Rz. 2
Die Vorschrift entspricht § 48 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 bis 5 VwVfG und § 130 Abs. 1, 4 AO. Sie ersetzte die zuvor nur in einzelnen Gesetzen enthaltenen Regelungen über Zugunstenbescheide durch eine generelle Regelung und eine zwingende Überprüfungspflicht. Sie durchbricht den Grundsatz der Bestandskraft unanfechtbarer rechtswidriger Entscheidungen zugunsten der Betroffenen und eröffnet dadurch die ständige und wiederholte Überprüfung belastender Entscheidungen.
Ziel des § 44 ist die Auflösung der Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines unrichtigen Verwaltungsaktes (VA) und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten der Letzteren (BSG, Urteil v. 28.5.1997, 14/10 RKg 25/95, SozR 3-1300 § 44 Nr. 21).
Die Vorschrift gewährt auch dann noch einen Überprüfungsanspruch, wenn der zu überprüfende VA von einem Gericht als rechtmäßig bestätigt worden ist (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 10.3.2008, L 1 U 2511/07, unter Hinweis auf BSGE 51 S. 139). Wird jedoch in einem Prozessvergleich neben seiner prozessbeendenden Wirkung auch eine materiell-rechtliche Regelung des Sozialrechtsverhältnisses des Betroffenen herbeigeführt, dann schließt die Erledigung des Anspruchs durch gerichtlichen Vergleich einen Anspruch auf Neufeststellung aus § 44 mit Wirkung für die Vergangenheit wegen seiner prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkung aus (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 2.11.2006, L 1 AL 24/06 m. w. N.).
Vom sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (vgl. Rz. 2a) unterscheidet sich der Anspruch aus § 44 Abs. 1 dadurch, dass sich § 44 Abs. 1 nur auf die Beseitigung der Folgen von Verletzungen sozialrechtlicher Hauptpflichten (Erlass rechtswidriger VA, hierdurch unterlassene Gewährung von Sozialleistungen) bezieht, während der auf richterrechtlicher Rechtsfortbildung beruhende Herstellungsanspruch vorrangig solche Folgen zu kompensieren sucht, die sich aus der Verletzung sozialrechtlicher Nebenpflichten (unzutreffende oder gänzlich unterbliebene Beratung etc.) ergeben. § 44 Abs. 1 gibt einen Anspruch auf Beseitigung rechtswidriger VA und rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen (mit zeitlicher Einschränkung, § 44 Abs. 4) auch dann, wenn diese bereits bestandskräftig geworden sind.
Rz. 2a
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist gesetzlich nicht geregelt, er beruht allein auf richterrechtlicher Rechtsfortbildung. Er hat zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt hat (vgl. BSG, Beschluss v. 16.12.2008, B 4 AS 77/08 B m. w. N.). Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem bei dem Leistungsberechtigten eingetretenen Nachteil (z. B. Rechtsverlust) ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen (vgl. grundlegend hierzu BSG, Urteil v. 1.4.2003, BSGE 92 S. 267, 279 = SozR 4-4300 § 137 Nr. 1 m. w. N. – Lohnsteuerklassenwechsel; vgl. aber auch BSG, Urteil v. 10.5.2007, B 7a AL 12/06 R). Durch den Herstellungsanspruch wird der Bürger so gestellt, als ob die Behörde ihre Beratungs- und Aufklärungspflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte. Liegt aber eine abschließende gesetzliche Regelung vor, ist für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch daneben kein Raum (BSG, Urteil v. 2.11.2007, B 1 KR 14/07 R). Greift also etwa die Regelung des § 28 (Rückwirkung bei wiederholter Antragstellung) ein, so ist daneben für die Anwendung des nur subsidiären Herstellungsanspruchs kein Raum. Die Anwendbarkeit des § 28 ist daher vorrangig zu klären (BSG, Urteil v. 19.10.2010, B 14 AS 16/09). Die in § 13 Abs. 3 SGB V und § 15 Abs. 1 SGB IX geregelten Ansprüche auf Kostenerstattung sind abschließend und schließen die Anwendung eines Herstellungsanspruchs aus (BSG, Urteil v. 2.11.2007, B 1 KR 14/07 R).
Rz. 2b
Hinsichtlich der Maßstäbe für die Feststellung der Verletzung einer Beratungspflicht ist anerkannt, dass der Leistungsträger unabhängig von einem konkreten Beratungsbegehren gehalten ist, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage getretene Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt würden (BSG, Urteil v. 2.11.2007, B 1 KR 14/07 R = SozR 4-2500 § 13 Nr. 15 m. w. N.). Ist das Leistungsangebot des Leistungsträgers (z. B. einer Krankenkasse) so unübersichtlich, dass sich im Einzelfall nicht vermeiden lässt, einen konkreten Weg aufzuzeigen, der zu den gesetzlich möglichen Leistungen führt, ist dieses geboten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich aus dem Verhalten des Versicherten ergibt, dass er über die gesetzlichen Möglichkeiten nicht ausreichend informiert ist. Der Inform...