 4. Erwägungsgrund der Richtlinie 90/364/EWG vernachlässigt, demzufolge die Aufenthaltsberechtigten die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedsstaates nicht über Gebühr belasten dürfen. Diese Fragen können aber dahinstehen; denn auch unabhängig von Gemeinschaftsrecht hätte der Kläger nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen.
(2) Die Ausländerbehörde ist davon ausgegangen, dass an die Stelle der Ist-Ausweisung (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) wegen der Lebensgemeinschaft des Klägers mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG) gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG die Regel-Ausweisung getreten ist. Auch nach der Auffassung des Berufungsgerichts lag tatbestandlich ein Fall der Regelausweisung vor (BU S. 11). Dem folgt der Senat nicht.
Nach ständiger Rechtsprechung beziehen sich die Worte “in der Regel” im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel sowie der Ausweisungstatbestände auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Bei der uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände einer evtl. strafgerichtlichen Verurteilung sowie die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, die in § 45 Abs. 2 AuslG (jetzt: § 55 Abs. 3 AufenthG) nicht abschließend (Urteil vom 19. November 1999 – BVerwG 1 C 6.95 – BVerwGE 102, 249 ≪253≫) genannt werden (Urteile vom 26. Februar 2002 – BVerwG 1 C 21.00 – BVerwGE 116, 55 ≪64 f.≫ und vom 29. September 1998 – BVerwG 1 C 8.96 – Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 16 S. 48 m.w.N.).
Ein Ausnahmefall i.S.d. § 47 Abs. 1 Satz 3 AuslG (nunmehr: § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) wurde ferner dann angenommen, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG (nunmehr: § 56 Abs. 1 AufenthG) höherrangiges Recht entgegensteht, sie sich insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (z.B. Art. 6 Abs. 1 GG) als nicht vereinbar erweist (Urteil vom 29. September 1998 – BVerwG 1 C 8.96 – a.a.O. m.w.N.). Der Senat nimmt die sowohl in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 22. März 2007 – Nr. 1638/03 – Maslov – InfAuslR 2007, 221; Urteil vom 28. Juni 2007 – Nr. 31753/02 – Kaya – InfAuslR 2007, 325) als auch des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2007 – 2 BvR 304/07 – NVwZ 2007, 946 und vom 10. August 2007 – 2 BvR 535/06) erkennbar gewachsene Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zum Anlass, diese Voraussetzung weiter zu fassen: Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung – und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung – liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten.
Der bisherige Maßstab, der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ausweisung mit höherrangigem Recht abstellt, reicht nach den Erfahrungen des Senats nicht aus, um den von Art. 6, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belangen in der Praxis zu einer ausreichenden Berücksichtigung zu verhelfen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass schutzwürdige, von den Tatbeständen des § 48 Abs. 1 AuslG bzw. § 56 Abs. 1 AufenthG nicht (voll) erfasste Belange des Betroffenen im Verwaltungsvollzug schematisierend ausgeblendet werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Mai 2007 – 2 BvR 304/07 – a.a.O. S. 946 ≪948≫). Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles einer Ausweisung entgegensteht. Aber auch in anderen Fällen erweist sich der schematische Blick der Verwaltung auf die Ist- und Regelausweisung als wenig hilfreich, um das gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können. Die Ermessensentscheidung als der dritte vom Gesetzgeber vorgesehene Entscheidungsmodus bietet demgegenüber in der Verwaltungspraxis höhere Gewähr für eine Berücksichtigung aller Aspekte des jeweiligen Einzelfalles und die angemessene Gewichtung anlässlich der Entscheidung über den Erlass einer Ausweisung.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass diese Auslegung unter Umständen dazu führe, dass es mehr Ausnahmefälle als Regelfälle gebe und dies dem Willen des Gesetzgebers widerspreche. Denn für die Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall kommt es nicht auf das quantitative Verhältnis der Fallgruppen an, sondern auf eine wertende Betrachtung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben.
Mit der Absenkung der Schwelle für das Vorliegen eines Ausnahmefalles ist die Ermessensentscheidung über die Ausweisung aber nicht etwa negativ präjudiziert. Bei Annahme eines von der Regel abweichenden Falles fehlt den Ausweisungsgründen nur das von vornherein ausschlaggebende Gewicht, das ihnen der Gesetzgeber im Regelfall zugemessen hat. Liegt ein Ausnahmefall vor, sind die Ausweisungsgründe mit dem Gewicht, das in dem gestuften System der Ausweisungstatbestände zum Ausdruck kommt, in die Ermessensentscheidung einzubeziehen. Aus der Annahme eines Ausnahmefalles folgt mithin nicht, dass zwingend von der Ausweisung abzusehen wäre; sofern der Ausweisung nicht höherrangiges Recht entgegensteht und damit das Ermessen ohnehin auf Null reduziert ist, erlangt die Ausländerbehörde durch den Übergang in die Ermessensentscheidung lediglich mehr Flexibilität, um den besonderen Umständen des konkreten Falles ausreichend Rechnung tragen zu können (vgl. Urteile vom 29. Juli 1993 – BVerwG 1 C 25.93 – BVerwGE 94, 35 ≪44 f.≫ und 27. August 1996 – BVerwG 1 C 8.94 – BVerwGE 102, 12 ≪17≫ zu § 7 Abs. 2 AuslG 1990). Im Zweifel ist einer Behörde anzuraten, von einem Ausnahmefall auszugehen oder zumindest hilfsweise nach Ermessen zu entscheiden. Diese Vorgehensweise macht eine Ausweisungsverfügung nicht rechtsfehlerhaft, auch wenn die spätere Prüfung ergeben sollte, dass ein Regelfall vorlag (vgl. die Urteile vom 19. November 1996 – BVerwG 1 C 25.94 – Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11 S. 11 ≪17 f.≫ und vom 7. Dezember 1999 – BVerwG 1 C 13.99 – BVerwGE 110, 140 ≪144≫).
Das Regierungspräsidium hat der Ausweisungsverfügung vom 4. März 1998 im Ansatz zutreffend zugrunde gelegt, dass der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG verwirklicht hat. Wegen der Lebensgemeinschaft mit seiner späteren deutschen Ehefrau und den gemeinsamen Kindern genoss er besonderen Ausweisungsschutz (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG). Demzufolge waren schwerwiegende Gründe i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG erforderlich, die jedenfalls hinsichtlich des spezialpräventiven Ausweisungszwecks angesichts der vom Kläger begangenen Straftaten und der hohen Wiederholungsgefahr vorlagen. Des Weiteren trat an die Stelle der zwingenden Ausweisung gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG die Regel-Ausweisung.
Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Berufungsgerichts waren aber die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles gegeben, weil der Kläger als Unionsbürger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist und im Zeitpunkt der Ausweisung mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern zusammenlebte. Diese von den Tatbeständen des besonderen Ausweisungsschutzes in § 48 Abs. 1 AuslG nicht vollumfänglich abgedeckten Umstände begründen das Vorliegen eines Ausnahmefalles, ohne dass bei der Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall eine Kompensation mit dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung des Klägers zulässig wäre. Diese Abwägung der gegenläufigen Interessen ist vielmehr Gegenstand der der Ausländerbehörde obliegenden Ermessensentscheidung, die in der Ausweisungsverfügung vom 4. März 1998 fehlt. Wegen des Ermessensausfalls erweist sich daher die Ausweisung von Anfang an als rechtswidrig; damit sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG erfüllt.
c) Das Berufungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers auf eine (fehlerfreie) Ermessensentscheidung über sein Rücknahmebegehren noch nicht erfüllt worden ist. Das Regierungspräsidium hat in dem Bescheid vom 29. September 2004 kein Rücknahmeermessen ausgeübt. Die bei der Ablehnung des Rücknahmeantrags erforderlichen Ermessenserwägungen konnten auch nicht im Berufungsverfahren nachgeschoben werden. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich für eine Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozess, nicht aber für die erstmalige Ausübung des Ermessens (Urteil vom 5. Mai 1998 – BVerwG 1 C 17.97 – BVerwGE 106, 351 ≪365≫). Die Bezugnahme des beklagten Landes auf das Urteil des Senats vom 3. August 2004 (BVerwG 1 C 30.02 – BVerwGE 121, 297 ≪310≫) verhilft seiner Revision nicht zum Erfolg. Die in dieser Entscheidung dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts geschuldete erweiternde Auslegung des § 114 Satz 2 VwGO diente der Bewältigung eines Übergangsproblems, das sich aus der geänderten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergab. Verallgemeinerungsfähig ist diese Ausnahme allerdings nicht (Urteil vom 5. September 2006 – BVerwG 1 C 20.05 – Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 115). Im vorliegenden Fall eines auf die Rücknahme einer Ausweisung zielenden Begehrens liegt keine vergleichbare Sondersituation vor.
2. Der Kläger hat über das subjektiv-öffentliche Recht auf (fehlerfreie) Ausübung des Rücknahmeermessens hinaus keinen Rücknahmeanspruch. Der Senat folgt der Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich das Rücknahmeermessen im vorliegenden Fall nicht derart verdichtet hat, dass nur die Rücknahme der Ausweisung ermessensfehlerfrei wäre.
a) Das in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Facetten des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (Urteil vom 17. Januar 2007 – BVerwG 6 C 32.06 – NVwZ 2007, 709 ≪710≫). Das ist vorliegend nicht der Fall; denn es gibt keinen Grund für die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über die Rücknahme einer Ausweisung erweise sich durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bzw. des Freizügigkeitsgesetzes/EU nach Sinn und Zweck als positiv intendiert.
Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung “schlechthin unerträglich” erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (Urteil vom 17. Januar 2007 – BVerwG 6 C 32.06 – a.a.O. m.w.N.). Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet – wie bereits gesagt – keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann “schlechthin unerträglich”, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Dafür geben die nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Anhaltspunkte; zudem wäre zu berücksichtigen, dass der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat.
Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (Urteil vom 17. Januar 2007 – BVerwG 6 C 32.06 – a.a.O.). Indessen war die Ausweisungsverfügung nicht offensichtlich rechtswidrig. Ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht war wegen der nach wie vor ungeklärten Freizügigkeitsberechtigung des Klägers im Zeitpunkt der Ausweisung weder gesichert, geschweige denn evident. Auch im Hinblick auf die neue Rechtsprechung des Senats zur Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall hat sich der Verstoß der Ausweisung gegen nationales Recht im Zeitpunkt der Ausweisung nicht aufgedrängt.
Schließlich ist bei der Frage einer Verdichtung des Rücknahmeermessens auch von Bedeutung, dass die Ausweisung des Klägers jedenfalls im Rahmen einer Ermessensentscheidung möglich gewesen wäre. Bei der Gewichtung seiner familiären Belange sowie des Rechts auf Achtung seines Privatlebens kann die von ihm abgegebene Erklärung vom 15. Februar 1998 nicht unberücksichtigt bleiben. Darin hatte der Kläger gegenüber dem Beklagten angegeben, die Lebensgemeinschaft mit seiner Freundin und den gemeinsamen Kindern in Italien fortsetzen zu wollen. Die familiären und privaten Belange des Klägers verloren dadurch erheblich an Gewicht gegenüber dem spezialpräventiv motivierten Ausweisungszweck, so dass eine Ermessensausweisung im Ergebnis nicht als unverhältnismäßig im engeren Sinne und damit unzumutbar hätte angesehen werden können.
b) Diese Grundsätze werden – die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zu seinen Gunsten unterstellt – durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der Europäische Gerichtshof respektiert die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätzen zählt (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 – C-453/00 – Kühne & Heitz – NVwZ 2004, 459 Rn. 24). Die in der zitierten Entscheidung vom Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines Rücknahmeanspruchs im Anschluss an eine rechtskräftige, die Vorlagepflicht verletzende letztinstanzliche Gerichtsentscheidung sind mangels Anfechtung der Ausweisung durch den Kläger offensichtlich nicht gegeben. Damit verbleibt es bei den nationalen Aufhebungsregelungen, die sich aber am Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip messen lassen müssen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2006 – C-392/04 und C-422/04 – Germany GmbH und Arcor AG – NVwZ 2006, 1277 Rn. 57, 58, 62). Das Äquivalenzprinzip als besonderes Diskriminierungsverbot ist schon deshalb nicht verletzt, weil bei der Rücknahme gemäß § 48 LVwVfG nicht danach unterschieden wird, ob die Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen nationales Recht oder Gemeinschaftsrecht rechtswidrig war. Auch das Effektivitätsprinzip zwingt nicht zur Zubilligung eines Rücknahmeanspruchs. Angesichts der Anfechtungsmöglichkeit der Ausweisung binnen eines Monats ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert worden wäre.
3. Über den auf Befristung der Ausweisungswirkungen gerichteten Hilfsantrag des Klägers hat das Berufungsgericht bewusst nicht entschieden. Es hat eine Entscheidung darüber nicht für erforderlich erachtet, da die Klage im Hauptantrag teilweise Erfolg hatte. Die dagegen erhobene Verfahrensrüge des Klägers greift durch; denn der Verwaltungsgerichtshof hat einen Teil des Streitgegenstands unbeschieden gelassen und damit § 88 VwGO verletzt (Urteil vom 22. März 1994 – BVerwG 9 C 529.93 – BVerwGE 95, 269 ≪273≫). Da der Senat über den geltend gemachten Befristungsanspruch mangels diesbezüglicher Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
a) Bei der eventuellen Klagehäufung (§ 44 VwGO) werden die als Haupt- und Hilfsantrag erhobenen prozessualen Ansprüche durch eine innerprozessuale Bedingung miteinander verknüpft. Ob das Gericht sich mit dem Hilfsantrag erst bei Abweisung des Hauptantrags zu befassen hat (Urteil vom 13. Dezember 1979 – BVerwG 7 C 43.78 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 124) oder die Rechtshängigkeit des Hilfsantrags nur bei Zuerkennung des Hauptanspruchs rückwirkend entfällt (Urteil vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 19.86 – BVerwGE 104, 260 ≪263≫), obliegt der Bestimmung des Klägers im Rahmen der Dispositionsmaxime. Hat der Kläger – wie hier – für den Fall einer Teilstattgabe keine ausdrückliche Anordnung getroffen, ist sein Antrag mit Blick auf das von ihm verfolgte Rechtsschutzziel sachdienlich auszulegen.
Hier ergibt die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens, dass der Hilfsantrag auch für den Fall der Teilstattgabe des Hauptantrags zur gerichtlichen Entscheidung gestellt worden ist. Andernfalls hätte der Kläger mit dem Bescheidungsurteil die nur relativ schwache Position der Zuerkennung eines Anspruchs auf Neubescheidung seines Rücknahmebegehrens gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, ohne dass über das Befristungsbegehren gerichtlich entschieden worden wäre. Gleichzeitig wäre aber der Ablehnungsbescheid insoweit in Bestandskraft erwachsen. Die Möglichkeit, dass der Beklagte auf das Bescheidungsurteil hin ggf. die Ausweisung zurücknimmt und damit einem sachlichen Ausspruch über den hilfsweise gestellten Befristungsantrag den Boden entzieht, macht den Hilfsantrag nicht unzulässig. Denn in dem für die Beurteilung der Zulässigkeit maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung des Revisionsgerichts (vgl. Urteil vom 27. März 1998 – BVerwG 4 C 14.96 – DVBl 1998, 896 ≪897≫ m.w.N.) besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für die auf Befristung gerichtete Verpflichtungsklage, weil die Ausweisung noch wirksam ist. Auch die Voraussetzungen des § 44 VwGO sind vorliegend gegeben.
b) Grundlage des Befristungsanspruchs ist § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU in der Fassung des am 28. August 2007 in Kraft getretenen Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970). Denn im Revisionsverfahren sind Änderungen der Rechtslage, die sich nach Erlass des Berufungsurteils ergeben haben, für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beachtlich, wenn das Berufungsgericht – entschiede es nunmehr anstelle des Bundesverwaltungsgerichts – die Rechtsänderung zu beachten hätte (stRspr, vgl. Urteil vom 1. November 2005 – BVerwG 1 C 21.04 – BVerwGE 124, 276 ≪279 f.≫). Der Verwaltungsgerichtshof müsste, wenn er nunmehr über den Verpflichtungsantrag entschiede, für die Prüfung des Befristungsanspruchs auf die gegenwärtige Rechtslage abstellen.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU wird das durch die Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU ausgelöste Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) auf Antrag befristet. Mit Blick auf die in § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffene Übergangsregelung werden von dieser Anspruchsgrundlage in sinngemäßer Anwendung auch die fortwirkenden Rechtsfolgen der “Alt-Ausweisung” eines Unionsbürgers erfasst. Zu dieser aus intertemporalen Gründen gebotenen Auslegung der Vorschrift sowie zu den Maßstäben einer Befristungsentscheidung hat sich der Senat in seinem Urteil vom 4. September 2007 (BVerwG 1 C 21.07 – zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt) bereits geäußert; darauf wird Bezug genommen.
Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob und wie weit sich der Befristungsanspruch des Klägers aus § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU mit Blick auf individuell seine Person betreffende tatsächliche Entwicklungen verdichtet hat. Derartige Sachverhaltsänderungen können die tatsächliche Gefahrenprognose betreffen oder auf den anzulegenden Beurteilungsmaßstab im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zielen. Diese Prüfung wird der Verwaltungsgerichtshof auf der Grundlage aktualisierter Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass im Falle einer langfristig fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss des Aufenthalts im Bundesgebiet möglich ist (BTDrucks 15/420 S. 105). Demgegenüber erweist sich die von der Ausländerbehörde beabsichtigte Verknüpfung der Befristung mit der Begleichung angefallener Rückführungskosten mit den Vorgaben der Befristungsentscheidung schon im Ansatz als nicht vereinbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Richter, Beck, Prof. Dr. Kraft, Fricke
Fundstellen
BVerwGE 2008, 367 |
DÖV 2008, 329 |
ZAR 2008, 140 |
AuAS 2008, 28 |
DVBl. 2008, 189 |
LL 2008, 753 |