Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersfreizeit. mittelbare Diskriminierung
Leitsatz (amtlich)
Eine tarifvertragliche Bestimmung, die den Anspruch von Arbeitnehmern auf Gewährung von zusätzlich bezahlter Freistellung ab Vollendung des 60. Lebensjahres ausschließt, sofern der Arbeitnehmer vorgezogenes Altersruhegeld in Anspruch nehmen kann, kann Frauen mittelbar diskriminieren. Daß die Frauen im Verhältnis zu Männern begünstigende Altersgrenze von 60 Jahren verfassungsrechtlich (noch) unbedenklich ist, rechtfertigt ihren Ausschluß nicht (Aufgabe von BAG 6. Februar 1985 – 4 AZR 275/83 – BAGE 48, 65).
Orientierungssatz
1. § 612 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 BGB begründen für eine Arbeitnehmerin, die wegen ihres Geschlechts geringer vergütet wird als ein männlicher Arbeitnehmer, Anspruch auf die höhere Vergütung.
2. Als Vergütung gilt auch eine vom Arbeitgeber gewährte bezahlte Freistellung, die ältere Arbeitnehmer ab Vollendung des 60. Lebensjahres beanspruchen können.
3. Endet der Anspruchszeitraum, wenn der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin Anspruch auf vorgezogenes Altersruhegeld hat, so benachteiligt diese Regelung wegen des unterschiedlichen Rentenzugangsalters regelmäßig Frauen.
4. Der Ausschluß von Frauen im fortbestehenden Arbeitsverhältnis ist nicht deshalb objektiv gerechtfertigt, weil die im Sozialrecht liegende Begünstigung von Frauen für eine Übergangsphase als verfassungsrechtlich unbedenklich beurteilt worden ist.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 3; EG Art. 141; BGB § 612 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 25. Oktober 2000 – 2 Sa 347/00 – aufgehoben.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 24. Mai 2000 – 1 Ca 1685 c/99 – abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, 20 Tage Altersfreizeit unter Fortzahlung der Vergütung zu gewähren.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Altersfreizeit.
Die am 12. Oktober 1938 geborene Klägerin ist seit mehr als 20 Jahren Arbeitnehmerin der Beklagten. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der Süßwarenindustrie in den alten Bundesländern und Berlin-West der Bundesrepublik Deutschland vom 11. Mai 1994 (MTV) anzuwenden. In § 3 II MTV ist unter der Überschrift „Freistellung älterer Arbeitnehmer von der Arbeit” ua. geregelt:
„Arbeitnehmer, die das 60., 61. und 62. Lebensjahr vollendet haben und eine ununterbrochene 12-jährige Betriebszugehörigkeit aufweisen, haben Anspruch auf eine zusätzliche Freistellung für jedes volle Beschäftigungsjahr nach Vollendung des 60. Lebensjahres. …
Die Altersfreizeit beträgt
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nach Vollendung des |
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60. Lebensjahres |
20 Arbeitstage |
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nach Vollendung des |
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61. Lebensjahres |
22 Arbeitstage |
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und letztmalig |
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nach Vollendung des |
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62. Lebensjahres |
24 Arbeitstage |
- Die Freistellung des Arbeitnehmers erfolgt entweder im jeweiligen Beschäftigungsjahr nach Vollendung des 60. Lebensjahres – wobei der Anspruch auf bezahlte Freistellung erst nach mindestens neunmonatiger Tätigkeit im jeweiligen Beschäftigungsjahr entsteht – oder gutgeschrieben und zusammenhängend unmittelbar vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
- Der Anspruchszeitraum endet mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, spätestens jedoch mit dem frühestmöglichen Zeitpunkt, ab dem vorgezogenes Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung beansprucht werden kann.
…”
Die Klägerin forderte die Beklagte im Juni 1999 vergeblich schriftlich auf, ihr Altersfreizeit zu gewähren.
Mit ihrer im August 1999 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, der Ausschlußtatbestand des § 3 II Nr. 2 MTV benachteilige Frauen mittelbar. Nach dem geltenden gesetzlichen Rentenrecht könnten Frauen ihrer Altersgruppe mit Anspruch auf Altersrente ab Vollendung des 60. Lebensjahres im Gegensatz zu Männern nicht in den Genuß der Altersfreizeit kommen. Ein sachlicher Grund für eine derartige Ungleichbehandlung bestehe nicht.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin gemäß § 3 II des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer in der Süßwarenindustrie Altersfreizeit in Höhe von 20 Arbeitstagen unter Fortzahlung der Vergütung zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Stattgabe der Klage. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin für das Jahr 1999 Altersfreizeit zu gewähren. Sie hat die Klägerin an 20 Arbeitstagen bezahlt von der Arbeit freizustellen.
I. Der Anspruch der Klägerin folgt aus § 612 Abs. 3 BGB iVm. § 3 II MTV.
1. § 612 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 BGB begründen für eine Arbeitnehmerin, die wegen ihres Geschlechts geringer vergütet wird als ein männlicher Arbeitnehmer, Anspruch auf die höhere Vergütung. Art. 141 EG (ex-Art. 119 EWG) und die Lohngleichheitsrichtlinie 75/117/EWG sowie Art. 3 Abs. 3 GG gewährleisten die Lohngleichheit. Sie stehen allen Vorschriften, Regelungen oder Maßnahmen entgegen, die eine im Ergebnis unterschiedlich hohe Vergütung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern bewirken, sofern sich die unterschiedliche Behandlung nicht mit objektiven Faktoren erklären läßt, die nichts mit einer Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu tun haben (ständige Rechtsprechung des EuGH vgl. nur 9. September 1999 – C-281/97 – Krüger – EuGHE I 1999, 5141 mwN). Erfaßt wird deshalb entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch die sog. mittelbare Diskriminierung. Das gilt auch für Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien (vgl. EuGH 7. Februar 1991 – C-184/89 – Nimz – EuGHE I 1991, 314). Die gemeinschaftsrechtliche Vorgabe ist durch das EG-Anpassungsgesetz vom 13. August 1980 (BGBl. I S 1308) umgesetzt worden. Trotz seiner Formulierung als Verbotsnorm ist § 612 Abs. 3 Satz 1 BGB Anspruchsgrundlage (BAG 23. September 1992 – 4 AZR 30/92 – BAGE 71, 195; 10. Dezember 1997 – 4 AZR 264/96 – BAGE 87, 272 = AP BGB § 612 Diskriminierung Nr. 3 mit zust. Anm. Walker; 23. August 1995 – 5 AZR 942/93 – BAGE 80, 343). Der Angehörige des unzulässig benachteiligten Geschlechts hat Anspruch auf die ihm vorenthaltene Leistung.
2. Die nach § 3 II MTV vom Arbeitgeber ab Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum 63. Lebensjahr des Arbeitnehmers geschuldete Altersfreizeit ist Vergütung iSv. § 612 Abs. 3 BGB. Der Begriff Vergütung entspricht dem in Art. 141 EG (ex -Art. 119 EWG) verwendeten Begriff Entgelt. Er umfaßt sowohl die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter, als auch alle gegenwärtigen oder künftigen Leistungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar auf Grund des Arbeitsverhältnisses in bar oder als Sachleistung, freiwillig oder unfreiwillig gewährt. Ausreichend ist, wenn die Leistung im weitesten Sinn mit dem Beschäftigungsverhältnis in Zusammenhang steht (vgl. EuGH 21. Oktober 1999 – C-333/97 – Lewen – EuGHE I 1999, 7266). Das trifft für die bezahlte Freistellung zu. Sie wird mit Rücksicht auf das bestehende Arbeitsverhältnis gewährt.
3. Die Klägerin erfüllt, wie nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zwischen den Parteien nicht streitig ist, auf Grund ihres Alters und der Dauer ihrer Beschäftigung die in § 3 II Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 MTV bestimmten Voraussetzungen. Sie hat im Oktober 1998 das 60. Lebensjahr vollendet und ist seit mehr als zwölf Jahren betriebszugehörig. Die Klägerin hat auch die nach Vollendung des 60. Lebensjahres für die Fälligkeit des Anspruchs vorausgesetzte Beschäftigung von neun Monaten zurückgelegt. Der zwischenzeitliche Ablauf des Kalenderjahres 1999 ist ohne Bedeutung. Die zu gewährenden freien Tage können nach § 3 II Abs. 2 Nr. 1 MTV gutgeschrieben und vom Arbeitnehmer zusammenhängend vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses genommen werden.
4. Dem Anspruch der Klägerin steht § 3 II Abs. 2 Nr. 2 MTV nicht entgegen. Die Klägerin hatte ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts Anspruch auf Altersrente für Frauen gem. § 39 SGB VI aF. Die tariflich bestimmte negative Anspruchsvoraussetzung, nach der vom Arbeitgeber für den Zeitraum keine Altersfreizeit geschuldet ist, für den ein Arbeitnehmer Anspruch auf vorgezogenes Altersruhegeld hat, ist aber nicht anzuwenden. Sie ist mittelbar diskriminierend. Die Vorschrift trifft mehr Frauen als Männer und ist nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung wegen des Geschlechts zu tun haben.
a) Eine Regelung diskriminiert weibliche Arbeitnehmer mittelbar, wenn sie zwar neutral gefaßt ist, ihre Anwendung jedoch tatsächlich prozentual erheblich mehr Frauen als Männer benachteiligt, sofern diese unterschiedliche Behandlung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu tun haben (vgl. nur EuGH 30. November 1993 – C-189/91 – Kirsammer-Hack – EuGHE I 1993, 6215). Eine mittelbar benachteiligende Regelung knüpft mithin nicht an das Geschlecht „Frau” an, sondern an Merkmale, die zwar bei beiden Geschlechtern vorliegen können, tatsächlich jedoch überwiegend von Frauen nicht erfüllt werden. Ob der Tatbestand einer mittelbaren Benachteiligung gegeben ist, wird regelmäßig mit Hilfe eines statistischen Vergleichs ermittelt (EuGH 27. Oktober 1993 – C-127/92 – Enderby – EuGHE I 1993, 5566). Verglichen wird die Gruppe, die durch die Anwendung des Kriteriums benachteiligt wird, mit der Gesamtgruppe derjenigen, auf die das Kriterium angewendet werden kann. Erhalten danach tatsächlich erheblich weniger Frauen als Männer die Vergünstigung, so wird diese Regelung als „wahrscheinlich geschlechtsbedingt” ausgewiesen (ErfK/Schlachter 3. Aufl. EG Art. 141, Rn. 16 f.). Daß der Leistungsausschluß überwiegend Frauen trifft, genügt allerdings noch nicht. Vielmehr muß das zahlenmäßige Verhältnis unter den Begünstigten wesentlich anders sein als das zahlenmäßige Verhältnis unter den Benachteiligten (BAG 5. März 1997 – 7 AZR 581/92 – BAGE 85, 224).
b) Die überwiegend Frauen benachteiligende Wirkung des tariflichen Ausschlußtatbestandes „Anspruch auf vorgezogenes Altersruhegeld” ergibt sich bereits aus dem zur Zeit des Tarifabschlusses (1994) und noch bis 31. Dezember 1999 geltenden gesetzlichen Rentenrecht.
aa) Frauen waren entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts ab Vollendung des 60. Lebensjahres nicht erst nach 35 Versicherungsjahren, sondern bereits nach einer Wartezeit von 15 Jahren anspruchsberechtigt (§ 39 SGB VI aF). Die mögliche Zahl der von der Tarifnorm betroffenen Frauen, die in der Süßwarenbranche die Mehrheit der Beschäftigten darstellen (BAG 6. Februar 1985 – 4 AZR 275/83 – BAGE 48, 65), verringert sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch nicht wegen der weiteren Voraussetzungen des Rentenanspruchs. Das zeigt der Vergleich mit den tariflichen Anspruchsvoraussetzungen der Altersfreizeit. Verlangt ist eine ununterbrochene Beschäftigungszeit von zwölf Jahren. Diese Zeitspanne übersteigt das Rentenrecht, nach dem die Arbeitnehmerin nach Vollendung des 40. Lebensjahres für zehn Jahre Pflichtbeiträge entrichtet haben muß.
bb) Männer hatten dagegen Anspruch auf „vorgezogenes Altersruhegeld” iSv. § 3 II Abs. 2 Nr. 2 MTV, nämlich auf Altersrente vor Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren (§ 35 SGB VI aF), nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen. Soweit Männer ab Vollendung des 60. Lebensjahres Rente beanspruchen konnten und deshalb ebenfalls keinen Anspruch auf Altersfreizeit haben, kommt es hierauf aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht an.
Betroffen waren langjährig versicherte Bergleute (§ 40 SGB VI aF), mithin Angehörige einer Berufsgruppe, die ersichtlich nicht vom betrieblichen Anwendungsbereich der Tarifverträge für die Süßwarenindustrie erfaßt ist. Das 60. Lebensjahr war außerdem Stichtag für Versicherte, die wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit rentenberechtigt waren (§ 38 SGB VI aF). Arbeitslosigkeit schließt das für den tariflichen Anspruch auf Altersfreizeit erforderliche Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses aus. Tarifliche Altersteilzeitregelungen bestanden nicht. Rentenberechtigt ab Vollendung des 60. Lebensjahres waren darüber hinaus männliche Arbeitnehmer, die objektiv berufs- oder erwerbsunfähig waren (§ 37 SGB VI aF). Diese gesetzlichen Rententatbestände sind ebenfalls außer Betracht zu lassen, wie sich aus dem Inhalt des tariflichen Anspruchs auf Altersfreizeit ergibt. Er richtet sich auf bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht und ist deshalb nicht erfüllbar, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht arbeiten kann. Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit führen zwar nicht zwingend zur krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit (vgl. BAG 27. Mai 1994 – 9 AZR 337/95 – BAGE 86, 30). Häufig ist der erwerbs- oder berufsunfähige Arbeitnehmer aber auch zugleich krankheitsbedingt arbeitsunfähig (vgl. Leinemann/Linck Urlaubsrecht 2. Aufl. § 1 Rn. 115).
Es verbleiben somit die von der Beklagten als „Gegengruppe” angeführten männlichen Schwerbehinderten, die gem. § 37 SGB VI aF nach einer Wartezeit von 35 Jahren mit Vollendung des 60. Lebensjahres in Altersrente gehen konnten. Diese Arbeitnehmer sind indessen aus Rechtsgründen nicht in den statistischen Vergleich einzubeziehen. Das ergibt sich schon aus Art. 3 Abs. 3 GG. Ebenso wie die Benachteiligung von Frauen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen ihres Geschlechts verboten ist, dürfen schwerbehinderte Menschen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Für die Wirksamkeit der tariflichen Ausschlußklausel des § 3 II Abs. 2 Nr. 2 MTV stellt sich mithin für beide betroffenen Beschäftigtengruppen dieselbe Frage, nämlich ob die Anknüpfung des Ausschlußtatbestandes an das gesetzliche Recht der Rentenversicherung ihren Ausschluß von der tariflichen Leistung rechtfertigt. Das ist für schwerbehinderte Menschen ebenso zu verneinen wie für Frauen.
c) Das Landesarbeitsgericht hat die Wirksamkeit des tariflichen Ausschlußtatbestandes im wesentlichen mit dem gesetzlichen Rentenrecht begründet. Sei das für Männer und Frauen unterschiedliche Rentenzugangsalter verfassungskonform, so gelte für die Tarifnorm nichts anderes. Das Landesarbeitsgericht ist damit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gefolgt. Danach war die mit § 3 II Abs. 2 Nr. 2 MTV gleichlautende Vorgängervorschrift des Manteltarifvertrags vom 23. Mai 1979 als rechtlich unbedenklich angesehen worden (BAG 6. Februar 1985 – 4 AZR 275/83 – BAGE 48, 65). Hieran hält der für das Recht der Altersteilzeit allein zuständige Senat nicht fest. § 3 II Abs. 2 Nr. 2 MTV benachteiligt ältere Frauen wegen ihres Geschlechts.
aa) In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist anerkannt, daß arbeitsrechtliche Regelungen, die an das gesetzliche Rentenrecht und das dort bestimmte unterschiedliche Rentenzugangsalter anknüpfen, gerechtfertigt sein können (zum Ausschluß aus einem Sozialplan BAG 31. Juli 1996 – 10 AZR 45/96 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 103 = EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 86; 3. August 1999 – 1 AZR 677/98 – nv., mwN). Das gilt auch dann, wenn sie auf dem vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG 27. Januar 1987 – 1 BvR 455/82 – BVerfGE 74, 163zu § 1248 RVO und § 25 AVG = § 39 SGB VI aF) wegen der für Frauen typischen Doppelbelastung durch Familie und Beruf für eine Übergangsphase als noch verfassungsgemäß beurteilten unterschiedlichen Zugangsalter für Männer und Frauen beruhen (zum Betriebsrentenrecht BAG 18. März 1997 – 3 AZR 759/95 – BAGE 85, 284; 3. Juni 1997 – 3 AZR 910/95 – BAGE 86, 79). Es ist deshalb nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sich die sozialrechtliche Begünstigung von Frauen arbeitsrechtlich nachteilig auswirkt.
Rechtsgrund für eine zulässige unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen ist indessen nicht allein die Bezugnahme auf die sozialrechtliche Vorschrift und deren Verfassungsgemäßheit. Bestimmend ist vielmehr, ob zwischen der vom Arbeitgeber geschuldeten Leistung und der in Bezug genommenen Rentenberechtigung des Arbeitnehmers ein sachlicher Zusammenhang besteht. Ob das der Fall ist, beurteilt sich nach dem mit der Arbeitgeberleistung verfolgten Ziel. Welches Ziel erreicht werden soll, beurteilt sich hier nach den Vorgaben der Tarifvertragsparteien, die sich aus den anspruchsbegründenden Merkmalen ergeben. Ausschluß- und Kürzungsregelungen, die auf sozialrechtliche Bestimmungen verweisen, müssen sich deshalb an den tariflichen Regelungszielen messen lassen.
bb) Zwischen dem Zweck der Altersfreizeit und dem Ausschlußgrund „Anspruch auf vorgezogenes Altersruhegeld”, also dem Anspruch auf Altersrente vor Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren (§ 35 SGB VI aF), besteht kein sachlicher Zusammenhang.
Die ab Vollendung des 60. Lebensjahres des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber geschuldete zusätzliche bezahlte Freistellung von der Arbeit soll ersichtlich dem altersbedingt nachlassenden Leistungsvermögen des Arbeitnehmers Rechnung tragen. Dem Arbeitnehmer wird über den tariflichen Urlaub von 30 Tagen hinaus zusätzlich Freizeit gewährt, damit er sich von den mit der Arbeit verbundenen Belastungen erholen kann. Dieses Entlastungsbedürfnis besteht für alle älteren Arbeitnehmer, die über ihr 60. Lebensjahr hinaus arbeiten. Daran ändert die Berechtigung zur Inanspruchnahme einer Altersrente nichts. Die Altersfreizeit dient weder dem Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbunden sind. Sie hat auch keine Überbrückungsfunktion wie etwa eine tarifliche Übergangsversorgung, mit deren Hilfe die Existenz des Arbeitnehmers nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen des Ruhestandes gesichert werden soll. Der Arbeitnehmer wird vielmehr im bestehenden Beschäftigungsverhältnis von einer tariflichen Leistung ausgeschlossen, obwohl er ebenso wie die anderen älteren Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglich geschuldeten Pflichten erbringt.
Die Ungleichbehandlung läßt sich deshalb auch nicht mit der vom Bundesverfassungsgericht (29. Oktober 1985 – 1 BvR 709/85 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Süßwarenindustrie Nr. 2) als „tragend” beurteilten Erwägung des Vierten Senats (6. Februar 1985 – 4 AZR 275/83 – aaO) rechtfertigen, die Tarifvertragsparteien hätten „nach ihrem Willen” nur die Arbeitnehmer begünstigen wollen, die mangels Anspruchs auf eine Altersrente weiter arbeiten müßten. Eine bezahlte Freistellung ist zwar geeignet, einen durch das Sozialrecht vermittelten „Zwang zur Weiterarbeit” subjektiv zu mildern. Objektiv lassen sich im bestehenden Arbeitsverhältnis zusätzliche Freizeitansprüche, die an das Alter des Arbeitnehmers anknüpfen, aber nur mit eben dem altersbedingten Bedürfnis nach zusätzlichen Erholungszeiten begründen.
§ 3 II Abs. 1 MTV setzt für den Anspruchserwerb eine ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von zwölf Jahren voraus. Die weitere Voraussetzung nach Abs. 2 „Beschäftigungszeit von neun Monaten nach Vollendung des 60. Lebensjahres” ist als Fälligkeitsbestimmung anzusehen. Damit haben die Tarifvertragsparteien erkennbar das Ziel verfolgt, Betriebstreue zu belohnen. Dieser Zweck wird auch dann erfüllt, wenn der Freizeitanspruch nicht nur den Arbeitnehmern ohne Rentenanspruch sondern auch den Arbeitnehmern eingeräumt wird, die trotz Rentenberechtigung „freiwillig” über ihr 60. Lebensjahr hinaus bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres für den Arbeitgeber tätig bleiben.
cc) Der Senat kann die vom Vierten Senat im Urteil vom 6. Februar 1985 (– 4 AZR 275/83 – aaO) vertretene Rechtsauffassung aufgeben. Er ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesarbeitsgerichts für Fragen der Altersteilzeit allein zuständig. Eine Anfrage beim Vierten Senat, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhält, ist deshalb entbehrlich (§ 45 Abs. 3 Satz 2 ArbGG). Der Senat ist auch nicht aus anderen Gründen an einer abweichenden Entscheidung gehindert. Die Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat zwar die damals gegen das Urteil des Vierten Senats eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG Kammer des 1. Senats 29. Oktober 1985 – 1 BvR 709/85 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Süßwarenindustrie Nr. 2). Damit ist jedoch keine Bindungswirkung verbunden. Die Gerichte sind nach § 31 Abs. 1 BVerfGG nämlich allein an Entscheidungen der Senate des Bundesverfassungsgerichts und nicht auch an Beschlüsse der „Vorprüfungsausschüsse” gebunden (BVerfG 7. März 1968 – 2 BvR 171/67 – BVerfGE 23, 191).
II. Die Beklagte hat die Kosten nach § 91 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Düwell, Zwanziger, Reinecke, B. Lang, Ina Gosch
Fundstellen
Haufe-Index 927738 |
BAGE 2004, 260 |
DB 2004, 710 |
NWB 2003, 1653 |
EBE/BAG 2003, 75 |
ARST 2003, 207 |
EWiR 2003, 857 |
FA 2003, 223 |
NZA 2003, 861 |
SAE 2004, 70 |
ZAP 2003, 652 |
ZTR 2003, 340 |
AP, 0 |
EzA-SD 2003, 15 |
EzA |