Leitsatz (redaktionell)
1. Nach dem das Kündigungsschutzrecht beherrschenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt eine ordentliche Kündigung wegen einer langanhaltenden Krankheit als letztes Mittel (ultima ratio) erst dann in Betracht, wenn dem Arbeitgeber die Durchführung von Überbrückungsmaßnahmen (zB Einstellung von Aushilfskräften, Durchführung von Über- oder Mehrarbeit, personelle Umorganisation, organisatorische Umstellungen) nicht möglich oder nicht mehr zumutbar ist. Bei der Bemessung der zeitlichen Zumutbarkeitsgrenze ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch zu beachten, daß der Arbeitgeber bei einem langjährig beschäftigten Arbeitnehmer einen längeren Zeitraum für geeignete und zumutbare Überbrückungsmaßnahmen hinzunehmen hat als bei einem nur kurzfristig tätigen Arbeitnehmer.
2. Eine aus Anlaß einer langanhaltenden Erkrankung des Arbeitnehmers erklärte ordentliche Kündigung ist nicht bereits deswegen sozial ungerechtfertigt, weil der Arbeitgeber es unterlassen hat, sich vor Ausspruch der Kündigung über den voraussichtlichen Krankheitsverlauf sowie über die Art des möglichen künftigen Einsatzes des erkrankten Arbeitnehmers zu erkundigen.
3. Es kommt vielmehr bei einer derartigen Kündigung darauf an, ob zum Zeitpunkt des Kündigungszuganges objektive Anhaltspunkte für ein langfristiges Fortdauern der Arbeitsunfähigkeit vorgelegen haben und ob es aus betrieblichen Gründen notwendig gewesen ist, den Arbeitsplatz des erkrankten Arbeitnehmers anderweitig auf Dauer zu besetzen.
4. Wegen der erhöhten sozialen Schutzbedürftigkeit eines erkrankten Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung ein strenger Maßstab anzulegen.
5. Wirft der Arbeitnehmer am letzten Tag der dreiwöchigen Klagefrist des KSchG § 4 seine Kündigungsschutzklage in den normalen Briefkasten eines Arbeitsgerichts, so ist dies selbst dann fristwahrend, wenn zugleich ein Nachtbriefkasten vorhanden ist. Für den rechtzeitigen Einwurf der Kündigungsschutzklage in den normalen Briefkasten ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig.
Orientierungssatz
Der erkennende Senat hält es nicht für geboten, nach RsprEinhG § 2 Abs 1 den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen. Eine Anrufungspflicht besteht im Streitfall bereits deshalb nicht, weil es in der hier zur Entscheidung stehenden Rechtsfrage - Wahrung der dreiwöchigen Klagefrist des KSchG § 4 - keine abweichende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gibt. Die vom Bundesgerichtshof (BGHZ 2, 32, BGH VersR 1973, 87; VersR 1975, 833; VersR 1976, 296 und 641) zur Frage der Wahrung von Rechtsmittelfristen vertretene Ansicht betrifft einen zwar ähnlich gelagerten Fragenbereich, nicht aber die gleiche Rechtsfrage. Bei der Wahrung der dreiwöchigen Klagefrist des KSchG § 4 handelt es sich um eine auf den Bereich des Kündigungsschutzrechts begrenzte materiellrechtliche Frage. Eine Identität der Rechtsfrage ist weiterhin deshalb zu verneinen, weil die Auslegung des KSchG § 4 den Zugang zum Gericht beinhaltet, während die vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fälle bereits anhängige Rechtsstreitigkeiten betreffen.
Normenkette
ZPO § 253 Abs. 5; RsprEinhG § 2 Abs. 1; KSchG § 1 i.d.F des Gesetzes vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476), § 4 Fassung 1969-08-25
Verfahrensgang
LAG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.01.1978; Aktenzeichen 7 Sa 672/77) |
Fundstellen
Haufe-Index 441191 |
BAGE 33, 1-14 (LT1-5) |
BAGE, 1 |
BB 1980, 938-940 (LT1-5) |
DB 1980, 1446-1448 (LT1-5) |
NJW 1981, 298 |
NJW 1981, 298-301 (LT1-5) |
NJW 2017, 3104 |
BetrR 1980, 325-327 (LT1-5) |
ARST 1980, 136-137 (T) |
BlStSozArbR 1980, 298-299 (T1-5) |
BlStSozArbR 1980, 308-309 (T) |
SAE 1980, 338-342 (LT1-5) |
ZIP 1980, 677 |
ZIP 1980, 677-681 (LT1-5) |
AP § 1 KSchG 1969 Krankheit (LT1-5), Nr 6 |
AR-Blattei, ES 1000 Nr 157 (LT1-4) |
AR-Blattei, ES 1020 Nr 200 (LT5) |
AR-Blattei, Kündigungsschutz Entsch 200 (LT5) |
AR-Blattei, Krankheit des Arbeitnehmers Entsch 157 (LT1-4) |
EzA, Krankheit 5 (LT1-5) |
MDR 1980, 788-788 (LT1-5) |