Entscheidungsstichwort (Thema)
Auszeichnerin im Einzelhandel
Leitsatz (amtlich)
- Das Tatbestandsmerkmal der “schweren körperlichen Arbeit” im Lohntarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen stellt nicht allein auf die muskulöse Belastung des Arbeitnehmers ab. Vielmehr ist damit auf alle Faktoren abgestellt, die auf den Arbeitnehmer belastend einwirken und zu körperlichen Reaktionen führen.
- Schwere körperliche Arbeit kann sich ergeben wegen der bei der Tätigkeit notwendigen Körperhaltung, bei taktgebundener oder repetetiver Arbeit, aus nervlicher oder sensorischer Belastung, Lärm und sonstigen Umwelteinwirkungen, sozialen Belastungsfaktoren.
- Der Lohngleichheitssatz läßt eine Lohnstaffelung allein nach der muskulären Belastung nur dann zu, wenn das Gesamtsystem der Lohnstaffelung auch qualifizierende Merkmale enthält, die mehr Personen weiblichen Geschlechts zugeordnet werden.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel; EWGVtr Art. 119 I; Lohntarifvertrag für den Einzelhandel in NRW vom 6. Juli 1989
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 12.06.1991; Aktenzeichen 11 Sa 311/91) |
ArbG Krefeld (Urteil vom 05.02.1991; Aktenzeichen 4 Ca 1837/90) |
Tenor
- Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 12. Juni 1991 – 11 Sa 311/91 – wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die tarifgerechte Eingruppierung der Klägerin.
Die Klägerin ist bei der Beklagten in deren Zweigniederlassung Krefeld beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der Mantel- und der Lohntarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen Anwendung. Die Klägerin erhält Lohn nach LohnGr. II Lohnstaffel a). Sie wird als Auszeichnerin in der Warenannahme beschäftigt. Ihre Aufgabe besteht darin, die angelieferten Waren (Textilien, Kurzwaren, Bettwäsche, Bücher, Papierwaren und Porzellan) mit den Verkaufspreisen auszuzeichnen und in den jeweils zur Weiterleitung bestimmten Behälter zu laden. In den Fällen, in denen hierbei schwere Pakete gehoben bzw. bewegt werden müssen, ruft die Klägerin den Arbeiter R… zu Hilfe, der die schweren Pakete dann bewegt. Dieses kommt durchschnittlich einmal pro Schicht vor, wobei die Klägerin manchmal fünf bis zehn Minuten auf Herrn Rohn warten muß. Im einzelnen verrichtet die Klägerin folgende Tätigkeiten:
Die angelieferten Waren sind in Kartons unterschiedlicher Größe verpackt. Die Pakete sind teilweise mit Folien oder Bändern zu einem Gebinde zusammengebunden und befinden sich auf Europaletten. Die Europaletten werden von Herrn R… zum Arbeitsplatz der Klägerin bzw. der übrigen Auszeichnerinnen in den vierten Stock des Hauses gebracht und auf dem Boden vor dem Tisch der jeweiligen Auszeichnerin abgestellt. Die Klägerin bekommt zur Bearbeitung täglich zwischen drei und zehn Europaletten angeliefert, auf denen sich zwischen zehn und vierzig Pakete befinden. Die Pakete haben unterschiedliche Gewichte, die von einem relativ geringen Gewicht bis zu einem Gewicht von etwa 50 kg reichen. Die meisten Pakete haben ein Gewicht von nicht mehr als 10 – 15 kg. Die Klägerin hat zuerst eine Inhaltskontrolle der Pakete durchzuführen. Hierzu öffnet sie die Pakete und vergleicht die darin enthaltenen Artikel mit den Angaben auf den Lieferscheinen. Dabei beläßt die Klägerin einen Teil der Pakete auf der Palette, während sie die übrigen Pakete auf ihren Auszeichnungstisch stellt. Soweit sich die Pakete mit den Lieferscheinen nicht auf der oberen Lage der Palette befinden, müssen die oberen Pakete abgestapelt werden, um an die unteren Pakete mit den Lieferscheinen gelangen zu können. Anschließend bringt die Klägerin die Lieferscheine zur Kontoristin, die die Preise der Artikel einträgt. Die Waren werden dann von der Klägerin mit den entsprechenden Preisen ausgezeichnet. Ein Teil der Waren befindet sich hierbei in den Kartons auf der angelieferten Palette. Die Klägerin muß sich hierbei, je nach Lage der Kartons, häufig bücken und wiederaufrichten. Die restlichen Waren werden von der Klägerin auf ihrem Auszeichnungstisch ausgezeichnet. Hierzu hebt die Klägerin die Kartons von der Palette und stellt sie auf den Auszeichnungstisch. Ein Teil der ausgezeichneten und für den Betrieb Krefeld bestimmten Waren wird von der Klägerin in die Kartons zurückgelegt. Die Klägerin stapelt diese Kartons auf der Palette, wobei die schweren Kartons von Herrn R… bewegt werden sollen. Teilweise werden die ausgezeichneten und für den Betrieb Krefeld bestimmten Waren von der Klägerin in ca. 80 cm hohe und von oben beladbare Aluminiumcontainer geladen. Die ausgezeichneten und für den Betrieb Moers bestimmten Waren werden von der Klägerin in ca. 2m hohe und von vorne beladbare Aluminiumcontainer und in, mit einer Hängevorrichtung für den Kleidertransport versehene, Gittercontainer geladen. Beim Verladen der ausgezeichneten Waren muß sich die Klägerin häufig bücken und wiederaufrichten.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihre Tätigkeit erfordere in der Regel körperlich schweres Arbeiten und erfülle daher die Anforderungen der Lohngruppe II Lohnstaffel b). Sie bekomme zur Bearbeitung täglich im Durchschnitt 150 Pakete mit einem durchschnittlichen Gewicht von 10 – 15 kg angeliefert. Sie habe daher arbeitstäglich durchschnittlich ein Gewicht von 35 – 40 Zentnern zu bewegen. Das Abladen der Pakete, Auspacken der Waren und Verladen der ausgezeichneten Waren nehme insgesamt zwei Drittel ihrer Arbeitszeit in Anspruch. Diese Tätigkeit sei mit einer dauerhaften physiologisch ungünstigen Haltung verbunden, da sie sich häufig bücken und wiederaufrichten müsse. Für den Zeitraum vom 1. November 1989 bis zum 31. August 1990 hat die Klägerin die Lohndifferenz zwischen den LohnGr. II Lohnstaffel a) und Lohnstaffel b) auf 2.965, -- DM brutto beziffert.
Die Klägerin hat beantragt,
- festzustellen, daß die Klägerin in die Lohngruppe II Lohnstaffel b) des Lohntarifvertrages im Einzelhandel NRW eingruppiert ist;
- die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.965, -- DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, daß der Klägerin Lohn nach Lohngruppe II Lohnstaffel b) nicht zustehe. Die Klägerin habe lediglich die Waren auszuzeichnen und dabei keine schweren Gewichte zu heben. Es sei nicht erforderlich, einzelne Pakete von der Palette auf den Auszeichnungstisch zu stellen, da die Waren einzeln auf den Tisch gehoben werden könnten. Sie habe sämtliche Auszeichnerinnen angewiesen, bei schweren Paketen sich der Hilfe des Herrn R… zu bedienen. Dieser allein sei zuständig für das Bewegen von schweren Paketen. Das Auszeichnen der einzelnen Artikel sei keine körperlich schwere Arbeit, da keine große Muskelbeanspruchung erforderlich sei. Die Klägerin verbringe allenfalls ein Drittel ihrer Arbeitszeit in physiologisch ungünstiger Haltung. Wenn sich die Klägerin häufig bücken und wiederaufrichten müsse, rechtfertige dies nicht die Annahme, daß es sich um eine körperlich schwere Arbeit handele.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Klägerin steht Vergütung nach LohnGr. II Lohnstaffel b) des Lohntarifvertrages für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen zu.
1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit zu den tarifschließenden Verbänden der Mantel- (MTV) und der Lohntarifvertrag (LohnTV) für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen unmittelbar und zwingend Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt mithin allein davon ab, in welche Vergütungsgruppe die Klägerin eingruppiert ist. Zur Beurteilung der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche sind folgende tarifliche Bestimmungen heranzuziehen:
Ҥ 9 MTV
Gehalts- und Lohnregelung
Die Festsetzung der Gehälter und Löhne erfolgt in einer besonderen tariflichen Regelung. Der/ die Arbeitnehmer/in wird in die seiner/ihrer überwiegend ausgeübten Tätigkeit entsprechenden Gehalts- oder Lohngruppe eingeordnet. …
LohnTV i.d.F. vom 6. Juli 1989
- …
wird in Ergänzung des Manteltarifvertrages … folgender Lohntarifvertrag abgeschlossen: …
§ 2
Lohnregelung
- Die gewerblichen Arbeitnehmer/innen sind nach der von ihnen tatsächlich verrichteten Tätigkeit in eine der nachstehenden Lohngruppen einzugliedern. Die in den Lohngruppen aufgeführten Beispiele gelten als Richtbeispiele.
- …
Lohngruppe II
Arbeitskräfte für Tätigkeiten, die ohne handwerkliche Vor- oder Ausbildung ausgeführt werden, die aber
Lohnstaffel a)
gewisse Fertigkeiten erfordern
Beispiele:
Abfüller
Abpacker
Abwieger
Etikettierer
Auszeichner
Kommissionierer
Gehilfinnen in Imbißecken, Milchbars usw.
Fahrstuhlführer
Kaffeebeleser
Küchenhilfen
Näher und Näherinnen für einfache Arbeiten
Repassiererinnen
Spülhilfen
Lohnstaffel b)
in der Regel körperlich schweres Arbeiten erfordern
Beispiele:
Auszeichner, Kommissionierer
Beifahrer
Bufettkräfte
Fahrer für Elektrokarren
Fahrstuhlführer, die be- und entladen
Heizer, Lagerarbeiter, Packer
Pförtner, sowie sonstige Arbeitskräfte, soweit sie die Voraussetzungen der Lohngruppe III nicht erfüllen.”
2.a) Nach § 9 Ziff. 1 MTV ist für die tarifliche Bewertung die vom Arbeitnehmer überwiegend ausgeübte Tätigkeit maßgebend. Dies ist die Tätigkeit, die mehr als die Hälfte der Gesamtarbeitszeit in Anspruch nimmt (BAG Urteil vom 7. November 1990 – 4 AZR 67/90 – NZA 1991, 394). Die Eingliederung der überwiegenden Tätigkeit in die Lohngruppen bzw. Lohnstaffeln des LohnTV erfolgt nach allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen und Beispielen. Die Beispiele gelten gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 LohnTV als Richtbeispiele und erfassen damit Tätigkeiten, die typischerweise im Geltungsbereich des Tarifvertrages verrichtet werden. Mit der Zuordnung der Beispiele zu den Lohngruppen bzw. Lohnstaffeln bringen die Tarifvertragsparteien zum Ausdruck, daß eine Tätigkeit, die als Beispiel genannt wird, die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale dieser Lohngruppe bzw. Lohnstaffel erfüllt (BAG Urteil vom 7. November 1990 – 4 AZR 67/90 – NZA 1991, 394, m.w.N.). Wird die von einem Arbeitnehmer überwiegend ausgeübte Tätigkeit von einem Tätigkeitsbeispiel nicht oder nicht in vollem Umfange erfaßt, so sind für die Eingliederung die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale heranzuziehen, bei deren Auslegung wiederum die Tätigkeitsbeispiele zu berücksichtigen sind (BAG Urteil vom 7. November 1990, aaO).
b) Das Landesarbeitsgericht ist den vorstehenden Rechtsgrundsätzen gefolgt. Die Klägerin hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts die an ihren Arbeitsplatz angelieferten Waren auszupacken, zu kontrollieren, auszuzeichnen und in die gleichen oder andere Behältnisse umzupacken, um sie in der Verkaufsstelle verkaufsfertig anbieten zu können. Nach der betrieblichen Organisation der Beklagten gehören zur Erfüllung dieser Arbeitsaufgabe alle verrichteten Einzelarbeiten. Die Klägerin erfüllt eine einheitliche Arbeitsaufgabe im Sinne der Senatsrechtsprechung (BAG Urteil vom 7. November 1990, aaO). Alle Arbeitsschritte stehen in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Auszeichnung der Waren und sind einheitlich tariflich zu bewerten. Auszeichnung von Waren bedeutet, sie mit einem Preisschild zu versehen (Mackensen, Deutsches Wörterbuch, 12. Aufl., Stichwort: auszeichnen, S. 115; Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1986, Stichwort: auszeichnen, S. 221). Die Pack- und Umpacktätigkeiten sind nur Hilfstätigkeiten für die Auszeichnung der Ware.
3. Die Bewertung der Arbeitstätigkeit der Klägerin kann nicht allein nach den tariflichen Beispielstätigkeiten erfolgen.
a) Sowohl in der LohnGr. II Lohnstaffel a) als auch in der LohnGr. II Lohnstaffel b) sind Auszeichner erfaßt. Auch dann, wenn der Senat die damit im Zusammenhang stehenden Tätigkeiten in die Betrachtung einbezieht, läßt sich die Tätigkeit der Klägerin an Hand der Tätigkeitsbeispiele nicht eindeutig bewerten. Abpacktätigkeiten, also eine Portionierung aus einer größeren Menge von Waren, wie Packtätigkeiten, werden sowohl in LohnGr. II Lohnstaffeln a) und b) erwähnt. Es muß damit zur Bewertung der Eingruppierung der Klägerin auf die allgemeinen Merkmale der Lohngruppen abgestellt werden.
b) Die LohnGr. II Lohnstaffeln a) und b) unterscheiden sich dadurch, daß nach Lohnstaffel a) zu bewerten sind Tätigkeiten, die ohne handwerksmäßige Vor- oder Ausbildung ausgeführt werden, die aber gewisse Fertigkeiten erfordern. Dagegen sind nach Lohnstaffel b) zu bewerten Tätigkeiten, die in der Regel körperlich schweres Arbeiten erfordern. Solche Tätigkeiten, die in der Regel körperlich schweres Arbeiten erfordern, sind aus der Lohnstaffel a) herausgehoben.
c) Die Klägerin erfüllt nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts die Ausgangsmerkmale der Lohnstaffel a). Die Arbeiten der Klägerin können ohne handwerksmäßige Vor- oder Ausbildung verrichtet werden. Sie benötigen lediglich gewisse Fertigkeiten zur zweckmäßigen Arbeitsgestaltung und Geschicklichkeit zur zweckmäßigen Arbeitsausführung.
4. Die Arbeitsaufgabe der Klägerin erfordert in der Regel körperlich schweres Arbeiten.
a) Der Begriff der “schweren Arbeit” ist nach dem Sprachgebrauch mehrdeutig. Das Adjektiv schwer wird nach dem allgemeinen Sprachgebrauch verwandt, um auszudrücken, ein bestimmtes Gewicht haben, von großem Gewicht. Das Adjektiv schwer wird aber auch im übertragenen Sinne verwandt in der Bedeutung mühsam, anstrengend, hart, ermüdend sowie übertragen als ernst, gefährlich, schwerwiegend (z.B. bei Krankheiten) (vgl. Mackensen, Deutsches Wörterbuch, Stichwort: schwer, S. 954; Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Stichwort: schwer, S. 1156). Auch in der tariflichen Begriffsverwendung ist das Adjektiv schwer im Sinne des Lohntarifvertrages für den Einzelhandel nicht auf schwer, schwergewichtig fixiert. Das ergibt sich eindeutig aus den der Lohnstaffel b) zugeordneten Beispielstätigkeiten, wenn dort die Fahrer für Elektrokarren ausnahmslos der Lohnstaffel b) zugeordnet werden. Insoweit haben die Tarifvertragsparteien nicht die körperlich schwer belastende Arbeit, sondern die schwierige Arbeit angesprochen.
b) Der Senat hat in Anlehnung an den Sprachgebrauch und die sich verändernde Arbeitswissenschaft das Tatbestandsmerkmal der schweren Arbeit nicht mehr allein nach dem Ausmaß der Muskelbeanspruchung definiert, sondern auf alle Umstände abgestellt, die auf den Menschen belastend einwirken und zu körperlichen Reaktionen führen. Zu berücksichtigen sind bei der Beurteilung mithin auch ausschließlich stehende Tätigkeit, notwendige Körperhaltung, taktgebundende, repetitive Arbeit, nervliche und sensorische Belastung, Lärm- und Umwelteinwirkung und soziale Belastungsfaktoren (BAG Urteil vom 27. April 1988, BAGE 58, 194 = AP Nr. 63 zu § 1 TVG: Metallindustrie, m. Anm. von von Hoyningen-Huene). An dieser Rechtsprechung ist entgegen der Kritik von von Hoyningen-Huene festzuhalten. Er verkennt, daß sich Sprache, Verkehrsanschauung und wissenschaftliche Erkenntnis wandeln und fortentwickeln können. Seine Einwendungen, der Senat habe die von ihm selbst entwickelten Auslegungsgrundsätze zur Berücksichtigung des tariflichen Zusammenhangs von Tarifverträgen verletzt, greifen zumindest im vorliegenden Fall nicht, wie anhand des Wortlauts des Tarifvertrags nachgewiesen ist.
Die Tätigkeit, die zur Verrichtung einer schweren Arbeit erforderlich ist, besteht nicht nur in dem Heben von Gewichten, sondern in allen Tätigkeiten die zu körperlichen Reaktionen führt. Das kann das Heben, Absetzen, Schieben, Ziehen, Tragen und Bewegen einer Last sein. Die Tätigkeit kann aber auch zu nervlichen und sensorischen Reaktionen führen.
c) Zur Eingruppierung nach Lohnstaffel b) des Tarifvertrages ist Voraussetzung, daß das Ausmaß der körperlichen schweren Arbeit “in der Regel” anfallen muß. Dies bedeutet, daß die Tätigkeit ständig wiederkehrend in rechtlich erheblichem Ausmaß anfallen muß (BAG Urteil vom 7. November 1990 – 4 AZR 67/90 – NZA 1991, 394). Nicht erforderlich ist es, daß der Anteil der körperlich schweren Arbeit im Verhältnis zur Gesamtarbeitszeit überwiegt. Es reicht aus, wenn die Tätigkeit häufig wiederkehrt und nicht nur gelegentlich anfällt (BAG Urteil vom 7. November 1990, aaO). Auch diese Auslegung ergibt sich aus den tariflichen Beispielstätigkeiten. Nach Lohnstaffel b) sind einzugruppieren Beifahrer sowie Fahrstuhlführer, die be- und entladen. Die körperlich belastende (Lade-)Tätigkeit kann während der Fahrten eines Beifahrers auf einem LKW oder während der Fahrt des Fahrstuhlführers nicht anfallen. Es muß mithin ausreichen, daß die körperlich belastende Tätigkeit nicht nur vorübergehend vorkommt.
5. Die Vergütungsmerkmale des Lohntarifvertrages sind nicht wegen Verstoßes gegen eine mittelbare Frauendiskriminierung unwirksam, weil der Lohntarifvertrag auf körperlich schwere Arbeit in der Bewertung der Eingruppierung abstellt.
a) Nach Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag wird jeder Mitgliedstaat während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten. Arbeitsentgelt ist jede Form der Vergütung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet a), daß das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird und b), daß für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist. Entsprechende Grundsätze gelten nach der EG-Richtlinie 75/117 des Rates vom 10. Februar 1975 in bezug auf die Annäherung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten bezüglich der Anwendung des Gleichheitsprinzipes bei der Entlohnung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern (“Richtlinie Gleichheit bei der Entlohnung”, Amtsblatt EG L 45/75 S. 19).
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 1. Juli 1986 – Rs 237/85 – AP Nr. 13 zu Art. 119 EWG-Vertrag ausgeführt, daß der Grundsatz des gleichen Entgelts verlangt, daß die Art der zu verrichtenden Arbeit objektiv berücksichtigt wird. Die gleiche Arbeit oder eine Arbeit, die als gleichwertig anerkannt wird, muß also in der gleichen Weise unabhängig davon entlohnt werden, ob sie von einem Mann oder von einer Frau verrichtet wird (Nr. 13 der Begründung). Den Erfordernissen des Lohngleichheitssatzes ist genügt, wenn zur Differenzierung der Lohnstufen ein Kriterium verwandt wird, das auf den objektiv meßbaren, für die Verrichtung der Tätigkeit erforderlichen Krafteinsatz abstellt (Nr. 14, aaO). Alsdann heißt es in Nr. 15: “Wenn auch ein bestimmtes Kriterium wie das der erforderlichen muskelmäßigen Anstrengung tatsächlich männliche Arbeitnehmer begünstigen kann, da davon auszugehen ist, daß ihre Körperkräfte im allgemeinen größer sind als die der weiblichen Arbeitnehmer, ist es doch bei der Prüfung, ob es diskriminierend ist, innerhalb des Systems der beruflichen Einstufung in seiner Gesamtheit unter Berücksichtigung der anderen Kriterien zu beurteilen, die bei der Festlegung der Lohnstufen eine Rolle spielen. Ein System ist nicht allein deshalb diskriminierend, weil bei einem seiner Kriterien auf Eigenschaften abgestellt wird, die Männer eher besitzen. Ein System der beruflichen Einstufung muß jedoch, um insgesamt nicht diskriminierend zu sein und damit den Grundsätzen der Richtlinie zu entsprechen, so ausgestaltet sein, daß es, wenn die Art der in Frage stehenden Tätigkeiten es zuläßt, als gleichwertig anerkannte Arbeitsplätze umfaßt, bei denen andere Kriterien berücksichtigt werden, hinsichtlich derer die weiblichen Arbeitnehmer besonders geeignet sein können.”
b) Sofern der Senat bei der Bewertung des Tatbestandsmerkmals der “körperlich schweren Arbeit” allein auf die müskelmäßige Beanspruchung abstellen würde, würde er die für ihn bindende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs verletzen. Der LohnTV für den Einzelhandel würde Europaverfassungsrecht verletzen, wenn er allein auf die muskelmäßige Beanspruchung bei der Eingruppierung abstellen würde. Denn an der kompensatorischen Bewertung einer Tätigkeit von Frauen fehlt es im LohnTV für den Einzelhandel. Soweit in der Lohnstaffel c) auf besondere Geschicklichkeit, die mehr dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wird, Übung oder Erfahrung abgestellt ist, ist ersichtlich nicht auf die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Hände abgestellt, wie sich aus den hinzugefügten Beispielstätigkeiten ergibt. In den Beispielstätigkeiten sind erwähnt Handelsfachpacker, Hubstaplerfahrer und Möbelfachpacker. Dagegen sind Näherinnen, bei denen es auf die Geschicklichkeit ankommen mag, der Lohnstaffel a) zugewiesen.
c) Art. 119 EWG-Vertrag erfordert, das Tatbestandsmerkmal “der schweren körperlichen Arbeit” europaverfassungskonform auszulegen und auf alle den Körper belastenden Umstände abzustellen, die bei Männern und Frauen in gleicher Weise zu körperlichen Reaktionen führen können. Die muskelmäßige Belastung ist hierfür allein nicht maßgebend.
Da zwischen den Parteien wegen des Arbeitsschutzes keine Meinungsverschiedenheiten bestehen, braucht der Senat nicht zu untersuchen, in welchem Umfang der Arbeitsplatz der Klägerin der von der staatlichen Gesetzgebung bis zum 31. Dezember 1992 umzusetzenden Richtlinie des Rates vom 29. Mai 1990 über die Mindestvorschriften bezüglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der manuellen Handhabung von Lasten entspricht, die für die Arbeitnehmer inbesondere eine Gefährdung der Lendenwirbelsäule mit sich bringt (Vierte Einzelrichtlinie im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG erneut 90/269/EWG – ABL Nr. L 156 vom 21. Juni 1990, S. 9).
6. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Rechtsgrundsätze ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden. Das Landesarbeitsgericht hält sich in den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum.
a) Das Landesarbeitsgericht hat durch die Verweisung auf die Entscheidung des Arbeitsgerichts festgestellt, daß die Klägerin Pakete von einem relativ geringen Gewicht bis zu einem Gewicht von 50 kg zu bearbeiten hat, um die angelieferte Ware auszuzeichnen. Die meisten Kartons haben ein Gewicht von ca. 10 bis 15 kg. Dies ist ein Gewicht, das für sich genommen körperlich belastend ist und das jedenfalls Frauen während der Schwangerschaft nicht mehr heben dürfen.
Die Klägerin hat das Gesamtgewicht der von ihr täglich zu bewegenden Pakete mit 25 bis 40 Zentnern angegeben (sechs Paletten mit 25 Paketen zu 10 bis 15 kg). Die Beklagte hat zu diesen Tatsachenbehauptungen nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern sich auf die Behauptung beschränkt, die Pakete würden durch einen männlichen Mitarbeiter auf den Auszeichnungstisch gehoben, wenn dies erforderlich sei. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit Feststellungen nicht getroffen. Dies war auch nicht notwendig, denn in jedem Fall ist das Gewicht von 10 bis 15 kg nicht mehr unerheblich, unabhängig davon, ob die Klägerin sie auf den Auszeichnungstisch heben muß oder sie auf der Europalette bearbeiten (schieben, ziehen) muß. Darüberhinaus ergibt sich aus den Begleitumständen, daß die Klägerin schwere Arbeiten zu verrichten hat.
Nach den eigenen Angaben der Beklagten muß die Klägerin etwa 1/3 ihrer Arbeitszeit in gebückter Haltung mit den angelieferten Waren arbeiten. Neben dem variablen Gewicht ist während eines erheblichen Teils der Arbeitszeit eine Beeinträchtigung des Skelettsystems durch wechselnde Körperhaltung unter Gewichtseinwirkung von ihr hinzunehmen.
b) Die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen gegen die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts sind nicht gerechtfertigt. Die Beklagte rügt, das Landesarbeitsgericht habe es unterlassen, ein arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten einzuholen, daß Gewichte von 10 bis 15 kg jedenfalls nicht als schwer anzusehen sind. Dies ist verfahrensmäßig nicht zu beanstanden. Die Bewertung, ob eine Tätigkeit schwer ist, obliegt dem Gericht und nicht dem Sachverständigen. Der Sachverständige hätte allenfalls ermitteln können die muskuläre Belastung oder die Herz-Puls-Frequenz der Klägerin während der Arbeit. Insoweit hat aber die Beklagte keinerlei Behauptungen tatsächlicher Art aufgestellt.
Soweit die Beklagte rügt, das Landesarbeitsgericht habe nicht aufgeklärt, daß sie Anweisung gegeben habe, daß die Klägerin sich der Hilfe R… bedienen solle, wenn sie schwere Lasten zu tragen habe, daß sie nur 1/3 der Arbeitszeit in gebückter Haltung verbringe und daß sie Sporthanteln und Fahrräder nicht zu bearbeiten brauche, ist ihre Verfahrensrüge unzulässig. Zur Zulässigkeit einer Verfahrensrüge gehört, daß Beweismittel, Beweisthema sowie die vorinstanzliche Fundstelle des Beweisantritts angegeben werden und daß die Unterlassung der Beweiserhebung kausal für die Entscheidung gewesen ist (BAG Urteil vom 11. April 1985, BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972; Urteil vom 9. März 1972 – 1 AZR 261/71 – AP Nr. 2 zu § 561 ZPO). Insoweit hat die Beklagte unterlassen, die Kausalität der unterbliebenen Beweisaufnahme für die Entscheidung darzulegen. Hierzu ist sie aber auch nicht in der Lage, weil das Landesarbeitsgericht aus dem Kriterium der muskelmäßigen Beanspruchung und den Umweltbedingungen auf die körperlich schwere Arbeit geschlossen hat.
c) Soweit die Beklagte darauf verweist, daß sie Anweisung gegeben habe, daß die Klägerin sich der Hilfe des Mitarbeiters R… bedienen solle, wenn sie schwere Lasten zu bewegen habe, ist ihr Vorbringen nicht schlüssig. Es mag schon sein, daß es einem Arbeitnehmer nicht überlassen bleiben kann, durch Übernahme nicht geschuldeter Arbeit eine höhere Vergütungsgruppe zu erlangen. Nach § 289 ZPO wird die Wirksamkeit des gerichtlichen Geständnisses nicht dadurch beeinträchtigt, daß ihm eine Behauptung hinzugefügt wird, die ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel enthält. Die Klägerin hat behauptet, daß sie schwere Pakete zu tragen habe. Die Beklagte hat darauf entgegnet, daß sie zwar Pakete zu tragen habe, aber die schweren Pakete durch Mitarbeiter zu bewegen sind. Insoweit hätte es der Beklagten aber oblegen, schlüssig darzulegen, wo sie die Grenze zwischen schwer und leicht zieht und wann die anfallenden Arbeiten durch Dritte verrichtet werden müssen. Bei der allein gegebenen Anweisung, wird nicht auf die objektive Lage, sondern die subjektiven Vorstellungen der Parteien abgestellt. Das ist unzureichend.
Unterschriften
Schaub, Schneider, Bitter, Hecker, Dr. Apfel
Fundstellen
Haufe-Index 846747 |
NZA 1993, 181 |
RdA 1992, 405 |
Streit 1993, 56 |