Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhandlung in neuen Bundesländern
Leitsatz (amtlich)
- Für die Bescheidung von Anträgen auf Terminverlegung ist der Senatsvorsitzende zuständig.
- Sitzungen des Bundesarbeitsgerichts können in den neuen Bundesländern stattfinden, wenn dies im Interesse der Rechtsfindung erforderlich ist.
Normenkette
ZPO §§ 216, 219; ArbGG § 40 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Beklagten, den Termin vom 21. April 1993, 9.00 Uhr, in Erfurt aufzuheben und neuen Termin in Kassel anzuberaumen, wird zurückgewiesen.
Tatbestand
I. Beim Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts sind sieben Sachen anhängig, in denen über die Anrechnung von Leistungen aus betrieblichen Sozialplänen auf tarifliche Leistungen zu entscheiden ist, die nach Tarifverträgen über Kündigungsschutz und Qualifizierung bei Umstrukturierungsmaßnahmen für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Metall- und Elektroindustrie zu zahlen sind. Der Vorsitzende des Vierten Senats hat Termin auf Mittwoch, den 21. April 1993, 9.00 Uhr, in Erfurt angesetzt. Die Beklagte, ein Unternehmen in Brandenburg, hat durch seine Prozeßbevollmächtigte Aufhebung des Termins mit der Begründung beantragt, die Sitzungen des Gerichts müßten am Sitz des Bundesarbeitsgerichts in Kassel stattfinden.
Entscheidungsgründe
II. Der Antrag ist nicht begründet. Er ist zurückzuweisen.
1. Der Vorsitzende des Vierten Senats war für die Terminbestimmung zuständig. Nach § 216 Abs. 1 ZPO werden die Termine von Amts wegen bestimmt, wenn Anträge oder Erklärungen eingereicht werden, über die nur nach mündlicher Verhandlung entschieden werden kann. Über die Revisionen gegen die Urteile verschiedener Bezirks- und Landesarbeitsgerichte in den neuen Bundesländern kann nur nach mündlicher Verhandlung entschieden werden (§ 72 Abs. 5 ArbGG, § 555 ZPO). Nach § 216 Abs. 2 ZPO hat der Vorsitzende die Termine unverzüglich zu bestimmen. Allerdings ist im Schrifttum streitig, ob die Terminbestimmung auch dann dem Vorsitzenden obliegt, wenn ein Termin außerhalb des Gerichtssitzes bestimmt wird. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, daß bei einer Terminbestimmung außerhalb des Gerichtssitzes das Gericht zuständig sei (ohne Angabe von Gründen Thomas/Putzo, ZPO, 17. Aufl., § 219 Anm. 1; unklar Zöller/Stephan, ZPO, 17. Aufl., § 219 Rz 2 – “Gericht” –). Nach anderer Auffassung ist auch in diesen Fällen der Vorsitzende zuständig (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., § 219 Rz 4; Glombick, MDR 1957, 19; Lauterbach, NJW 1957, 796, 797; Gerstenhauer, Die Arbeiter-Versorgung, 1963, 57, 59). Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes obliegt die Terminbestimmung dem Vorsitzenden. Für die von der Gegenmeinung vertretene Auffassung könnte nur sprechen, daß dem Senat die Kompetenz zusteht, in der Sache zu entscheiden. Der Senat kann der Auffassung sein, die Terminbestimmung an einer auswärtigen Stelle sei im Interesse der Sache notwendig oder nicht notwendig. In beiden Fällen kann er in der mündlichen Verhandlung den Vorsitzenden korrigieren. Zumindest bei den Gerichten für Arbeitssachen steht den berufsrichterlichen Mitgliedern bei der Terminbestimmung keine Kompetenz zu. Die Einräumung einer Kompetenz würde in der Sache die ehrenamtlichen Richter in der Sachkompetenz benachteiligen.
2. Der Termin war in Erfurt zu bestimmen. Nach § 219 Abs. 1 ZPO werden die Termine an der Gerichtsstelle abgehalten, sofern nicht die Einnahme eines Augenscheins an Ort und Stelle, die Verhandlung mit einer am Erscheinen vor Gericht verhinderten Person oder eine sonstige Handlung erforderlich ist, die an der Gerichtsstelle nicht vorgenommen werden kann.
a) Die Termine sind grundsätzlich nur an der Gerichtsstelle abzuhalten. Der Begriff der Gerichtsstelle ist nicht identisch mit dem Begriff des Sitzes des Gerichts. Dies ergibt sich schon aus der unterschiedlichen Formulierung des Wortlautes des Gesetzes in § 219 ZPO und § 40 Abs. 1 ArbGG. Nach der letztgenannten Vorschrift ist Sitz des Bundesarbeitsgerichts Kassel. Aber auch aus dem Sachzusammenhang folgt nichts anderes. Nach § 3 der Verordnung über die einheitliche Regelung der Gerichtsverfassung vom 20. März 1935 (RGBl. I S. 403) ist der Bundesminister der Justiz berechtigt anzuordnen, daß außerhalb des Sitzes eines Amtsgerichts Zweigstellen errichtet oder Gerichtstage abgehalten werden. Auch die insoweit eingerichteten Gerichtstage und Zweigstellen sind Gerichtsstelle. Der Deutsche Bundestag hat am 26. Juni 1992 die Beschlüsse der Föderalismuskommission zur Kenntnis genommen und die Begleitung ihrer Umsetzung durch die Kommission angeordnet (BT-Drucks. 12/2853 –neu–). Er hat bislang Gerichtstage nicht eingeführt. Dies ist aber auch nicht notwendig.
b) Nach § 219 Abs. 1 ZPO ist der Vorsitzende des Senats berechtigt, eine Verhandlung außerhalb des Gerichtssitzes anzuordnen, wenn eine sonstige Handlung erforderlich ist, die an der Gerichtsstelle nicht vorgenommen werden kann. Erforderlich ist eine auswärtige Sitzung nicht nur dann, wenn sie technisch nicht am Gerichtssitz vorgenommen werden kann, sondern wenn sie im Interesse der Rechtsfindung an einem auswärtigen Ort vorzunehmen ist. Diese Auslegung ist seit langem in der oberstgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt. Das Reichsgericht hat in einer Entscheidung vom 22. Dezember 1906 (RGSt 39, 348) nicht nur für die Beweisaufnahme ausgeführt, daß Verhandlungen ganz oder teilweise außerhalb des Gerichtssitzes stattfinden können. Dieser Auffassung ist der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 15. Oktober 1968 (BGHSt 22, 250) gefolgt. Nach § 102 Abs. 3 VwGO können die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist. Insoweit wird eine Erforderlichkeit bejaht, wenn der Mehrzahl der “Beteiligten”, also der Betroffenen, der gewählte Verhandlungsort günstiger liegt (Kopp, VwGO, 8. Aufl., § 102 Rz 11 f.). Die Mißachtung dieses Grundsatzes kann sogar eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellen.
In den vom Senat zu behandelnden Rechtsstreitigkeiten ist eine Verhandlung in den neuen Bundesländern notwendig. Die Rechtsstreitigkeiten befassen sich mit der Auslegung von Tarifrecht, das in den neuen Bundesländern gilt. In den gemeinsamen Erklärungen der Treuhandanstalt und der IG-Metall vom 16. April 1992 hat die Treuhandanstalt für die Treuhandunternehmen auf die tarifliche Anrechnung von Sozialplanleistungen verzichtet. Von diesen Rechtsstreitigkeiten wird eine große Anzahl von Arbeitnehmern und Arbeitgebern betroffen, denen im Interesse der Öffentlichkeit der Gerichtssitzung die Möglichkeit eingeräumt werden muß, sich über die Rechtsstaatlichkeit der Verhandlung zu vergewissern.
Auch für den Spruchkörper selbst ist es erforderlich, sich über die Rechtsverhältnisse in den neuen Bundesländern zu vergewissern und in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit zur Erörterung zu geben.
3. Der Vertreter des Klägers hat bei seiner schriftlichen Stellungnahme zu dem Verlegungsantrag sich dahin geäußert, daß bei der Auslegung von allein die neuen Bundesländer betreffendem Tarifrecht wegen der besonderen historischen Verhältnisse der Senat gelegentlich in den neuen Bundesländern verhandeln sollte. Dies braucht noch nicht abschließend entschieden zu werden, wenngleich einiges dafür spricht.
Unterschriften
Schaub
Fundstellen
Haufe-Index 845834 |
BB 1993, 444 |
NJW 1993, 1029 |
NZA 1993, 237 |
ZIP 1993, 230 |