Rechtskraft nein
Entscheidungsstichwort (Thema)
Videoüberwachung. Bildübertragung. Bildaufzeichnung. Informationelle Selbstbestimmung. Eingriff. Grundrechtsverzicht. Gefahrenabwehr. Gefahrenvorsorge. Normenklarheit. Bestimmtheit. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eingriffsschwelle. Restriktive Auslegung. Kriminalitätsbrennpunkt. Ortsbezogene Lagebeurteilung. Dokumentation. Offenheit. Informationsfreiheit. Mannheim
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelung in § 21 Abs. 3 PolG i.V.m. § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG über die sog. Videoüberwachung ist mit höherrangigem Recht vereinbar.
2. Der Landesgesetzgeber konnte sich bei der Einführung dieser Regelung auf seine Gesetzgebungskompetenz für das Polizeirecht als Gefahrenabwehrrecht stützen.
3. Schon die Beobachtung bestimmter Örtlichkeiten mittels Bildübertragung greift in den Schutzbereich des durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ein; erst recht gilt dies für die Bildaufzeichnung von Personen.
4. Die Vorschrift des § 21 Abs. 3 PolG i.V.m. § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG wird den Geboten der Normenklarheit und Bestimmtheit noch gerecht. Dies gilt auch im Hinblick auf die Beschreibung der zu überwachenden Örtlichkeiten. Zwar erscheint die tatbestandliche Anknüpfung an die Bestimmung über die Identitätsfeststellung an gefährlichen Orten im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG verunglückt, weshalb es einer weitergehenden Eingrenzung und Konkretisierung der örtlichen Voraussetzungen des Eingriffs auch im Lichte des betroffenen Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bedarf. Diesem Erfordernis kann indes im Wege der Auslegung Rechnung getragen werden.
5. Da die Regelung nicht das Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraussetzt, sondern in erster Linie darauf abzielt, im Vorfeld konkreter Gefahren Straftaten durch Abschreckung zu verhindern, handelt es sich um eine Maßnahme der Gefahrenvorsorge. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen derartige Maßnahmen bestehen nicht. Sie bedürfen aber besonderer Rechtfertigung und sind deshalb in spezifischer Weise am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen.
6. Die Regelung des § 21 Abs. 3 PolG i.V.m. § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG greift bei der gebotenen restriktiven Auslegung, nach der sie auf sog. „Kriminalitätsbrennpunkte” beschränkt ist, nicht unzumutbar in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein.
7. Die Annahme eines Kriminalitätsbrennpunktes setzt zunächst voraus, dass sich die Kriminalitätsbelastung des Ortes deutlich von der an anderen Orten abhebt. Da die Überwachung nach ihrer Zweckrichtung den besonderen örtlichen Gefahrenschwerpunkten gilt und damit einen örtlichen Bezug hat, müssen die Vergleichsorte innerhalb derselben Stadt liegen. Ferner muss aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt sein, dass dort in Zukunft weitere Straftaten begangen werden und dass die Videoüberwachung zu deren Bekämpfung erforderlich ist. Bezugspunkt der Kriminalitätsbelastung ist nach der gesetzgeberischen Intention in erster Linie der Bereich der Straßenkriminalität.
8. Ob die Voraussetzungen für die Qualifizierung einer Örtlichkeit als Kriminalitätsbrennpunkt vorliegen, hat die zuständige Behörde auf der Grundlage einer ortsbezogenen Lagebeurteilung zu ermitteln. Der Exekutive steht hierbei kein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.
9. Um den Gerichten eine tatsächlich wirksame Kontrolle der Lagebeurteilung zu ermöglichen, obliegt es der zuständigen Behörde, diese in nachvollziehbarer Weise zu dokumentieren.
10. Die Videoüberwachung erfolgt offen im Sinne des § 21 Abs. 3 PolG, wenn die Tatsache der Überwachung der Örtlichkeit für den Bürger (etwa aufgrund der Wahrnehmbarkeit der Aufnahmekameras oder aufgrund von Hinweisschildern, Presseveröffentlichungen u.Ä.) erkennbar ist. Die Erkennbarkeit muss jedenfalls auch unmittelbar am Ort der Durchführung der Maßnahme gegeben sein.
11. Die in der Mannheimer Innenstadt durchgeführte Videoüberwachung ist rechtmäßig.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 8; PolG § 21 Abs. 3-4, § 26 Abs. 1 Nr. 2; LDSG § 12
Verfahrensgang
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10.10.2001 – 11 K 191/01 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Überwachung bestimmter öffentlicher Verkehrsräume in der Innenstadt Mannheims mit dort installierten Videokameras.
Durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Polizeigesetzes und des Meldegesetzes vom 19.12.2000 (GBl. S. 752) wurde § 21 des Polizeigesetzes geändert und die Möglichkeit der offenen Videoüberwachung bestimmter öffentlich zugänglicher Orte vorgesehen. In der „Führungs- und Einsatzanordnung Videoüberwachung im öffentlichen Raum” vom 22.2.2001 (Az. 3-1220.3/129) hat das Innenminis...