Entscheidungsstichwort (Thema)
Reisezeit bei auswärtigem Gastspiel des Orchesters. Reisezeit von mehr als vier Stunden als dienstliche Inanspruchnahme des Musikers. Berücksichtigung von Reisediensten bei der wöchentlichen Höchstbelastungsgrenze. Vergütung tarifrechtlich nicht zulässiger Überarbeit. Berechnung der Reisezeit. Zusammenzählung von Flug- und Fahrzeiten. Auslegung des Tarifbegriffs “Ankunft am Ort der Aufführung”. Sammeltransfer vom Zielflughafen oder -bahnhof ins Hotel oder zur Aufführungsstätte als Reisezeit. Sinn und Zweck der tariflichen Reisezeitregelung. Keine Erforderlichkeit der Einholung einer Auskunft bei den Tarifvertragsparteien zu der Auslegung eines Tarifbegriffs. Tarifauslegung
Leitsatz (amtlich)
Bei einem auswärtigen Gastspiel des Orchesters endet die Reisezeit am Ort der Aufführung (Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK). Dieser ist bei gemeinsamer Anreise der Musiker mit der Ankunft im Hotel erreicht oder – bei sofortiger Aufführung oder Probe – mit der Ankunft an der Spielstätte. Dies gilt auch, wenn nach dem Eintreffen der Musiker auf dem Flughafen oder dem Bahnhof der Zielgemeinde die Reise mit einem vom Arbeitgeber veranlaßten gemeinsamen Transfer zum Hotel oder zur Spielstätte fortgesetzt wird.
Orientierungssatz
- Eine Reisezeit von mehr als vier Stunden, die nach der Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK als Dienst gerechnet wird, ist bei der wöchentlichen Höchstbelastungsgrenze von zehn Diensten (§ 15 Abs. 3 Satz 2 TVK) zu berücksichtigen. Leistet der Musiker tarifrechtlich nicht zulässige Überarbeit, ist ein “Reisedienst” wie ein “Spieldienst” gemäß § 612 Abs. 1 BGB zu vergüten. Die Vergütung für einen Dienst beträgt 1/8 des Entgelts für eine Arbeitswoche, das Entgelt für eine Woche 7/30 der monatlichen Vergütung.
- Bei der Berechnung der Reisezeit sind Flug- und Fahrzeit oder mehrere Fahrzeiten zusammenzuzählen. Nicht nur bei der ausschließlichen Anreise der Musiker mit dem Bus ist der Ort der Aufführung erst erreicht, wenn die Orchestermitglieder gemeinsam im Hotel oder an der Aufführungsstätte ankommen. Erfolgt vom Zielflughafen oder -bahnhof ein vom Arbeitgeber besorgter Sammeltransfer in ein Hotel des Gastspielortes oder zur Aufführungsstätte, zählt dieser zur Reisezeit, gleichgültig ob der Zielflughafen oder -bahnhof innerhalb oder außerhalb der Gemeinde des Gastspielortes liegt.
- Bei unstreitigem Sachverhalt kommen Verstöße des Landesarbeitsgerichts bei der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO von vornherein nicht in Betracht. § 293 ZPO ist nicht verletzt, wenn das Landesarbeitsgericht bei der Auslegung eines Tarifbegriffs entgegen einer Anregung einer Partei bei den Tarifvertragsparteien keine Auskunft zum Hergang der Tarifvertragsverhandlungen und zum Sinn und Zweck einer tariflichen Regelung einholt.
Normenkette
TVK vom 1. Juli 1972 § 15 Abs. 1; TVK vom 1. Juli 1972 § 15 Abs. 2 S. 2; TVK vom 1. Juli 1972 § 15 Abs. 3 S. 2; TVK vom 1. Juli 1972 § 15 Abs. 6; Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1-3; BGB § 612 Abs. 1; ZPO § 97 Abs. 1, §§ 293, 286
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, wann bei gemeinsamer Anreise der Musiker eines Kulturorchesters zu einem auswärtigen Gastspiel der Ort der Aufführung erreicht wird und damit die für den Umfang der Vergütung maßgebende Reisezeit endet.
Der Kläger ist seit dem 1. April 1993 im Philharmonischen Staatsorchester der Beklagten als Cellist beschäftigt. Sein monatliches Bruttogehalt betrug im Mai 1999 8.254,00 DM ( 4.220,20 Euro). Kraft beiderseitiger Tarifbindung findet auf das Arbeitsverhältnis der Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) vom 1. Juli 1972 Anwendung. Die Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK lautet:
“Bei einem auswärtigen Gastspiel mit einer Fahr- oder Flugzeit (Hin- und/oder Rückreise, gerechnet von der Abfahrt am Sammelplatz bis zur Ankunft am Ort der Aufführung und umgekehrt) von mehr als vier Stunden wird die Reisezeit als ein Dienst gerechnet. Dies gilt auch für Reisen von einem Gastspielort zu einem anderen. In diesen Fällen ist die Protokollnotiz Nr. 1 nicht anzuwenden.”
Vom 2. Mai 1999 bis zum 10. Mai 1999 nahm der Kläger an einer Gastspielreise des Orchesters teil, die nach Berlin, Düsseldorf, Köln, Hannover, Frankfurt und Wien führte. Für die Woche vom Montag, dem 3. Mai 1999, bis zum Sonntag, dem 9. Mai 1999, vergütete die Beklagte dem Kläger neun Dienste für seine Mitwirkung in Aufführungen und Proben sowie einen weiteren Dienst wegen einer Reisezeit von mehr als vier Stunden am 4. Mai 1999. Die Reisezeiten am 6., 8. und 9. Mai 1999 rechnete die Beklagte dem Kläger nicht als Dienste an.
Am 6. Mai 1999 fuhren die Orchestermitglieder im Rahmen eines Sammeltransports um 13:30 Uhr vom Hotel in Köln zum Hauptbahnhof und von dort um 14:10 Uhr mit dem Zug nach Hannover, wo dieser um 17:06 Uhr am Hauptbahnhof ankam. Der sich anschließende Sammeltransfer zur Spielstätte dauerte bis 17:30 Uhr. Nach dem Gastspiel in Hannover fuhren die Musiker gemeinsam mit dem Bus zurück zur Staatsoper nach Hamburg. Die Rückfahrt begann um 22:32 Uhr und endete um 0:20 Uhr des nachfolgenden Tages.
Am 8. Mai 1999 trafen sich die Mitglieder des Orchesters am Hauptbahnhof Hamburg und reisten dann gemeinsam von 10:17 Uhr bis 14:10 Uhr mit dem Zug nach Frankfurt. Der sich anschließende Sammeltransfer vom Bahnhof in ein Frankfurter Hotel dauerte bis 14:25 Uhr.
Am 9. Mai 1999 fuhren die Musiker im Rahmen eines Sammeltransportes um 10:00 Uhr vom Hotel zum Flughafen Frankfurt. Nach dem Flug nach Wien von 12:45 Uhr bis 13:52 Uhr trafen sie nach einem weiteren Sammeltransfer um 15:00 Uhr im Hotel ein.
Der Kläger hat gemeint, die Reisezeiten am 6., 8. und 9. Mai 1999 seien nach der Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK als Dienste zu rechnen und von der Beklagten zu vergüten, weil an diesen Tagen die Reisezeit jeweils mehr als vier Stunden betragen habe. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei nach der Tarifvorschrift nicht nur die mit dem Hauptreisemittel zurückgelegte Zeit als Reisezeit zu werten. Auch die Fahrten vom Flughafen oder Bahnhof ins Hotel oder zur Spielstätte am Gastspielort seien Reisezeiten iSd. Protokollnotiz. Mit dem Tarifbegriff “Ankunft am Ort der Aufführung” sei nicht das Erreichen der politischen Gemeinde oder des Flughafens oder Bahnhofs des Gastspielortes gemeint sondern das Eintreffen im Hotel oder an der Aufführungsstätte. Die Reisezeiten an den drei Tagen habe die Beklagte als sogenannte Überdienste mit jeweils 1/30 seines Monatsverdienstes in Höhe von 8.254,00 DM brutto zu vergüten. Für einen Überdienst habe er somit Anspruch auf die Zahlung von 275,13 DM brutto. Für die drei Reisedienste am 6., 8. und 9. Mai 1999 habe die Beklagte 825,40 DM brutto an ihn zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 825,40 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 15. Juni 1999 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, bei einem auswärtigen Gastspiel des Orchesters sei als Ankunft am Ort der Aufführung iSd. Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK nicht das Erreichen des Hotels oder der Spielstätte sondern die Ankunft in der politischen Gemeinde zu verstehen, in der die Aufführung stattfinde. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Tarifvorschrift, in der von einer “Fahr- oder Flugzeit” und nicht von einer “Fahr- und/oder Flugzeit” die Rede sei. Die Protokollnotiz spreche bei der Festlegung der Beendigung der Reise nicht von der Ankunft im Hotel oder dem Erreichen der Aufführungsstätte. Die Reisezeit ende zwar noch nicht beim Überfliegen oder Überfahren der Grenze der politischen Gemeinde des Gastspielortes, jedoch mit dem Verlassen des Beförderungsmittels, mit dem man diese Gemeinde erreicht habe. Bei einer Flugreise ende die Reisezeit mit der Ankunft am Flughafen, bei einer Bahnreise mit der Ankunft am Bahnhof, wenn Flughafen und Bahnhof in derselben Gemeinde lägen, in der die Aufführung stattfinde. Der Weitertransport mit dem Bus oder einem anderen Verkehrsmittel zum Hotel oder zur Spielstätte sei in diesen Fällen eine Serviceleistung des Arbeitgebers und könne wie die Wegezeit von der Wohnung zur Aufführungsstätte nicht als Reisezeit berücksichtigt werden. Eine andere Auslegung sei mit der Absicht der Tarifvertragsparteien nicht vereinbar, hinsichtlich der Arbeitszeiten eine dem Bundes-Angestelltentarifvertrag vergleichbare Regelung zu schaffen. Nur dann, wenn Flughafen oder Bahnhof außerhalb der Gemeinde des Gastspielortes lägen, zähle der sich anschließende Transfer zum Hotel oder zur Aufführungsstätte noch zur Reisezeit. Werde die gesamte Reise mit einem Bus durchgeführt, ende die Reisezeit mit dem Aussteigen.
Reisedienste seien bei der wöchentlichen Höchstbelastungsgrenze von zehn Diensten (§ 15 Abs. 3 Satz 2 TVK) nicht zu berücksichtigen. Diese zählten nur bei den vom Musiker nach § 15 Abs. 2 TVK im Ausgleichszeitraum von acht bzw. bei Konzertorchestern von 16 Kalenderwochen zu leistenden Diensten mit. Die in § 15 Abs. 3 Satz 2 TVK getroffene Regelung, wonach der Musiker in jedem Ausgleichszeitraum nur in zwei bzw. bei Konzertorchestern in drei von einander getrennten Kalenderwochen zu je zehn Diensten herangezogen werden könne, wolle eine Überbeanspruchung des Musikers in spieltechnischer Hinsicht verhindern. Dieser Gesichtspunkt treffe auf Reisedienste nicht zu. Die Tarifvertragsparteien hätten in Übereinstimmung mit der im Bundes-Angestelltentarifvertrag getroffenen Regelung Reisezeiten nicht als Arbeitszeit angesehen und lediglich verhindern wollen, daß Reisezeiten zur Kürzung der Monatsvergütung führen. Die Bestimmungen des TVK lehnten sich an die Vorschriften des BAT an. Bei der Auslegung der Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK müsse deshalb berücksichtigt werden, daß gemäß § 15 Abs. 7 BAT die Arbeitszeit an der Arbeitsstelle beginnt und endet und die Fahrzeit von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück keine Arbeitszeit ist.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 476,20 DM brutto nebst Zinsen stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen angenommen, daß die Reisezeiten des Klägers am 6., 8. und 9. Mai 1999 nach der Protokollnotiz Nr. 2 zu § 15 Abs. 1 bis 3 TVK als Dienste zu rechnen sind und die Beklagte diese Dienste zu vergüten hat.
Unterschriften
Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Dr. Brühler, Hinsch, H. Markwat
Fundstellen
Haufe-Index 845616 |
BB 2003, 428 |
ARST 2003, 163 |
FA 2002, 394 |
ZTR 2003, 36 |
AP, 0 |
PersV 2003, 279 |
RiA 2003, 119 |
AUR 2002, 478 |
Tarif aktuell 2003, 12 |