Entscheidungsstichwort (Thema)
Normenkontrolle. Antragsbefugnis. Rechtsschutzbedürfnis. Bebauungsplan
Leitsatz (amtlich)
Für einen Normenkontrollantrag gegen einen Bebauungsplan kann ein Rechtsschutzbedürfnis auch dann bestehen, wenn ein Teil der im Plangebiet zulässigen Vorhaben bereits unanfechtbar genehmigt und verwirklicht worden ist.
Normenkette
VwGO § 47 Abs. 2
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 18.09.1998; Aktenzeichen 8 S 1279/98) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. September 1998 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Antragsteller wenden sich im Wege der Normenkontrolle gegen einen Bebauungsplan aus dem Jahre 1977, der in seinem zeichnerischen Teil u.a. Bauflächen für die Errichtung einer Sonderschule, der Räumlichkeiten einer Strandbadanlage sowie einer Eislaufbahn vorsieht und der in seinem Textteil die Möglichkeit eröffnet, auf der außerhalb der Baugrenzen festgesetzten Grünfläche Schwimmbecken mit den für den Badebetrieb erforderlichen Nebeneinrichtungen anzulegen. Die Sonderschule und die Badeanlage wurden bereits im Stadium der Planaufstellung genehmigt und werden seit ihrer Fertigstellung bestimmungsgemäß genutzt. Die Antragsteller sind Eigentümer von Grundstücken in der Nachbarschaft des Plangebiets. Sie setzen sich gegen die nach ihrer Ansicht gebietsunverträgliche Nutzung zur Wehr und beklagen unzumutbare Lärmbeeinträchtigungen.
Das Normenkontrollgericht hat ihre Anträge durch Urteil vom 18. September 1998 mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, ihnen fehle das Rechtsschutzinteresse. Sie könnten ihre Rechtsstellung nicht verbessern, auch wenn der Bebauungsplan für nichtig erklärt werde. Das Strandbad sei auf der Grundlage einer unanfechtbaren Baugenehmigung aus dem Jahre 1975 errichtet worden. An der Bestandskraft würde eine Nichtigerklärung des Bebauungsplans nichts ändern. Eine Rücknahme der Baugenehmigung komme wegen des langen Zeitraums, der seit der Erteilung verstrichen sei, nicht ernsthaft in Betracht.
Auf die Beschwerde der Antragsteller hin hat der Senat die Revision durch Beschluß vom 8. Februar 1999 mit der Begründung zugelassen, das Normenkontrollurteil weiche von dem Senatsbeschluß vom 28. August 1987 – BVerwG 4 N 3.86 – (BVerwGE 78, 85) ab.
Die Antragsteller tragen vor: Der Bebauungsplan sei nichtig. Er verstoße gegen Vorschriften des Naturschutzrechts. Außerdem leide er an einem Ausfertigungs- und einem Verkündungsmangel.
Die Antragsteller beantragen,
das Urteil des Normenkontrollgerichts vom 18. September 1998 zu ändern und den Bebauungsplan für nichtig zu erklären.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie tritt dem Vorbringen der Antragsteller entgegen.
Der Oberbundesanwalt hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig. Sie genügt den Begründungsanforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO. Unschädlich ist, daß die Antragsteller keine Verfahrensrüge erhoben haben, obwohl sie eine Sachentscheidung begehren, das Normenkontrollgericht wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses hingegen nur ein Prozeßurteil erlassen hat. Dahinstehen kann, ob dies schon daraus folgt, daß das Rechtsschutzbedürfnis in jedem Stadium des Verfahrens unter Einschluß der Revisionsinstanz auch ohne Rüge von Amts wegen zu prüfen ist. Jedenfalls erübrigte sich im Streitfall eine Verfahrensrüge ausnahmsweise deshalb, weil die Antragsteller anhand der Begründung des Zulassungsbeschlusses vom 8. Februar 1999 den Eindruck gewinnen durften, daß der Senat in der Frage des Rechtsschutzinteresses den vom Normenkontrollgericht eingenommenen Standpunkt nicht billige. Konnten sie bereits diesen Beschluß als Bestätigung dafür werten, daß ihnen ein Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden könne, so brauchten sie nicht eigens nochmals geltend zu machen, daß die Vorinstanz ihren Normenkontrollantrag unter diesem Blickwinkel verfahrensfehlerhaft als unzulässig abgewiesen habe.
Die Revision hat mit dem Ergebnis der Zurückverweisung Erfolg.
Das Normenkontrollgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Normenkontroll-antrag wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig ist.
Freilich hat der Senat mehrfach bekräftigt, daß das Rechtsschutzbedürfnis, das im Normenkontrollverfahren als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung neben die Antragsbefugnis tritt, dann fehlt, wenn sich die Inanspruchnahme des Gerichts als nutzlos erweist, weil der Antragsteller seine Rechtsstellung mit der begehrten Entscheidung nicht verbessern kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Juli 1989 – BVerwG 4 N 3.87 – BVerwGE 82, 225, vom 25. Mai 1993 – BVerwG 4 NB 50.92 – und vom 22. September 1995 – BVerwG 4 NB 18.95 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 79 und 108). Hiervon ist nach der Rechtsprechung des Senats u.a. dann auszugehen, wenn der Antragsteller Festsetzungen bekämpft, auf deren Grundlage bereits Vorhaben genehmigt und verwirklicht worden sind (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. August 1987 – BVerwG 4 N 3.86 – BVerwGE 78, 85 und vom 9. Februar 1989 – BVerwG 4 NB 1.89 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 37).
Das Normenkontrollgericht verkürzt die Rechtsschutzproblematik indes, wenn es ausschließlich auf die unanfechtbar gewordene Baugenehmigung für das Strandbad abhebt, die die Grundlage für die Errichtung der für die Badeanstalt erforderlichen Funktionsräume bildet (Verwaltung, Kasse, Umkleide, Toiletten, Duschen, Sauna, Kiosk u. dgl.). Zu Unrecht beruft es sich für seine Auffassung auf den dem Senatsbeschluß vom 28. August 1987 vorangestellten Leitsatz, wonach einem Normenkontrollantrag, der sich gegen Festsetzungen eines Bebauungsplans richtet, zu deren Verwirklichung schon eine unanfechtbare Genehmigung erteilt worden ist, das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Antragsteller dadurch, daß der Bebauungsplan für nichtig erklärt wird, seine Rechtsstellung derzeit nicht verbessern kann. Mit diesem Zitat wird das Normenkontrollgericht dem eigentlichen Aussagegehalt der Senatsentscheidung nicht gerecht. Der Leitsatz ist auf den Sachverhalt zugeschnitten, der dem seinerzeit anhängigen Vorlageverfahren zugrunde lag. Beantragt war, einen Bebauungsplan insoweit für nichtig zu erklären, als er einen Bolzplatz festsetzte, für den bereits zuvor eine Baugenehmigung erteilt worden war. Vor diesem Hintergrund läßt sich dem Beschluß vom 28. August 1987 nicht der abstrakte Rechtssatz entnehmen, daß das Rechtsschutzbedürfnis entfällt, sobald ein beliebiges Vorhaben, dessen Zulässigkeit sich nach dem Bebauungsplan bestimmt, unanfechtbar genehmigt worden ist. Schafft ein Bebauungsplan die Grundlage für die Zulassung einer Mehrzahl von Vorhaben, so kann ein Antragsteller, der den Plan angreift, seine Rechtsstellung vielfach, wenn nicht sogar in der Regel, auch dann noch verbessern, wenn aus dem Kreis der planungsrechtlich zulässigen Vorhaben eines verwirklicht worden ist. Der Senat hat in dem vom Normenkontrollgericht zitierten Beschluß klargestellt, daß es insoweit nicht auf eine punktuelle Sicht, sondern auf eine Gesamtschau ankommt. Ob der Antragsteller seine Rechtsstellung durch einen erfolgreichen Angriff auf den Bebauungsplan aktuell verbessern kann, hat er losgelöst von den Besonderheiten des seinerzeit anhängigen Verfahrens davon abhängig gemacht, ob „der Bebauungsplan oder die mit dem Antrag bekämpfte einzelne Festsetzung durch genehmigte (oder genehmigungsfreie) Maßnahmen vollständig verwirklicht” worden ist (a.a.O., S. 92). Dahinstehen kann, welcher Zustand im Plangebiet erreicht sein muß, damit von einer „vollständigen Verwirklichung” des Bebauungsplans die Rede sein kann. Jedenfalls läßt sich das Rechtsschutzbedürfnis nicht schon dann verneinen, wenn die Erreichung wesentlicher Planungsziele noch aussteht. Ist der Bebauungsplan erst torsohaft verwirklicht, so bedarf es zumindest näherer Erläuterung, weshalb die Nichtigerklärung für den Antragsteller gleichwohl ohne jeden Nutzen sein soll.
Das Normenkontrollgericht legt selbst dar, daß der angegriffene Bebauungsplan neben den Festsetzungen, die bereits verwirklicht worden sind, Festsetzungen enthält, die im Planungsstadium steckengeblieben sind. Er nennt keine Gründe, die den Schluß nahelegen, daß diese Festsetzungen im Gesamtzusammenhang von bloß untergeordneter Bedeutung wären und für die Nachbarschaft keine zusätzlichen Beeinträchtigungen erwarten ließen. Eher drängt sich die Annahme des Gegenteils auf. Bisher unausgeschöpft geblieben ist die durch den angegriffenen Bebauungsplan eröffnete Möglichkeit, eine Eislaufbahn einzurichten und auf der außerhalb der Baugrenzen festgesetzten Grünfläche zusätzliche Schwimmbecken mit den für den Badebetrieb erforderlichen Nebeneinrichtungen anzulegen. Würde eine Eislaufbahn errichtet, so würden die Voraussetzungen dafür geschaffen, das für Erholungszwecke vorgesehene Areal am Bodensee nicht nur in der warmen, sondern auch in der kalten Jahreszeit einem breiten Publikum zu öffnen. Zusätzliche Schwimmbecken wären geeignet, die Kapazität und die Attraktivität des Strandbades zu steigern. Negative Folgen für die Antragsteller ließen sich in beiden Fällen nicht ausschließen.
Auf der Grundlage des Senatsbeschlusses vom 28. August 1987 würde das Rechtsschutzbedürfnis allenfalls dann fehlen, wenn die nach dem Bebauungsplan zulässigen, aber noch nicht verwirklichten Vorhaben unabhängig von der Gültigkeit des Plans zugelassen werden müßten, ohne von den Antragstellern abgewehrt werden zu können. Das Normenkontrollgericht hat indes keine Feststellungen getroffen, die den Schluß zulassen, daß die Eislaufanlage und die Schwimmbecken auch bei Anwendung des § 34 oder des § 35 BauGB nicht am Widerstand der Antragsteller scheitern würden.
Der Diskussion wert mag sein, ob das Rechtsschutzinteresse der Antragsteller so weit reicht, daß der Bebauungsplan insgesamt für nichtig erklärt wird, oder sich darauf beschränkt, daß die noch nicht verwirklichten Festsetzungen zum Gegenstand der Normenkontrolle gemacht werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Juni 1991 – BVerwG 4 NB 35.89 – BVerwGE 88, 268, und vom 25. Februar 1997 – BVerwG 4 NB 30.96 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 116). Selbst wenn die Antragsteller mit ihrem Antrag über das von ihnen erreichbare Ziel hinausgeschossen wären, ließe sich hieraus indes nicht ableiten, daß ihnen jegliches Rechtsschutzbedürfnis abzuerkennen ist.
Der Senat ist daran gehindert, in Anwendung des § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst zu entscheiden. Die Antragsteller sind in der Fehlvorstellung befangen, daß mit der Bejahung des Rechtsschutzinteresses der Weg dafür geebnet ist, den angegriffenen Bebauungsplan auf seine Gültigkeit hin zu überprüfen. Sie verkennen, daß mit dem Rechtsschutzbedürfnis nur eine von mehreren Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt ist. Hinzu kommen muß im Normenkontrollverfahren jedenfalls auch die Antragsbefugnis, die nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nur gegeben ist, wenn eine Rechtsverletzung geltend gemacht werden kann. Die Frage, ob die Antragsteller im Sinne dieser Vorschrift antragsbefugt sind, hat das Normenkontrollgericht ausdrücklich offengelassen. Auf der Grundlage seiner Feststellungen ist es dem Senat nicht möglich, sich insoweit ein eigenes abschließendes Urteil zu bilden. Dies verwehrt es ihm auch, die Normenkontrollentscheidung mit anderer Begründung im Ergebnis zu bestätigen.
Das Normenkontrollgericht beschränkt sich unter dem Blickwinkel der Antragsbefugnis auf den Hinweis, daß die „Grundstücke (der Antragsteller) im Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans noch gar nicht bebaut waren und aufgrund ihrer Lage im Außenbereich auch nur im Rahmen des § 35 BBauG bebaut werden konnten”, sowie auf die Erwägung, daß § 244 BauGB a.F. einem Erfolg des Normenkontrollantrages von vornherein im Wege stehen könnte. Diese Ausführungen lassen indes, wenn sie nicht durch weitere Feststellungen untermauert werden, für sich genommen nicht den Schluß zu, daß die Antragsbefugnis fehlt. Die Antragsteller treten der Darstellung, ihre Anwesen seien zur Zeit der Entstehung des Bebauungsplans Teil des Außenbereichs gewesen, entschieden entgegen. Im übrigen läßt sich nicht von vornherein in Abrede stellen, daß auch Eigentümer, deren Grundstücke außerhalb des Plangebiets im Außenbereich liegen, gegebenenfalls Belange ins Feld führen können, die als Teil des Abwägungsmaterials bei der Planungsentscheidung zu berücksichtigen sind. Schon der Nachweis bloßer Abwägungsrelevanz aber kann ausreichen, um im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Rechtsverletzung geltend zu machen, die eine Antragsbefugnis begründet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1998 – BVerwG 4 CN 2.98 – DVBl 1999, 100). Auch die Angaben, die sich im Normenkontrollurteil zu § 244 BauGB a.F. finden, sind für eine abschließende Entscheidung durch das Revisionsgericht unergiebig. Das Normenkontrollgericht läßt es insoweit mit der Bemerkung bewenden, die Antragsteller hätten keine Rüge erhoben, die sich unter diese Bestimmung subsumieren lasse. Ob der Bebauungsplan aus dem Jahre 1977 noch einer gerichtlichen Gültigkeitsprüfung zugänglich ist, hängt indes nicht davon ab, ob die Antragsteller in der vom Normenkontrollgericht bezeichneten Richtung Aktivitäten entfaltet haben. Nach § 244 Abs. 2 Satz 1 BauGB a.F. sind Mängel der Abwägung von Satzungen, die vor dem 1. Juli 1987 bekanntgemacht worden sind, unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb von sieben Jahren nach dem 1. Juli 1987 schriftlich gegenüber der Gemeinde geltend gemacht worden sind. Die Rechtsfolgen dieser Regelung treten indes schon dann nicht ein, wenn sich irgendjemand der Gemeinde gegenüber schriftlich auf einen Abwägungsfehler beruft. Eine innerhalb von sieben Jahren erhobene Rüge wirkt gegenüber jedermann (vgl. zur Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften BVerwG, Beschluß vom 18. Juni 1982 – BVerwG 4 N 6.79 – DVBl 1982, 1095). Ob der Bebauungsplan der Antragsgegnerin in der Zeit bis zum 30. Juni 1994 der Gegenstand etwaiger Angriffe von dritter Seite war, die die Merkmale des § 244 Abs. 2 Satz 1 BauGB a.F. erfüllten, läßt sich dem Normenkontrollurteil nicht entnehmen. Im übrigen läßt das Normenkontrollgericht bei seinen Überlegungen außer acht, daß der Plan nach Auffassung der Antragsteller auch an einem Ausfertigungsmangel leidet und nicht erforderlich im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB ist. Fehler dieser Art werden von der Unbeachtlichkeitsregelung des § 244 Abs. 2 Satz 1 BauBG a.F. nicht erfaßt
Damit das Normenkontrollgericht Gelegenheit erhält, die Feststellungen zur Zulässigkeit und ggf. auch zur Begründetheit des Antrags nachzuholen, zu denen es von seinem Rechtsstandpunkt aus bisher keinen Anlaß hatte, ist die Sache nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Unterschriften
Berkemann, Lemmel, Halama, Rojahn, Kimmel
Fundstellen
Haufe-Index 1392609 |
BauR 1999, 1131 |
NuR 1999, 576 |
ZfBR 2000, 53 |
BRS 2000, 258 |
GV/RP 2000, 310 |
UPR 1999, 350 |
FSt 2000, 699 |
FuBW 2000, 21 |
FuNds 2000, 271 |