Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuwahl freizustellender Betriebsratsmitglieder
Leitsatz (amtlich)
- Die vor der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG vorgeschriebene Beratung mit dem Arbeitgeber muß mit dem gesamten Betriebsrat erfolgen; eine Beratung nur einzelner Betriebsratsmitglieder mit dem Arbeitgeber genügt nicht. Welchen Einfluß die unterbliebene vorherige Beratung mit dem Arbeitgeber auf die Wirksamkeit der Freistellungswahl hat, bleibt unentschieden.
- Die in § 27 Abs. 1 Satz 5 und § 38 Abs. 2 Satz 10 BetrVG vorgeschriebene Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats zur Abberufung von nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Betriebsausschußmitgliedern und freizustellenden Betriebsratsmitgliedern dient der Absicherung der Verhältniswahl mit dem ihr innewohnenden Minderheitenschutz. Einer solchen Absicherung bedarf es jedoch nur, wenn lediglich ein Teil der gewählten Ausschußmitglieder oder der freizustellenden Betriebsratsmitglieder durch andere Betriebsratsmitglieder ersetzt werden soll. Werden dagegen die Ausschußmitglieder oder die freizustellenden Betriebsratsmitglieder insgesamt neu gewählt, so treten die Neugewählten an die Stelle der früher Gewählten, ohne daß diese erst mit qualifizierter Mehrheit des Betriebsrats abberufen werden müßten.
Normenkette
BetrVG § 38 Abs. 2, § 27 Abs. 1 S. 5, § 29 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LAG München (Beschluss vom 09.10.1991; Aktenzeichen 7 TaBV 2/91) |
ArbG München (Beschluss vom 24.07.1990; Aktenzeichen 14 BV 65/90) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin wird der Beschluß des Landesarbeitsgerichts München vom 9. Oktober 1991 – 7 TaBV 2/91 – aufgehoben.
Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin wird der Beschluß des Arbeitsgerichts München vom 24. Juli 1990 – 14 BV 65/90 – abgeändert.
Der Antrag der Antragsteller wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über die Rechtswirksamkeit der Wahlen der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 30. März 1990 und 9. April 1990.
Im Betrieb der Werksgruppe TVT München der beteiligten Arbeitgeberin, in dem etwa 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt sind, fanden im März 1990 Betriebsratswahlen statt. Es wurden 19 Betriebsratsmitglieder gewählt. Die Vertreter der Gruppe der Angestellten wurden aufgrund von zwei Vorschlagslisten gewählt. Auf der Liste 1 kandidierten gewerkschaftlich organisierte Angestellte, auf der Liste 2 gewerkschaftlich nicht organisierte Angestellte. Über die Liste 1 wurden neun und über die Liste 2 sieben Kandidaten gewählt. Außerdem wurden drei Vertreter der Gruppe der Arbeiter gewählt.
Am 29. März 1990 fand zwischen vier Betriebsratsmitgliedern und Vertretern des Arbeitgebers ein Gespräch über die freizustellenden Betriebsratsmitglieder statt. Die Betriebsratsmitglieder benannten die Kandidaten für die Freistellungswahl. Die Vertreter der Arbeitgeberin erhoben gegen einen Kandidaten (den Beteiligten zu 2), der über die Liste 2 gewählt worden war) Einwendungen.
Am 30. März 1990 fand die konstituierende Sitzung des Betriebsrats, die Wahl des Vorsitzenden (des Beteiligten zu 7) und seines Stellvertreters (Beteiligter zu 8) sowie die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder statt. Die Freistellungswahl erfolgte aufgrund von zwei Wahlvorschlägen. Der eine Vorschlag bestand aus den Beteiligten zu 7) und 8), die über die Liste 1 gewählt worden waren, und der Beteiligten zu 9), die als Vertreterin der Gruppe der Arbeiter zum Betriebsratsmitglied gewählt worden war. Der zweite Vorschlag bestand aus den sieben über die Liste 2 gewählten Vertretern der Angestellten (darunter den Beteiligten zu 1) bis 4). Auf den erstgenannten Wahlvorschlag entfielen elf Stimmen, auf den zweitgenannten acht Stimmen; damit waren aus beiden Wahlvorschlägen jeweils die beiden Erstplatzierten gewählt, und zwar aus dem ersten Wahlvorschlag die Beteiligten zu 7) und 8) und aus dem zweiten Wahlvorschlag die Beteiligten zu 1) und 2). Der Beteiligte zu 7) nahm die Wahl nicht an, um der Beteiligten zu 9) das Nachrücken zu ermöglichen. Die Beteiligte zu 9) nahm die Wahl an.
Die beteiligte Arbeitgeberin erhob gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden, dem Beteiligten zu 7), aus mehreren Gesichtspunkten Einwendungen gegen die Freistellungswahl. Da der Betriebsratsvorsitzende nicht freigestellt worden und deshalb die Beteiligte zu 9) nachgerückt sei, seien in der Sache fünf Freistellungen erfolgt, obwohl in dem Betrieb zur Zeit der Wahl nicht mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen seien und daher eigentlich nur drei Betriebsratsmitglieder hätten freigestellt werden dürfen. Außerdem sei die Freistellung des Beteiligten zu 2) zur Zeit aus dienstlichen Gründen nicht vertretbar. Schließlich habe die Beratung mit der Arbeitgeberin nicht den Anforderungen des § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG entsprochen, da sie nicht mit dem gesamten Betriebsrat erfolgt sei.
Aufgrund dieser Einwendungen wies der Betriebsratsvorsitzende seine Sekretärin an, die Betriebsratsmitglieder telefonisch zu einer außerordentlichen Betriebsratssitzung am 9. April 1990 mit der Mitteilung zu laden, es solle über Einwendungen der Arbeitgeberin gegen die Freistellungswahl vom 30. März 1990 beraten werden. Die Sekretärin führte die Weisung aus; allerdings ist zwischen den Beteiligten streitig, was sie den einzelnen Betriebsratsmitgliedern als Thema der außerordentlichen Betriebsratssitzung nannte.
Zu Beginn der Betriebsratssitzung vom 9. April 1990 wurde den Betriebsratsmitgliedern eine Einladung mit folgender Tagesordnung ausgehändigt:
- Beratung mit dem Arbeitgeber gemäß § 38 BetrVG
- Wahl von vier freizustellenden Betriebsratsmitgliedern gemäß § 38 BetrVG.
In dieser Sitzung wiederholten die Vertreter der Arbeitgeberin ihre Einwendungen gegen die Freistellungswahl vom 30. März 1990. Darauf beschloß der Betriebsrat mit zehn gegen acht Stimmen bei einer Stimmenthaltung, die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder zu wiederholen. Es wurden dieselben Wahlvorschläge wie bei der ersten Wahl gemacht; allerdings nahmen die über die Liste 2 gewählten Betriebsratsmitglieder nur unter Protest an der Wiederholungswahl teil, weil die erste Wahl vom 30. März 1990 wirksam gewesen sei. Bei dieser Wiederholungswahl vom 9. April 1990 entfielen auf den erstgenannten Wahlvorschlag 12 und auf den zweitgenannten Wahlvorschlag sieben Stimmen, so daß auf den erstgenannten Wahlvorschlag drei Plätze und auf den zweitgenannten nur ein Platz entfielen. Gewählt waren damit die Beteiligten zu 7) bis 9) sowie der Beteiligte zu 1); nicht mehr gewählt war mithin der Beteiligte zu 2).
Mit Schriftsatz vom 23. April 1990, beim Arbeitsgericht am selben Tage eingegangen, haben die Antragsteller (die Beteiligten zu 1) bis 4) geltend gemacht, daß die Wahlwiederholung vom 9. April 1990 rechtsunwirksam sei. Insbesondere sei die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder bereits in der ersten Wahl am 30. März 1990 rechtswirksam erfolgt und habe daher nicht wiederholt werden dürfen; außerdem sei die Wiederholungswahl vom 9. April 1990 auch deshalb unwirksam, weil die Tagesordnung nicht rechtzeitig mitgeteilt worden sei.
Die Antragsteller haben beantragt
festzustellen, daß die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 9. April 1990 rechtsunwirksam ist.
Der Betriebsrat und die Arbeitgeberin haben beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Das Arbeitsgericht hat dem Antrag der Antragsteller entsprochen. Gegen diesen Beschluß haben der Betriebsrat und die Arbeitgeberin Beschwerde eingelegt; der Betriebsrat hat seine Beschwerde später zurückgenommen.
Im Beschwerdeverfahren hat die Arbeitgeberin ferner hilfsweise beantragt
festzustellen, daß die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 30. März 1990 rechtsunwirksam sei.
Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen und ihren Hilfsantrag abgewiesen. Gegen diesen Beschluß hat die beteiligte Arbeitgeberin die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Mit ihr verfolgt sie ihren Antrag auf Zurückweisung des Antrags der Antragsteller sowie ihren Hilfsantrag weiter, während die Antragsteller die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde begehren. Der Betriebsrat hat erklärt, er schließe sich den Anträgen der Arbeitgeberin an.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Abweisung des Antrags der Antragssteller, weil sich die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 9. April 1990 als rechtswirksam erweist. Über den eventualen Widerantrag der Arbeitgeberin war daher nicht mehr zu entscheiden.
I. Der Antrag der Antragsteller ist zulässig. Insbesondere steht seiner Zulässigkeit nicht entgegen, daß er nach seinem Wortlaut lediglich darauf gerichtet ist, die Unwirksamkeit der Wahl vom 9. April 1990 festzustellen, nicht aber darauf, die Wahl anzufechten, d.h. durch eine gerichtliche Gestaltungsentscheidung für unwirksam zu erklären.
Zwar müssen Gesetzesverstöße bei einer betriebsratsinternen Wahl (hier der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder), sofern sie nicht zur Nichtigkeit der Wahl führen, in entsprechender Anwendung des § 19 BetrVG binnen einer Frist von zwei Wochen seit Bekanntgabe der Wahl in einem Wahlanfechtungsverfahren gerichtlich geltend gemacht werden (BAG Beschlüsse vom 13. November 1991 – 7 ABR 8/91 – und – 7 ABR 18/91 –, vom 15. Januar 1992 – 7 ABR 24/91 – und vom 11. März 1992 – 7 ABR 50/91 –, alle zur Veröffentlichung bestimmt). Indessen ist der Antrag der Antragsteller dahin auszulegen, daß mit ihm auch eine derartige gerichtliche Gestaltungsentscheidung begehrt wird. Der Antrag ist auch innerhalb der hier entsprechend geltenden Zwei-Wochen-Frist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG, nämlich am 23. April 1990, gestellt worden.
II. Der Antrag der Antragsteller ist jedoch unbegründet, denn die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 9. April 1990 ist weder nichtig noch anfechtbar. Vielmehr ist sie – entgegen der Würdigung des Landesarbeitsgerichts – rechtsfehlerfrei erfolgt.
1. Das Landesarbeitsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß der Vorschrift des § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG, nach der die Betriebsratsmitglieder zur Betriebsratssitzung rechtzeitig unter Mitteilung der Tagesordnung zu laden sind, nur entsprochen worden wäre, wenn der Tagesordnungspunkt “Wiederholung der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder” hinreichend deutlich in der Ladung zum Ausdruck gekommen wäre. Das Landesarbeitsgericht hat ferner zutreffend angenommen, daß dies nach dem Sachvortrag aller Beteiligten nicht der Fall war, so daß es einer Beweisaufnahme nicht bedurfte.
2. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch nicht erkannt, daß dieser Mangel dadurch geheilt worden ist, daß kein Mitglied des vollzählig versammelten Betriebsrats der Behandlung dieses Tagesordnungspunktes widersprochen hat.
a) Das Landesarbeitsgericht hat sich insoweit den Ausführungen des Arbeitsgerichts angeschlossen, der Ladungsmangel sei nicht durch einen einstimmigen Betriebsratsbeschluß geheilt worden, wie es die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urteil vom 28. April 1988, BAGE 58, 221 = AP Nr. 2 zu § 29 BetrVG 1972) verlange. Denn der Beschluß des Betriebsrats, die Wahl zu wiederholen, sei nur mit einer Mehrheit von zehn zu acht Stimmen bei einer Enthaltung gefaßt worden.
b) Damit haben die Vorinstanzen jedoch nicht hinreichend zwischen dem Beschluß, den Tagesordnungspunkt “Wahlwiederholung der freizustellenden Betriebsratsmitglieder” zu behandeln, und dem Beschluß, die Wahl tatsächlich zu wiederholen, unterschieden. Diese Unterscheidung ist notwendig. Denn die erste Beschlußfassung betrifft die Frage, ob der Tagesordnungspunkt trotz seiner nicht rechtzeitigen Mitteilung überhaupt behandelt werden soll. Erst wenn demnach durch einstimmigen Beschluß in die Behandlung des Tagesordnungspunktes eingetreten worden ist, stellen sich die weiteren Fragen, in welcher Weise dieser Tagesordnungspunkt inhaltlich zu behandeln ist.
c) Im Entscheidungsfall ist die erste Beschlußfassung auch nach Maßgabe des angeführten Urteils des Bundesarbeitsgerichts vom 28. April 1988 (aaO) ordnungsgemäß erfolgt. Der Betriebsrat war vollzählig versammelt; es wurde einstimmig beschlossen, den Tagesordnungspunkt “Wahlwiederholung der freizustellenden Betriebsratsmitglieder” zu behandeln. Einer ausdrücklichen Beschlußfassung bedurfte es nicht; vielmehr genügte es, daß keines der vollzählig versammelten Betriebsratsmitglieder der Behandlung des Tagesordnungspunktes widersprach. Daß ein solcher Widerspruch erfolgt wäre, etwa durch einen Hinweis auf die nicht rechtzeitige Mitteilung dieses Tagesordnungspunktes, ist von keinem Beteiligten behauptet und auch vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt worden. Einwände wurden vielmehr lediglich erhoben gegen die Zulässigkeit der Wahlwiederholung selbst, weil die Wahl bereits in der Sitzung vom 30. März 1990 wirksam erfolgt sei. Diese Einwendungen waren jedoch bereits Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung im Rahmen der Behandlung des Tagesordnungspunkts.
3. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts (das Landesarbeitsgericht hat diese Frage offen gelassen) war die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 9. April 1990 auch nicht etwa deshalb fehlerhaft, weil sie zugleich die Abberufung des bereits am 30. März 1990 nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Beteiligten zu 2) bedeutet hätte und diese Abberufung nach § 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG nur mit einer hier nicht erreichten Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats möglich gewesen wäre.
Es kann dahinstehen, ob der Beteiligte zu 2) am 30. März 1990 überhaupt wirksam zum freizustellenden Betriebsratsmitglied gewählt worden ist. Die Wahl hat ohne die in § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG vorgeschriebene vorherige Beratung mit dem Arbeitgeber stattgefunden. Zwar hatten am 29. März 1990 vier Betriebsratsmitglieder ein Gespräch mit Vertretern des Arbeitgebers über die Kandidaten für die Freistellung geführt. Die Beratung mit dem Arbeitgeber muß jedoch mit dem gesamten Betriebsrat erfolgen (Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 38 Rz 33; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 38 Rz 10; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 38 Rz 43; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 38 Rz 23; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 38 Rz 24; Blanke in Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG, 3. Aufl., § 38 Rz 28). Das ist hier nicht geschehen. Welche Auswirkungen die unterbliebene vorherige Beratung des Betriebsrats mit dem Arbeitgeber auf die Freistellungswahl hat, ist im Schrifttum umstritten. Teils wird eine solche Wahl für unwirksam gehalten (Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, § 38 Rz 25), teils wird angenommen, daß die Unterlassung der Beratung mit dem Arbeitgeber keinen Einfluß auf die Wirksamkeit der Wahl habe (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 38 Rz 44; ebenso Blanke, aaO). Der Senat brauchte diese Frage nicht zu entscheiden. Auch wenn man der zuletzt genannten Auffassung folgt und von der Wirksamkeit der Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder vom 30. März 1990 ausgeht, bedürfte es zur Wiederholung dieser Wahl am 9. April 1990 nicht der in § 38 Abs. 2 Satz 10 i. V. m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG geforderten qualifizierten Mehrheit.
Das Gesetz verlangt für die Abberufung von Betriebsratsmitgliedern aus ihren Funktionen als Mitglieder eines Ausschusses des Betriebsrats oder als freigestellte Betriebsratsmitglieder nur dann eine qualifizierte Mehrheit, wenn diese Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in ihre Funktionen gewählt worden sind, nicht dagegen, wenn eine Mehrheitswahl stattgefunden hat. Diese Unterscheidung nach der Wahlart zeigt, daß das in § 38 Abs. 2 Satz 10 i.V.m. § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG aufgestellte Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für die Abberufung nicht dazu dienen soll, die durch die Wahl erworbene persönliche Rechtsstellung des einzelnen Betriebsratsmitglieds gegenüber dem Betriebsrat abzusichern und ihm in der Ausübung seiner Funktionen eine größere Unabhängigkeit vom Betriebsrat zu verschaffen. Wäre dies der Sinn der Erschwerung der Abberufung durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit des Betriebsrats, dann müßte gleiches auch für die Abberufung der durch Mehrheitswahl gewählten Ausschußmitglieder und freizustellenden Betriebsratsmitglieder gelten; eine Differenzierung danach, ob sie nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl oder der Verhältniswahl in ihre Funktionen berufen worden sind, wäre dann unverständlich. Die Privilegierung der im Wege der Verhältniswahl Gewählten erklärt sich vielmehr aus dem vom Gesetz bezweckten Minderheitenschutz, der mit der Verhältniswahl verbunden ist. Durch die vom Gesetz angeordnete Verhältniswahl (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 3, § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG) wird erreicht, daß auch eine Minderheitsgruppierung innerhalb des Betriebsrats entsprechend ihrer Stärke in den Ausschüssen des Betriebsrats vertreten und bei den Freistellungen berücksichtigt wird. Dieser Minderheitenschutz könnte dadurch ausgehöhlt werden, daß ein zunächst nach den Grundsätzen der Verhältniswahl aus einer Minderheitsliste gewähltes Betriebsratsmitglied später mit einfacher Stimmenmehrheit des Betriebsrats abberufen und durch ein anderes Betriebsratsmitglied ersetzt wird; hierdurch könnte das Ergebnis der Verhältniswahl nachträglich zugunsten der Betriebsratsmehrheit verändert werden. Einer solchen Umgehung des Verhältniswahlrechts mit dem ihm innewohnenden Minderheitenschutz will das Gesetz vorbeugen, indem es im Falle der Verhältniswahl die Abberufung des Gewählten an ein hohes Quorum von drei Vierteln der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats bindet (vgl. BT-Drucks. 11/2503, S. 33; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 27 Rz 54).
Einer derartigen Absicherung des Verhältniswahlrechts aus Gründen des in ihm liegenden Minderheitenschutzes bedarf es jedoch nur, wenn ein Teil der gewählten Ausschußmitglieder oder der freizustellenden Betriebsratsmitglieder durch andere Betriebsratsmitglieder ersetzt werden soll. Denn nur in einem solchen Fall ist eine Umgehung des Verhältniswahlrechts möglich. Anders liegt es jedoch, wenn die Ausschußmitglieder oder die freizustellenden Betriebsratsmitglieder insgesamt neu gewählt werden sollen. In diesem Falle ist wiederum nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen, bei der der Minderheitenschutz wieder voll zum Tragen kommt. Durch eine solche Neuwahl treten die Neugewählten an die Stelle der früher Gewählten, ohne daß diese vorher einzeln mit qualifizierter Mehrheit abberufen werden müßten.
Im vorliegenden Falle ist die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder am 9. April 1990 insgesamt wiederholt worden, und zwar gem. § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zutreffend nach den Grundsätzen der Verhältniswahl. Damit sind die neu gewählten freizustellenden Betriebsratsmitglieder ohne weiteres an die Stelle der am 30. März 1990 zur Freistellung gewählten Betriebsratsmitglieder getreten. Einer Abberufung der am 30. März 1990 bereits gewählten Betriebsratsmitglieder mit qualifizierter Mehrheit bedurfte es dazu nicht.
III. Ist mithin ein Mangel der Wahl vom 9. April 1990 nicht ersichtlich, so kann weder ihre Nichtigkeit festgestellt noch die Wahl durch richterliche Gestaltungsentscheidung für unwirksam erklärt werden. Der Antrag der Antragsteller war deshalb zurückzuweisen. Da die Arbeitgeberin hiernach bereits mit ihrem Hauptantrag obsiegt hat, war über ihren nur hilfsweise gestellten Widerantrag nicht mehr zu entscheiden.
Unterschriften
Dr. Seidensticker, Schliemann, Dr. Steckhan, Dr. Knapp
Der ehrenamtliche Richter Seiler ist wegen Ablaufs seiner Amtszeit verhindert zu unterschreiben.
Dr. Seidensticker
Fundstellen
Haufe-Index 838623 |
BAGE, 178 |
NZA 1993, 329 |