Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtschreibreform. Bindungswirkung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Leitsatz (amtlich)
Die Bestimmungen des Berliner Schulgesetzes stellen eine ausreichende Grundlage für die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen des Landes Berlin dar. Es bedarf dazu keiner besonderen gesetzlichen Grundlage, wie das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 14. Juli 1998 – 1 BvR 1640/97 – (BVerfGE 98, 218) mit bindender Wirkung nicht nur für den Schulunterricht im Land Schleswig-Holstein, sondern auch im Land Berlin entschieden hat.
Normenkette
BVerfGG § 31 Abs. 1
Verfahrensgang
VG Berlin (Urteil vom 14.11.1997; Aktenzeichen 3 A 817.97) |
Tenor
Das Verfahren wird hinsichtlich der Kläger zu 1 und 2 sowie 4 und 5 eingestellt. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. November 1997 wirkungslos.
Im übrigen wird das genannte Urteil aufgehoben. Die Klage des Klägers zu 3 wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrensin beiden Instanzen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob die Einführung der Rechtschreibreform an den Berliner Schulen mit dem Grundgesetz in Einklang steht.
Vom 22. bis 24. November 1994 fand in Wien eine Orthographiekonferenz statt, an der Fachleute und Vertreter staatlicher Stellen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teilnahmen. Die Kultusministerkonferenz faßte auf ihrer 274. Plenarsitzung vom 30. November/1. Dezember 1995 in Mainz folgenden Beschluß:
- „Die Kultusministerkonferenz nimmt den Bericht der Amtschefskommission zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zustimmend zur Kenntnis.
Die Kultusminister verständigen sich darauf, den überarbeiteten Neuregelungsvorschlag ‚Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis’ (RS Nr. 322/95 vom 12.06.1995) mit den Änderungen der Beilage 1 unter der Voraussetzung,
daß die Ministerpräsidenten dem Neuregelungsvorschlag zustimmen,
daß der Bund dem Neuregelungsvorschlag zustimmt und daß die angestrebte zwischenstaatliche Erklärung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und ggf. weiteren interessierten Staaten rechtzeitig unterzeichnet wird,
als verbindliche Grundlage für den Unterricht in allen Schulen einzuführen.
- Die Kultusministerkonferenz ermächtigt die Präsidentin – vorbehaltlich der Zustimmung durch die Ministerpräsidenten –, die zwischen den deutschsprachigen Ländern abzustimmende gemeinsame Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu unterzeichnen.
Die Neuregelung tritt am 01.08.1998 mit folgenden Maßgaben in Kraft:
- Schulbücher, die das neue Regelwerk beachten, können im Vorgriff auf die Neuregelung bereits vor dem 01.08.1998 genehmigt werden.
- Weitere Übergangsregelungen für die Zeit bis zum 01.08.1998 – einschließlich der für die Schulbuchgenehmigung zu treffenden Entscheidungen – treffen die Länder in eigener Zuständigkeit.
- Bis zum 31.07.2005 werden bisherige Schreibweisen nicht als falsch, sondern als überholt gekennzeichnet und bei Korrekturen durch die neuen Schreibweisen ergänzt. Zu diesem Zeitpunkt sollten auch alle Schulbücher in der neuen Schreibung vorliegen. Sollte sich herausstellen, daß die Übergangszeit zu großzügig oder zu eng bemessen ist, wird eine Veränderung der Frist durch die Kultusministerkonferenz in Aussicht genommen.
- In Zweifelsfällen der Rechtschreibung werden ab dem 01.08.1998 Wörterbücher zugrunde gelegt, die nach Erklärung des jeweiligen Verlages der Neuregelung in der jeweils gültigen Fassung in vollem Umfang entsprechen.
- Der Schulausschuß/die Arbeitsgruppe ‚Rechtschreibreform’ wird gebeten, die Umsetzung der Neuregelung im Schulbereich zu begleiten.
- Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, daß besondere Kosten bei der Umsetzung der Neuregelungen nicht entstehen werden, da die Schulbücher mit Ausnahme der Rechtschreiblernmittel angesichts der gewählten Fristen und Termine im normalen Erneuerungsturnus ersetzt werden können.
- Die Kultusministerkonferenz stimmt der Einrichtung einer international besetzten ‚Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung’ beim Institut für deutsche Sprache (IdS) zu. Grundlage der Arbeit der Kommission soll der vorgelegte Entwurf ‚Aufgaben, Zusammensetzung und Verfahren …’ sein.
- Bisherige Festlegungen zur Rechtschreibung, insbesondere der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 18./19.11.1955 ‚Regeln für die deutsche Rechtschreibung’, werden mit Wirkung vom 01.08.1998 aufgehoben.
- Die Kultusministerkonferenz ist der Auffassung, daß den von der Ministerpräsidentenkonferenz am 25. – 27.10.1995 gefaßten Beschlüssen zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung durch den überarbeiteten Neuregelungsvorschlag und die geplanten Verfahrensschritte Rechnung getragen wird, und bittet die Präsidentin, die Ministerpräsidentenkonferenz und das Bundesministerium des Innern über das Ergebnis der Beratungen zu unterrichten.
- Die Kultusministerkonferenz wird die Einführung der Neuregelung durch geeignete Informationen begleiten.”
Die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder stimmte diesem Beschluß am 14. Dezember 1995 zu und bestätigte diese Zustimmung in einem Umlaufbeschluß vom 5. März 1996. Das Bundeskabinett nahm die Beschlüsse der Kultusminister- und der Ministerpräsidentenkonferenz am 17. April 1996 zur Kenntnis. Am 1. Juli 1996 unterzeichneten Vertreter von sechs Staaten, von deutscher Seite der Präsident der Kultusministerkonferenz und der parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, die gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung-Wiener Absichtserklärung -(BAnz Nr. 205 a vom 31. Oktober 1996). Diese lautet:
„Artikel I
Die Unterzeichner nehmen das auf der Grundlage der Dritten Wiener Gespräche vom 22. bis 24. November 1994 entstandene und als Anhang beigefügte Regelwerk ‚Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis’ zustimmend zur Kenntnis.
Artikel II
Die Unterzeichner beabsichtigen, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung des in Artikel I genannten Regelwerkes einzusetzen.
Folgender Zeitplan wird in Aussicht genommen:
- Die Neuregelung der Rechtschreibung soll am 1. August 1998 wirksam werden.
- Für ihre Umsetzung ist eine Übergangszeit bis zum 31. Juli 2005 vorgesehen.
Artikel III
Die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz werden Experten in eine Kommission für die deutsche Rechtschreibung entsenden, deren Geschäftsstelle beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim eingerichtet wird.
Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin. Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich, erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.
Artikel IV
Zuständigen Stellen anderer Staaten steht es frei, dieser ‚Gemeinsamen Absichtserklärung’ beizutreten. Das Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten der Republik Österreich wird sodann die anderen Unterzeichner von diesen Beitritten in Kenntnis setzen.”
Durch Rundschreiben IV Nr. 43/1996 vom 27. August 1996 ordnete das Landesschulamt Berlin im Auftrag und in Absprache mit der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport an, daß der Sprachunterricht in den Klassen eins bis zehn ab sofort auf der Basis der Neuregelung zu erfolgen habe.
Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern der Kläger zu 3 bis 5, die – der Kläger zu 3 derzeit in der fünften Klasse – die Grundschule besuchen. Auf die am 30. Juli 1997 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht durch das angefochtene Urteil dem Beklagten untersagt, die Kläger zu 3 bis 5 nach der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu unterrichten. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Einführung der Rechtschreibreform in den Berliner Schulen könne nicht allein auf Verwaltungsvorschriften gestützt werden, sondern bedürfe einer dies legitimierenden Entscheidung des hierzu allein berufenen Gesetzgebers. Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision.
Während der Dauer des Revisionsverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 14. Juli 1998 – 1 BvR 1640/97 – (BVerfGE 98, 218) die Verfassungsbeschwerde von Eltern schulpflichtiger Kinder gegen einen Beschluß des OVG Schleswig zurückgewiesen, durch den vorläufiger Rechtsschutz gegen die Einführung der Rechtschreibreform im Land Schleswig-Holstein abgelehnt worden war.
Die Kläger zu 1, 2, 4 und 5 haben die Klage mit Zustimmung des Beklagten zurückgenommen.
Der Beklagte trägt zur Begründung der Revision vor: Das Bundesverfassungsgericht habe im Urteil vom 14. Juli 1998 sämtliche mit der Rechtschreibreform zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Fragen im Sinne der Revision entschieden. Insofern sei die Rechtslage in Berlin nicht anders als im Land Schleswig-Holstein. Das Bundesverfassungsgericht habe nicht nur zu den Grundrechten betroffener Eltern, sondern ausdrücklich auch zu den Grundrechten der Schüler Stellung bezogen. Für die Einführung der Rechtschreibreform habe es ein spezielles sie legitimierendes parlamentarisches Gesetz nicht für erforderlich gehalten.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil hinsichtlich des Klägers zu 3 aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.
Der Kläger zu 3 beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor: Die Revision sei unbegründet, weil das angefochtene Urteil rechtlich nicht zu beanstanden sei. Dem stehe die Bindungswirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 nicht entgegen. Dort sei maßgeblich auf das schleswig-holsteinische Landesschulrecht abgestellt worden, welches mit dem im vorliegenden Fall anzuwendenden Berliner Landesschulrecht nicht inhaltsgleich sei. Das Bundesverfassungsgericht habe über die Verfassungsbeschwerde eines Elternpaars und damit über dessen Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entschieden, während es im vorliegenden Verfahren um die Beurteilung von Schülergrundrechten gehe.
Entscheidungsgründe
II.
Da die Kläger zu 1 und 2 sowie 4 und 5 die Klage mit Zustimmung des Beklagten zurückgenommen haben, ist insoweit das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 VwGO) und das angefochtene Urteil für wirkungslos zu erklären (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 ZPO).
Soweit nach erfolgter Klagerücknahme das stattgebende Urteil des Verwaltungerichts noch Bestand hat – nämlich allein hinsichtlich des Klägers zu 3 –, ist es aufzuheben und die Klage abzuweisen. Denn die – auch mit Blick auf die formellen Anforderungen in § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO – zulässige Revision des Beklagten ist begründet.
1. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
a) Der als Rechtsgrundlage für das streitige Begehren allein in Betracht zu ziehende öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch ist nicht schon deswegen begründet, weil es für das Unterweisen im richtigen Schreiben der deutschen Sprache – sei es nach den herkömmlichen oder reformierten Regeln – an den Schulen des Landes Berlin überhaupt an einer gesetzlichen Grundlage fehlte. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür in dem von ihm entschiedenen, sich nach schleswig-holsteinischem Landesschulrecht beurteilenden Fall die Regelungen in § 4 Abs. 1 und 3 und § 11 Abs. 1 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes genügen lassen. Zwischen diesen Regelungen und vergleichbaren Bestimmungen des Berliner Schulgesetzes bestehen aber keine Unterschiede, die im vorliegenden verfassungsrechtlichen Zusammenhang von Belang sind. Die in § 4 Abs. 1 und 3 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes angeführten Bildungs- und Erziehungsziele lassen sich ungeachtet des verschiedenen Wortlauts der Sache nach auch in dem wiederfinden, was § 1 des Berliner Schulgesetzes als Aufgabe der Schule bestimmt. Von den beiden Aussagen in § 11 Abs. 1 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes, wonach die Grundschule Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten vermittelt und die verschiedenen Begabungen in einem für alle Schüler gemeinsamen Bildungsgang entwickelt, findet sich die zweite Aussage fast wörtlich in § 26 Abs. 1 Satz 1 des Berliner Schulgesetzes wieder, wonach die Grundschule „für alle Schüler gemeinsam” ist. Die erste Aussage – Vermittlung von Grundkenntnissen und Grundfertigkeiten – geht über das, was bereits auch der im Berliner Schulgesetz verwandte Begriff „Grundschule” als Selbstverständlichkeit umfaßt, nicht hinaus. Davon, daß die Vermittlung von Grundkenntnissen und und Grundfertigkeiten zu den vorrangigen und typischen Aufgaben der Grundschule zählt, geht auch der Berliner Schulgesetzgeber offensichtlich aus, ohne dies ausdrücklich auszusprechen. Solches ergibt sich auch aus einem Rückschluß aus § 28 Abs. 1 Satz 1 des Berliner Schulgesetzes, wonach die Grundschule die Klassen eins bis sechs umfaßt, sowie aus § 28 Abs. 3 des Berliner Schulgesetzes, wonach von der fünften Klasse an eine Fremdsprache als Pflichtfach gelehrt wird. Mit dieser Regelung setzt der Berliner Schulgesetzgeber voraus, daß es im übrigen, insbesondere in den Klassen eins bis vier, bei der herkömmlichen Aufgabenstellung der Grundschule verbleibt, wozu insbesondere auch die Unterweisung im richtigen Schreiben der deutschen Sprache gehört. Einer ausdrücklichen Erwähnung der Unterweisung in den Grundkulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen bedarf es wegen ihrer Selbstverständlichkeit nicht; diese Unterweisung ist traditioneller Mindeststandard staatlicher Schule und erfordert daher keine ausdrückliche Steuerung durch den parlamentarischen Gesetzgeber, die auf ein bloßes Nachzeichnen des als unumgänglich Vorhandenen hinauslaufen müßte.
b) Dem Verwaltungsgericht hat das vorhandene Regelwerk des Berliner Schulgesetzes als Rechtsgrundlage für die Einführung der reformierten Schreibung an den Schulen des Landes nicht ausgereicht. Es hat vielmehr aus den Bestimmungen des Grundgesetzes gefolgert, daß es insofern einer speziellen gesetzlichen Grundlage bedürfe. Damit hat es indes das maßgebliche Bundesverfassungsrecht unrichtig angewandt. Denn daß ein solches Erfordernis in Wirklichkeit nicht besteht, hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 14. Juli 1998 – 1 BvR 1640/97 – (BVerfGE 98, 218) mit die Verwaltungsgerichte bindender Wirkung entschieden.
aa) Dies ergibt sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG. Nach dieser Vorschrift binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Die Voraussetzungen für die dort normierte Bindungswirkung liegen hier zunächst in zweifacher Hinsicht zweifelsfrei vor. Bei dem Urteil vom 14. Juli 1998 handelt es sich um eine Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die eine Bindungswirkung auszulösen geeignet ist. Adressaten der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG sind alle Gerichte, so daß auch die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit einschließlich des Bundesverwaltungsgerichts davon erfaßt werden.
bb) § 31 Abs. 1 BVerfGG setzt unausgesprochen voraus, daß der Fall, welcher der Bindungswirkung auslösenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt, und der Fall, welcher vom Fachgericht als Adressat der Bindungswirkung zu entscheiden ist, ein hohes Maß an Deckungsgleichheit aufweisen. Es muß sich um einen in jeder wesentlichen Beziehung gleichgelagerten Fall bzw. einen echten Parallel- oder Wiederholungsfall handeln, den die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts präjudiziert (vgl. Rennert, in: BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 1992, § 31 Rn. 59, 68, 74). In einer frühen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, durch § 31 Abs. 1 BVerfGG sei ausgeschlossen, daß derselbe Sachverhalt noch einmal einer Nachprüfung in einem gerichtlichen oder behördlichen Verfahren unterworfen werden dürfe (Beschluß vom 29. November 1951 – 1 BvR 257/51 – BVerfGE 1, 89, 90). Auch wenn diese Formulierung an die Wirkungen der materiellen Rechtskraft, die von der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zu unterscheiden ist, angenähert erscheint, so bleibt doch richtig, daß es nicht allein die abstrakten verfassungsrechtlichen Obersätze als solche sind, die Bindungswirkung entfalten, sondern diese in Verbindung mit der verfassungsrechtlichen Bewertung des konkreten, entschiedenen Sachverhalts. Eine derartige Konstellation mit der Folge der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG liegt typischerweise vor, wenn das Bundesverfassungsgericht – auch auf eine Verfassungsbeschwerde hin – eine Rechtsnorm für mit dem Grundgesetz unvereinbar oder vereinbar erklärt (BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1951 – 2 BvG 1/51 – BVerfGE 1, 14, 37; Beschluß vom 2. April 1996 – 1 BvL 19/95 – BStBl 1996 II S. 461; Beschluß vom 1. 17. November 1998 – 1 BvL 10/98 – DStR 1999, 109, 110; BVerwG, Urteil vom 21. Juli 1998 – BVerwG 1 C 32.97 – Buchholz 451.09 IHKG Nr. 11 = DVBl 1999, 47). Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht nur oder auch eine bestimmte Auslegung des einfachen Rechts für verfassungskonform erklärt (BVerfG, Beschluß vom 20. Januar 1966 – 1 BvR 140/62 – BVerfGE 19, 377, 392; Beschluß vom 30. Juni 1976 – 2 BvR 284/76 – BVerfGE 42, 258, 260; BVerwG, Urteil vom 21. Dezember 1967 – BVerwG 8 C 2. 2.67 – BVerwGE 29, 1, 6; Urteil vom 29. Oktober 1981 – BVerwG 1 D 50.80 – BVerwGE 73, 263, 269). In all diesen Fällen kann bei unveränderter Sach- und Rechtslage die auf die jeweilige Rechtsnorm bezogene verfassungsrechtliche Frage dem Bundesverfassungsgericht nicht erneut vorgelegt werden, vielmehr ist die bereits erfolgte verfassungsrechtliche Bewertung bei der anstehenden fachgerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen. Auf diese Weise dient § 31 Abs. 1 BVerfGG der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts von der Befassung mit zahllosen Wiederholungsfällen und sichert zugleich dessen Autorität als dem maßgeblichen Interpreten des Grundgesetzes. Sieht daher zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht ein bestimmtes Verwaltungshandeln als von der verfassungskonformen Auslegung einer Norm gedeckt an, so ist in allen gleichgelagerten Fällen jene Auslegung ebenfalls als verfassungskonform zu betrachten.
Entsprechendes gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, daß ein bestimmtes Verwaltungshandeln nach dem Grundgesetz keiner speziellen Leitentscheidung des Gesetzgebers bedarf. Auch hier geht es um die Beurteilung gesetzgeberischen Handelns am Maßstab der Verfassung. Während in den oben erörterten Fällen positives Tun des Gesetzgebers der Überprüfung unterzogen wird, handelt es sich in diesem – vorliegenden – Fall um gesetzgeberisches Unterlassen. Die Aussage im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998, wonach das Grundgesetz für die Einführung der Rechtschreibreform keine spezielle Ermächtigung verlangt, ist daher fähig, die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zu erzeugen. Sie entfaltet diese Bindungswirkung in bezug auf den vorliegenden Rechtsstreit auch tatsächlich. Denn die Rechtschreibreform, deren Einführung an den Schulen des Landes Schleswig-Holstein ohne ein spezielles Handeln des Gesetzgebers verfassungsgerichtlich gebilligt wurde, ist dieselbe wie diejenige, deren Einführung an Berliner Schulen Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist.
cc) Zur Bestimmung der Reichweite der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG, d.h. hier: zur Bestimmung dessen, was ein in jeder Beziehung gleichgelagerter Fall ist, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Entscheidungsformel und die sie tragenden Gründe zurückzugreifen (Urteil vom 23. Oktober 1951 – 2 BvG 1/51 – BVerfGE 1, 14, 37; Beschluß vom 20. Januar 1966 – 1 BvR 140/62 – BVerfGE 19, 377, 392; Urteil vom 19. Juli 1966 – 2 BvF 1/65 – BVerfGE 20, 56, 87; Beschluß vom 6. November 1968 – 1 BvR 727/65 – BVerfGE 24, 289, 297; Beschluß vom 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/74 – BVerfGE 40, 88, 93; Beschluß vom 2. April 1996 – 1 BvL 19/95 – BStBl 1996 II S. 461; Beschluß vom 17. November 1998 – 1 BvL 10/98 – DStR 1999, 109, 110). Tragend ist dabei derjenige Teil der Entscheidungsbegründung, der aus der Deduktion des Gerichts nicht mehr hinwegzudenken ist, ohne daß sich das im Tenor formulierte Ergebnis ändert (vgl. Maunz/Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 31 Rn. 16). Unter Anlegung der vorstehenden Maßstäbe ist die Reichweite der Bindungswirkung des Urteils vom 14. Juli 1998 wie folgt zu bestimmen:
(1) Als tragend erweisen sich zunächst die Aussagen dazu, daß die Rechtschreibung einer staatlichen Regelung zugänglich ist (BVerfGE 98, 218, 246 ff.) und daß die Länder für die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen die Kompetenz besitzen (BVerfGE 98, 218, 248 ff.).
(2) Im Hinblick auf die entgegenstehende Auffassung des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil wesentlich ist die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, daß die Umsetzung der Rechtschreibreform mit Rücksicht auf deren Inhalt, Reichweite und Konsequenzen keiner b e s o n d e r e n gesetzlichen Regelung bedürfe (BVerfGE 98, 218, 250 ff.). Diese Aussage wird zunächst in bezug auf das Elternrecht (BVerfGE 98, 218, 252 ff.), sodann aber auch in bezug auf die Grundrechtsausübung der Schüler (BVerfGE 98, 218, 256 ff.) sowie von Dritten (BVerfGE 98, 218, 258 ff.) getroffen.
Die – im Rahmen der Erörterung des Gesetzesvorbehalts angestellten – Erwägungen zur Grundrechtsausübung der Schüler (BVerfGE 98, 218, 256 ff.) gehören zu den tragenden Entscheidungsgründen. Wie die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzesvorbehalt im Schulwesen belegen (BVerfGE 98, 218, 250 ff.), kommt es für die Notwendigkeit einer speziellen gesetzlichen Grundlage darauf an, ob die Einführung der Rechtschreibreform „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte” ist. Diese Frage war aber umfassend und nicht allein abhängig von der Person der Beschwerdeführer und ihrer jeweiligen Grundrechtsträgerschaft zu beantworten. Es waren die Grundrechtspositionen aller von der Rechtschreibreform Betroffenen einzubeziehen. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht in bezug auf den Gesetzesvorbehalt nicht nur die Grundrechte von Eltern und Schülern, sondern auch diejenigen von Dritten (Verlagen und sonstigen Wirtschaftsunternehmen) geprüft (BVerfGE 98, 218, 258 ff.).
Die Bindungswirkung auch in Ansehung der Grundrechte der Schüler kann nicht deswegen in Zweifel gezogen werden, weil das Bundesverfassungsgericht insoweit im wesentlichen auf seine Ausführungen zu Bedeutung und Konsequenzen der Reform für das elterliche Erziehungsrecht Bezug genommen hat (BVerfGE 98, 218, 257). Bezugnahmen in gerichtlichen Entscheidungen sind lediglich ein technisches Mittel zur Vereinfachung der Darstellung. Ob der durch Bezugnahmen ausgefüllte Text zu den tragenden Erwägungen gehört oder nicht, läßt sich nicht generell, sondern nur aus dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe beantworten. Daß die verfassungsrechtliche Billigung der Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen nur unvollkommen und die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Schülergrundrechten im Rahmen der Erörterung des Gesetzesvorbehalts nur unverbindliches Beiwerk seien, kann nach dem Vorstehenden nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden.
(3) Zu den tragenden Entscheidungsgründen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 gehört auch die Aussage, daß die Unterrichtung nach den neuen Rechtschreibregeln in sachlicher Hinsicht Grundrechte der Schüler nicht verletzt (BVerfGE 98, 218, 260 f.). Dies wird zwar im Rahmen der Erörterung des Elternrechts ausgeführt. Insofern bleibt jedoch ausdrücklich offen, ob und inwieweit die Beschwerdeführer nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG die Verletzung von Grundrechten ihrer schulpflichtigen Kinder geltend machen können. Die anschließende Sachprüfung mit dem Ergebnis, daß die Umsetzung der Neuregelungen für Schülerinnen und Schüler keine unzumutbaren Konsequenzen hätte, ist daher entscheidungserheblich. Gerade diese Passage belegt, daß es dem Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Bewertung der Rechtschreibreform darauf ankam, auch in bezug auf die Grundrechte der Schüler zu einer Sachaussage zu gelangen, die keine Frage offenläßt und damit erschöpfend ist.
2. Das angefochtene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die vom Verwaltungsgericht noch offengelassenen Fragen sind im klageabweisenden Sinne zu beantworten.
Die Reformierung der Schreibung der deutschen Sprache ist staatlicher Regelung zugänglich (BVerfGE 98, 218, 246 ff.). Den Ländern kommt die entsprechende Kompetenz zu (BVerfGE 98, 218, 248 ff.). Das Bundeskabinett hat die Beschlüsse der Kultusminister- und der Ministerpräsidentenkonferenz am 17. April 1996 zustimmend zur Kenntnis genommen (BVerfGE 98, 218, 249 f.). Ob der Beklagte befugt war, die Rechtschreibreform an den Berliner Schulen vor dem 1. August 1998 einzuführen, ist unerheblich, weil dieser Zeitraum inzwischen verstrichen ist und ein etwaiges rechtswidriges Verwaltungshandeln vor jenem Zeitpunkt den geltend gemachten Unterlassungsanspruch nicht mehr zu tragen vermag.
1. 3. An einer Entscheidung in der Sache (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO) ist der Senat nicht mit Blick auf Art. 20 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin gehindert. Die entsprechende Passage auf S. 16 des angefochtenen Urteils ist dahin zu verstehen, daß jene Vorschrift des Landesverfassungsrechts im vorliegenden Zusammenhang keinen weitergehenden Anspruch vermittelt als die einschlägigen Vorschriften des Grundgesetzes. Diese gewähren aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keinen Anspruch darauf, daß die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen unterbleibt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Niehues, Albers, Henkel, Eckertz-Höfer, Büge
Fundstellen
NJW 1999, 3503 |
BVerwGE |
BVerwGE, 355 |
NVwZ 2000, 63 |
DÖV 2000, 167 |
NJ 1999, 247 |
NJ 1999, 500 |
VR 2000, 103 |
BayVBl. 1999, 764 |
DVBl. 1999, 1579 |