Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung an Verweisungsbeschluss
Leitsatz (amtlich)
Ein Verweisungsbeschluss ist nicht bereits deshalb unbeachtlich, weil das Gericht aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen im Ergebnis zu Unrecht von einem Wohnsitz des Klägers (statt - wie zutreffend - im Ausland) in einem anderen deutschen Gerichtsbezirk ausgegangen ist (Abgrenzung zu BAG vom 11.11.1996 - 5 AS 12/96 = AP Nr 51 zu § 36 ZPO).
Normenkette
SGG § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98; GVG § 17a
Verfahrensgang
SG München (Beschluss vom 29.03.2005; Aktenzeichen S 9 U 26/05) |
Tatbestand
Zu entscheiden ist ein negativer Kompetenzkonflikt (§ 58 Abs 1 Nr 4 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Der portugiesische Kläger macht geltend, im März 2001 einen Arbeitsunfall erlitten zu haben. Der ihm zu Händen der ihn vertretenden Hamburger Rechtsanwältin zugestellte Widerspruchsbescheid der Bau-Berufsgenossenschaft Bayern und Sachsen, der an den Kläger unter einer portugiesischen Adresse adressiert war, weist auf das Sozialgericht (SG) Hamburg als zuständiges SG hin. In ihrer Klageschrift vom 19. Dezember 2003 gab die Rechtsanwältin als Adresse des Klägers "22889 Tangstedt" (Schleswig-Holstein) an und bekräftigte auf Anfrage des Gerichts, dieser sei dort zum Zeitpunkt der Klageeinreichung gemeldet gewesen. Nach Anhörung der Beteiligten erklärte sich das SG Hamburg mit Beschluss vom "17. März 2004" für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das SG Lübeck; der Kläger habe zur Zeit der Klageerhebung seinen Wohnsitz im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts gehabt. Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung war dem SG Hamburg weder die Unfallakte der Beklagten, die Hinweise auf einen Wohnsitz in Portugal enthielt, zugegangen noch der Schriftsatz der Bevollmächtigten des Klägers vom 15. Juli 2004, dem eine vom Kläger unter dem "10.2.04" unterschriebene Erklärung beilag, wonach er seinen Wohnsitz in Tangstedt "hatte", sich aber aus gesundheitlichen Gründen seit Juni 2002 in Portugal aufhalte. Nach Anhörung der Beteiligten erklärte das SG Lübeck sich mit Beschluss vom 28. Dezember 2004 (in dessen Rubrum als Adresse des Klägers "22889 Tangstedt" angegeben ist) für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das SG München: Es stehe fest, dass der Verweisungsbeschluss des SG Hamburg rechtswidrig sei, da wegen des Wohnsitzes des Klägers in Portugal das SG München örtlich zuständig sei, in dessen Bezirk die Beklagte ihren Sitz habe. Der Verweisungsbeschluss des SG Hamburg sei nicht bindend, dieses habe sich auf Grund der falschen Angabe der Prozessbevollmächtigten des Klägers über dessen Wohnsitz geirrt (Hinweis auf "BAG", NJW 1997, 1091).
Das SG München hat mit Beschluss vom 29. März 2005 den Rechtsstreit dem Bundessozialgericht (BSG) mit dem Antrag vorgelegt, gemäß § 58 Abs 1 Nr 4 SGG das örtlich zuständige SG zu bestimmen.
Der Kläger trägt vor, ihm gehe es vor allem um den Fortgang des Verfahrens; für ihn sei die Zuständigkeit eines Hamburger Gerichts am günstigsten, da sich dort seine deutschen Kontakte befänden. Die Beklagte hält den Verweisungsbeschluss des SG Lübeck für zutreffend.
Entscheidungsgründe
1. Die Anrufung des BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts ist zulässig.
Nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG wird das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Das BSG ist das gemeinsam nächsthöhere Gericht iS dieser Vorschrift, da für die beteiligten SGe kein gemeinsames LSG zuständig ist.
Das BSG entscheidet über den Antrag im Beschluss des SG München. Diesem entnimmt der Senat, dass sich auch das SG München für unzuständig hält (vgl BSG vom 27. Mai 2004, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8). Unerheblich ist, dass dieser Beschluss ohne vorherige Anhörung der Beteiligten ergangen ist. Zwar sind Verweisungsbeschlüsse unbeachtlich und nicht bindend, wenn zuvor die Beteiligten nicht angehört worden sind. Ein entsprechendes Erfordernis gilt jedoch nicht für den Antrag nach § 58 Abs 2 SGG.
Der Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung setzt im Übrigen nicht voraus, dass alle im Verfahren bisher ergangenen Verweisungsbeschlüsse im Ergebnis unverbindlich sind. Die Unverbindlichkeit ist jedenfalls dann keine Zulässigkeitsvoraussetzung, wenn der Konflikt - wie hier - sich gerade an dieser Frage entzündet (BSG vom 25. Februar 1999, SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 mit insoweit zust. Anm Krause SGb 2000, 144 ff).
2. Zuständiges Gericht ist das SG Lübeck, da der Verweisungsbeschluss des SG Hamburg vom 17. März 2004 bindend ist.
Er beruht weder auf Willkür noch auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze; insbesondere ist er nach Anhörung der Beteiligten ergangen (vgl hierzu nur BSG vom 25. Februar 1999, SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff und BFH/NV 1991, 619 ff).
3. An der ordnungsgemäßen Anhörung der Beteiligten zum Beschluss des SG Hamburg vom "17. März 2004" ändert der Umstand nichts, dass das entsprechende Anhörungsschreiben an die Beteiligten mit der Bitte um Äußerung innerhalb von drei Wochen erst am 12. März 2004 abgesandt worden war. Denn ausweislich der Akten ist der Beschluss an die Beteiligten erst am 26. April 2004 abgegangen. Zuvor hatte die Prozessbevollmächtigte des Klägers durch Fax vom 16. März 2004, am selben Tage beim SG Hamburg eingegangen, beantragt, den Rechtsstreit an das SG Lübeck zu verweisen; die Beklagte hatte sich bis zur Absendung des Beschlusses nicht geäußert.
4. Das SG Hamburg konnte ohne Willkür und Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze davon ausgehen, dass als Wohnsitz oder Aufenthaltsort des Klägers lediglich Tangstedt (Schleswig-Holstein) in Betracht kam.
Im Zeitpunkt seines Verweisungsbeschlusses (vgl BSG vom 29. Januar 2002 - B 7 SF 46/01 S sowie vom 28. Mai 2002 - B 7 SF 26/02 S, beide unveröffentlicht) ergab sich kein Anhaltspunkt für eine andere örtliche Zuständigkeit als die des für Tangstedt zuständigen SG Lübeck. Diesen Wohnsitz des Klägers hatte seine Prozessbevollmächtigte in der Klageschrift vom 19. Dezember 2003 angegeben; sie hatte ferner auf die Anfrage des SG Hamburg in der Klageeingangsbestätigung nach einem eventuellen Wohnsitz oder Arbeitgeber in Hamburg mit Schriftsatz vom 27. Februar 2004 bestätigt, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Klageeinreichung in Tangstedt "gemeldet" gewesen sei. Andere Informationen lagen dem SG Hamburg nicht vor. Ihm waren weder der Widerspruchsbescheid der Beklagten bekannt, der eine portugiesische Adresse des Klägers aufwies, noch die sonstigen Akten der Beklagten. Diese hatte sich auch zum Vorhaben einer Verweisung an das SG Lübeck nicht geäußert. Schließlich kann nicht als grob fehlerhaft gewertet werden, dass das SG Hamburg bei diesem Kenntnisstand mit dem Erlass des Verweisungsbeschlusses nicht noch zugewartet hat.
5. Für den vorliegenden Fall folgt kein anderes Ergebnis aus dem Hinweis des SG Lübeck auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, nicht "BRG") vom 11. November 1996 (Az.: 5 AS 12/96, AP Nr 51 zu § 36 ZPO = NJW 1997, 1091). Hierin hat das BAG zwar einer Verweisung mit der Begründung keine Bindungswirkung beigemessen, dass das verweisende Gericht auf Grund falscher Angaben des Klägers über den Wohnsitz des Beklagten geirrt habe. Zugrunde lag jedoch ein anders gelagerter Rechtsstreit als der vorliegende: Der damalige Kläger hatte die Anschrift der beklagten Arbeitgeberin mit einer falschen Postleitzahl (der eines gleichnamigen, jedoch in einem anderen Gerichtsbezirk liegenden Ortes) angegeben. Deshalb hatte das Arbeitsgericht nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit an ein unzutreffendes Arbeitsgericht verwiesen. Das BAG meinte (unter Hinweis auf weitere eigene Rechtsprechung), dass Verweisungsbeschlüsse ausnahmsweise dann nicht bindend seien, wenn das verweisende Gericht über die Zuordnung des von ihm maßgeblich gehaltenen Ortes (Wohnsitz, Sitz usw) zu dem Bezirk des Gerichts, an das verwiesen worden ist, offensichtlich geirrt habe; Gleiches gelte, wenn das verweisende Gericht offensichtlich über den Wohnsitz, Sitz usw geirrt habe und auch dann, wenn der Irrtum des Gerichts auf falschen Angaben des Klägers beruhe.
Der Senat lässt offen, ob er dieser Rechtsauffassung zustimmt. Jedenfalls sind die vom BAG entschiedenen Sachverhaltsgestaltungen von der hier vorliegenden zu unterscheiden. Ein offensichtlicher Irrtum im Sinne der zitierten Entscheidung des BAG liegt im Fall des Klägers nicht vor. Das SG Hamburg wollte zwar an das für den Wohnsitz des Klägers zuständige Gericht verweisen; sein Irrtum ist jedoch weder dem Fall der Verwendung einer falschen Postleitzahl vergleichbar noch bestand er darin, dass es den Wohnort Tangstedt einem unzutreffenden Gerichtsbezirk zugeordnet (so die Fallgestaltung in BAG vom 31. Januar 1994, AP Nr 44 zu § 36 ZPO) oder darin, dass es Hauptverwaltung und Sitz einer juristischen Person verwechselt hätte (so die Fallgestaltung in BAG vom 30. März 1994 - 5 AS 6/94, JURIS). Im vorliegenden Fall geht es nicht um eine irrtümliche Zuordnung innerhalb der örtlichen Zuständigkeit nach § 57 Abs 1 Satz 1 SGG. Es handelt sich vielmehr um die fälschliche Anwendung dieser Vorschrift zur Bestimmung des örtlich zuständigen SG, obwohl, was das SG im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht wissen konnte, vielmehr § 57 Abs 3 SGG (bei Wohnsitz oder Aufenthaltsort des Klägers im Ausland) einschlägig war. In einem solchen Fall kann auch nicht - im Sinne des BAG - damit argumentiert werden, die Bestimmung des "wahren" zuständigen Gerichts halte sich noch im Rahmen einer Umdeutung in das vom verweisenden Gericht "wirklich Gewollten" oder es liege eine "offenbare Unrichtigkeit" (§ 138 SGG) vor.
Wenn bei einer derartigen Fallkonstellation dem SG keine Willkür, also kein nicht haltbares, dh offensichtlich unhaltbares, objektiv unverständliches, unsachliches, nicht mehr zu rechtfertigendes Verhalten (Tombrink, NJW 2003, 2364) vorgeworfen werden kann, ist an der Bindungswirkung auch eines in der Sache unrichtigen Verweisungsbeschlusses festzuhalten (in diese Richtung nunmehr auch BAG vom 19. März 2003, BAGE 105, 305 = AP Nr 59 zu § 36 ZPO). Auf diese Weise wird die grundsätzliche Bindung einer Verweisung für das Gericht, an das verwiesen wird (§ 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz), nicht über Gebühr verwässert und dem Grundgedanken Rechnung getragen, dass grundsätzlich nur die Verletzung von Verfassungsnormen (Art 101 Abs 1 Satz 2, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) ein Abweichen von der einfachgesetzlich eindeutig angeordneten Bindung ermöglicht (Tombrink aaO). Nur dann ist es gerechtfertigt, sich über die bewusst im Interesse der Prozessökonomie angeordnete Unbeachtlichkeit der eventuellen Rechtswidrigkeit einer Verweisung hinwegzusetzen; nur so wird dem unerfreulichen Spiel mit dem "Schwarzen Peter" (s Ewers, FamRZ 1999, 74) so weit wie möglich Einhalt geboten.
6. Ob der Verweisungsbeschluss des SG Lübeck an einem seine Bindungswirkung ausschließenden Fehler leidet, braucht nicht mehr geprüft zu werden: Da der Verweisungsbeschluss des SG Hamburg im vorliegenden Verfahren der erste bindende ist, ist er maßgebend (stRspr, vgl BGH vom 2. Mai 1955, BGHZ 17, 168, 171).
Fundstellen
AnwBl 2005, 141 |
SGb 2006, 116 |