Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschlußfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X beginnt jedenfalls dann, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes sowie die Tatsachen hinsichtlich der weiteren Rücknahmevoraussetzungen kannte (Anschluß an BSG vom 27.7.1989 11/7 RAr 115/87 = SozR 1300 § 45 Nr 45 und BSG vom 27.7.1989 11 RAr 7/88 = SozR 4100 § 103 Nr 42).
2. Zur Frage des Begründungszwanges von Ermessensentscheidungen (Fortführung von BSG vom 24.8.1988 7 RAr 53/86 = SozR 1300 § 41 Nr 2; BSG vom 25.10.1988 7 RAr 120/87, BSG vom 23.11.1988 7 RAr 126/87 = HV-Info 1989, 240, BSG vom 11.1.1989 7 RAr 8/87 und vom 14.2.1989 7 RAr 62/87 = DBlR 3498a, AFG/§ 137).
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 4 S. 2, Abs. 1, § 35 Abs. 1 S. 3, § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2
Gründe
I. Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg).
Sie war vom 1. September 1963 bis 30. September 1981 Geschäftsführerin der Firma 0. Gesellschaft für elektrische Bauelemente mbH, 0. und zugleich deren alleinige Gesellschafterin gewesen. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) hatte für sie unbeanstandet Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet. Die Geschäftsführertätigkeit der Klägerin endete, nachdem die Eröffnung des Vergleichs- und Anschlußkonkursverfahrens über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) durch Beschluß des Amtsgerichts Celle vom 25. September 1981 mangels Masse abgelehnt worden war.
Am 5. Oktober 1981 meldete die Klägerin sich beim Arbeitsamt arbeitslos und beantragte sowohl Alg als auch Konkursausfallgeld (Kaug). Während der Kaug-Antrag negativ beschieden wurde, nachdem die Klägerin schon in Zusammenhang mit ihrem Kaug-Antrag auf das mögliche Fehlen ihrer Arbeitnehmereigenschaft hingewiesen worden war, bewilligte die Beklagte der Klägerin Alg ab Antragstellung für 312 Wochentage (Bewilligungsbescheid vom 14. Oktober 1981). Zur Leistungsgewährung kam es nicht. Vielmehr hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung des Alg gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB X) mit Wirkung ab 5. Oktober 1981 wieder auf, weil die Klägerin als alleinige Gesellschafterin nicht abhängig beschäftigt gewesen sei; sie habe die gesetzliche Anwartschaftszeit nicht erfüllt; sie genieße auch keinen Vertrauensschutz, weil sie im Rahmen ihres Kaug-Antrags über ihre möglicherweise fehlende Arbeitnehmereigenschaft informiert worden sei; sie habe daher im Alg-Verfahren über ihre Stellung in der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) zumindest infolge grober Fahrlässigkeit in wesentlicher Beziehung unvollständige Angaben gemacht; desgleichen habe sie zumindest infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit der Bewilligung des Alg nicht gekannt (Bescheid von 5. November 1981; Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1982).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. August 1985). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte der Klägerin zunächst mitgeteilt, daß sie das von ihr bisher nicht ausgeübte Ermessen nunmehr nachhole, und dies näher begründet (Bescheid vom 3. Februar 1985). Später hat sie den Aufhebungsbescheid vom 5. November 1981 i.d.F. des Bescheides vom 3. Februar 1986 zurückgenommen und durch einen neuen Bescheid ersetzt; zugleich hat sie den Bewilligungsbescheid vom 14. Oktober 1981 erneut zurückgenommen und die Ausübung ihres Ermessens wie im Bescheid vom 3. Februar 1986 begründet (Bescheid vom 5. Juni 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG sowie den Bescheid vom 5. November 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1982 sowie den Bescheid vom 5. Juni 1986 aufgehoben und in den Entscheidungsgründen ausgeführt:
Die Berufung der Klägerin sei begründet. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes erfordere mehrere Schritte. Zum einen müsse der Leistungsträger darlegen, weshalb die Leistungsbewilligung von Anfang an unrechtmäßig gewesen sei. Zum anderen habe er abzuwägen, ob dem Begünstigten nach den Verhältnissen des Einzelfalles Vertrauensschutz gebühre. Gelange er zu dem Ergebnis, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig gewesen und Vertrauensschutz nicht zuzubilligen sei, müsse er schließlich von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch machen und dieses begründen. Ein Nachschieben der im Verwaltungsverfahren unterlassenen Ermessensbegründung während des Prozesses sei unzulässig (§§ 35 Abs. 1, 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, 42 Satz 1 SGB X). Im vorliegenden Fall habe die Beklagte die notwendige Ermessensbegründung durch ihren im Berufungsverfahren erteilten Bescheid vorn 5. Juni 1986 in unzulässiger Weise nachgeholt; denn sie habe - im Unterschied zu den ursprünglich angefochtenen Bescheiden vom 5. November 1981 und 25. Februar 1982 - erst in ihm aufgezeigt, aus welchen Gründen sie Anlaß sehe, ihr Ermessen zu Lasten der Klägerin auszuüben.
Die Beklagte berufe sich für die Rechtmäßigkeit ihres Ersetzungsbescheides zu Unrecht auf mehrere Urteile des Bundessozialgerichts (BSG). Aus ihnen ergebe sich zwar der allgemeine Grundsatz, daß es der Verwaltung unbenommen sei, eine zunächst fehlerhafte Ermessensentscheidung durch einen weiteren Bescheid zu wiederholen, der frühere Formverstöße vermeide. Der Gesetzgeber räume das Recht zur späteren Neubescheidung jedoch nicht unbefristet, sondern nur binnen eines Jahres seit Kenntnis der zur Rücknahme berechtigenden Tatsachen ein. Diese Einjahresfrist sei hier, da die Beklagte die entscheidungserheblichen Tatsachen bereits Ende 1981 gekannt habe, seit langem abgelaufen. Sie könne nicht dadurch außer Kraft gesetzt sein, daß die früheren Bescheide vom 5. November 1981 und 25. Februar 1982 noch im Streit seien. Das Verbot, unterlassene Ermessenserwägungen im Prozeß nachzuschieben, könne nicht durch Erteilung eines Neubescheides, der die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X mißachte, umgangen werden. Eine derartige Fristverlängerung laufe dem Gebot einer schnellen Ermessensabwägung im Verwaltungsverfahren zuwider. Sei aber die Beklagte gehindert gewesen, die in den Bescheiden vom 5. November 1981 und 25. Februar 1982 unterlassene Ermessensbegründung im Berufungsverfahren nachzuholen, könne dahinstehen, ob die sonstigen Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X verwirklicht seien.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Zur Begründung macht sie geltend:
Die einjährige Ausschlußfrist dieser Vorschrift sei durch den Bescheid vom 5. Juni 1986 gewahrt. Das BSG habe bereits mehrfach entschieden, daß die Beklagte in den Fällen, in denen innerhalb der Einjahresfrist ein rechtswidriger Rücknahmebescheid ergangen sei, im Anschluß an den für sie ungünstigen Verfahrensausgang einen neuen Bescheid erlassen dürfe, welcher mit der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts übereinstimme. Sei eine solche Entscheidung im Fall der Beendigung des Gerichtsverfahrens nach Überschreitung des Einjahreszeitraumes möglich, sei nicht einzusehen, weshalb sie während des Prozesses nicht zulässig sein solle.
Inzwischen sei die Rechtsfrage ohnehin durch das Urteil des BSG vom 26. August 1987 - 11a RA 30/86 - (BSGE 62, 103 = SozR 4100 § 48 Nr. 39) geklärt. Darin habe der 11a-Senat betont, daß die Wahrung der Einjahresfrist durch einen ersten Bescheid, der aus Gründen aufgehoben worden sei, die einen zweiten Aufhebungsbescheid nicht ausschlössen, auch für den zweiten Aufhebungsbescheid gelte, wenn er unverzüglich nach Aufhebung des ersten ergehe. Diese Entscheidung traue Sinn und Zweck des § 45 Abs. 4 CD Satz 2 SGB X voll Rechnung.. Sie gingen dahin, das Vertrauen des Begünstigten auf die Bindungswirkung des früheren Bescheides zu schützen. Hier sei das Vertrauen der Klägerin spätestens durch den Aufhebungsbescheid von 5. November 1981 erschüttert worden. Richtig sei, daß dieser Bescheid, weil er nicht habe erkennen lassen, welche Ermessenserwägungen ihm zugrunde gelegen hätten, rechtswidrig gewesen sei. Doch sei es der Beklagten unbenommen geblieben, ihn trotz zwischenzeitlichen Verstreichens der Einjahresfrist durch einen rechtmäßigen zu ersetzen. Die Beklagte habe sich damit durchaus im Rahmen der Rechtsprechung des BSG bewegt. So sei die Aufhebung des ersten Aufhebungsbescheides aus Gründen erfolgt, die einem erneuten Aufhebungsbescheid nicht entgegengestanden hätten. Allerdings habe sich das Urteil des BSG vorn 26. August 1987 auf den Mangel fehlender Anhörung bezogen. Indessen könne für das Fehlen von Ermessenserwägungen im ersten Bescheid nichts anderes gelten, weil auch dieser Mangel durch einen Ersetzungsbescheid geheilt werden könne. Der Aufhebungsbescheid vom 5. Juni 1986 habe, wie vom BSG ferner verlangt, nicht nur die bisher ergangenen Bescheide aufgehoben, sondern sie gleichzeitig unter Darstellung der zugrundeliegenden Ermessenserwägungen ersetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgericht (LSG) aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 5. Juni 1986 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie teilt die Auffassung des LSG, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X auch für einen Ersetzungsbescheid zu gelten habe, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden und fristgemäß erteilten, jedoch wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen Rücknahmebescheides trete. Zudem sei fraglich, ob die Beklagte mit ihrem Ersetzungsbescheid überhaupt Ermessen ausgeübt und dargetan habe. Sie habe nämlich nicht abgewogen, sondern allein auf das öffentliche Interesse abgehoben, dem es entspreche, rechtswidrige Zahlungen von Alg zu vermeiden. Ihr Hinweis auf die Tatsachenkenntnisse der Klägerin, die angeblich mehr ins Gewicht fielen als die des Sachbearbeiters der Beklagten, vermöchten allenfalls die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, nicht aber die Ermessensentscheidung zu stützen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz-SGG-).
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Streitgegenstand ist lediglich noch der Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986, der gemäß §§ 96 Abs 1, 153 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Er ist an die Stelle des Aufhebungsbescheides vom 5. November 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1982 und des Bescheides vom 3. Februar 1986 getreten; denn diese Bescheide sind durch ihn zurückgenommen worden. Eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (BSG vom 14. Februar 1989 - 7 RAr 62/87; s auch Urteil des 8b-Senats vom 19. Dezember 1979 - BSGE 49, 229, 231 = SozR 1200 § 34 Nr 10).
Der Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986 ist rechtswidrig. Er wird nicht von § 45 SGB X, der hier allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommt, getragen. Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Abs 1). Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an eine Rücknahme schutzwürdig ist (Abs 2 Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs 2 Satz 2). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Abs 2 Satz 3 Nr 2). Gleiches gilt, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbs 1).
Die Bestimmung des § 45 SGB X kommt vorliegend zur Anwendung, weil sich der Alg-Bewilligungsbescheid vom 14. Oktober 1981 als rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darstellt. Rechtswidrig ist dieser Verwaltungsakt, weil die Klägerin die Anwartschaftszeit iS des § 104 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) idF des 5. AFG-ÄndG vom 23. Juli 1979 (BGBl I 1189) nicht verwirklicht hat. Sie hat innerhalb der dreijährigen Rahmenfrist (§ 104 Abs 3 Halbs 1 AFG), die dem ersten Tage der Arbeitslosigkeit unmittelbar vorausgeht, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt sind oder nach § 105 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) als erfüllt gelten (§ 104 Abs 2 AFG), nicht mindestens 180 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168 AFG) gestanden. Ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin der O. Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) war beitragsfrei, weil sie deren alleinige Gesellschafterin war und deshalb zu ihr nicht gleichzeitig in einem Beschäftigungsverhältnis stehen konnte (BSG vom 9. November 1989 - BSGE 66, 69; vgl auch BSG SozR § 141b Nr 41; BSG vom 28. April 1987 - 12 RK 47/85 -, vom 8. Dezember 1987 - 7 RAr 14/86 - und - 7 RAr 25/86 -, vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 71/87 - und vom 25. Oktober 1989 - 2 RU 12/89 -). Mangelt es an einer anwartschaftsbegründenden beitragspflichtigen Beschäftigung, vermag weder die fehlerhafte Entrichtung von Beiträgen noch die widerspruchslose Entgegennahme der Beiträge durch die Einzugsstelle einen Anspruch auf Alg zu begründen (vgl hierzu etwa BSG vom 28. April 1987 - 12 RK 47/85 - und vom 8. Dezember 1987 - 7 RAr 14/86 - jeweils mwN).
Tatsächliche Feststellungen dazu, ob die Klägerin sich mit Erfolg auf Vertrauensschutz berufen kann oder nicht (§ 45 Abs 2 SGB X), sind vom Landessozialgericht (LSG) nicht getroffen worden. Einer Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht (LSG) wegen dieser Frage bedarf es indessen nicht (vgl hierzu jedoch etwa BSGE 64, 36 = SozR 1300 § 41 Nr 2; BSG vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 -, vom 23. November 1988 - 7 RAr 126/87 - und vom 11. Januar 1989 - 7 RAr 8/87 -); denn der Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986 weist Rechtsmängel auf, deretwegen er vom Landessozialgericht (LSG) zu Recht aufgehoben worden ist.
Zunächst hat die Beklagte nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Ermessensausübung genügt.
Mit Recht geht das Landessozialgericht (LSG) davon aus, daß es sich bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 SGB X um eine Ermessensentscheidung handelt. Das leitet sich aus dem Wortlaut des § 45 Abs 1 SGB X ab, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden "darf". Der Senat hat dies mehrfach entschieden (BSGE 59, 157, 169 = SozR 1300 § 45 Nr 19; BSGE 64, 36 = SozR 1300 § 41 Nr 2; BSG vom 29. September 1987 - 7 RAr 22/86 -, vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 -, vom 23. November 1988 - 7 RAr 126/87 - und vom 11. Januar 1989 - 7 RAr 8/87 -; vgl auch BSGE 55, 250, 251 = SozR 1300 § 50 Nr 3; BSGE 60, 147, 150 = SozR 1300 § 45 Nr 24; SozR 1300 § 45 Nrn 12 und 34; SozR 1300 § 48 Nr 11).
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte weder im Bescheid vom 5. November 1981 noch im Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1982 von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht. Dadurch hat sie gegen die Bestimmung des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X verstoßen, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, sofern er eine Ermessensentscheidung enthält, auch die Gesichtspunkte erkennen lassen muß, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist die Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens oder, falls ein solches nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB X). Hier ist bis zum Abschluß des Vorverfahrens keine entsprechende Begründung abgegeben worden. Die Beklagte hat erst während des Berufungsverfahrens im Bescheid vom 3. Februar 1986 Ausführungen gemacht, denen sie die Ausübung von Ermessen beimißt. Sodann hat sie den Bescheid vom 3. Februar 1986 und den Bescheid vom 5. November 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1982 durch den Bescheid vom 5. Juni 1986 ersetzt. Hierdurch ist sie indes dem im Rahmen der Ermessensausübung gesetzlich vorgeschriebenen Begründungszwang nicht gerecht geworden. Sie hat vielmehr § 35 Abs 1 Satz 3 iVm § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB X umgangen. Das war ihr verwehrt. Dies hat der Senat in seiner Entscheidung vom 24. August 1988 (BSGE 64, 36, 38 = SozR 1300 § 41 Nr 2) des näheren vor allem damit begründet, daß es das herrschende Verständnis vom Rechtsstaatsprinzip verbietet, das Fehlen der gesetzlich gebotenen rechtzeitigen Begründung eines belastenden Verwaltungsaktes durch einen denselben Regelungsgegenstand betreffenden weiteren Bescheid während des Gerichtsverfahrens nachzuholen oder zu ersetzen. Insbesondere bei ermessensabhängigen Eingriffen der Verwaltung in bestandskräftig zugestandene Rechte müssen alle betroffenen Bürger schon für ihre Entscheidung, ob sie dagegen Klage erheben sollen, wissen, von welchen Erwägungen die Verwaltung ausgegangen ist. Diese durch die Begründungspflichten nach § 35 Abs 1 Satz 3 iVm § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB X dementsprechend rechtsstaatlich geschützten Rechte würden verletzt, wenn es der Verwaltung erlaubt wäre, ihren Begründungspflichten nicht in der vorgeschriebenen Weise nachzukommen. Dies gilt um so mehr, als dadurch eine aus verwaltungsökonomischen Gründen verständliche Haltung gefördert werden könnte (vgl dazu BSGE 44, 207, 209 = SozR 1200 § 34 Nr 2), erst einmal abzuwarten, ob im Einzelfall überhaupt Klage erhoben wird, und erst danach dem Betroffenen mitzuteilen, was die Verwaltung zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung für maßgeblich gehalten hat oder sogar jetzt erst für maßgeblich hält. Leidtragende hiervon wären alle Bürger, die auf rechtsstaatliches Handeln der Verwaltung vertrauen und in Unkenntnis von den maßgeblichen Gründen für die Aufhebung des sie begünstigenden Verwaltungsaktes diesen hinnehmen. Der Senat hat sich deshalb von Anfang an der überzeugenden Auffassung des 2. und des 8b-Senats des BSG angeschlossen, wonach die Unterlassung der nach § 34 Abs 1 SGB I vorgeschriebenen Anhörung nach Klageerhebung wirksam weder nachgeholt noch ersetzt werden kann, weil dies dem ebenfalls rechtsstaatlichen Gebot des rechtlichen Gehörs widerstreitet, das für den Bürger gerade durch die besondere Statuierung der Pflicht der Verwaltung zur rechtzeitigen Anhörung gestärkt werden sollte (BSGE 44, 207, 209 f = SozR 1200 § 34 Nr 2; BSGE 49, 229, 232 = SozR 1200 § 34 Nr 10). In der rechtsstaatlichen Qualität beider Prinzipien - dort Wahrung des gebotenen rechtlichen Gehörs, hier Wahrung des Rechts auf die gebotene Begründung eines Eingriffs - ist kein Unterschied zu erkennen, und zwar weder der Struktur noch der gesetzlichen Ausgestaltung nach. Folglich hat der Senat seine Auffassung auf der Grundlage dieser Erwägungen später mehrfach bestätigt (BSG vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 -, vom 23. November 1988 - 7 RAr 126/87 -, vom 11. Januar 1989 - 7 RAr 8/87 - und vom 14. Februar 1989 - 7 RAr 62/87 -). Auf diese Entscheidungen wird Bezug genommen. Die BA hat sich dieser Auffassung des erkennenden Senats angeschlossen und durch entsprechenden Runderlaß für ihre Umsetzung bei anhängigen Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Sorge getragen (Dienstbl-Runderlaß 148/88 vom 30. November 1988).
In seiner Entscheidung vom 24. August 1988 (BSGE 64, 36 = SozR 1300 § 41 Nr 2) und weiteren Entscheidungen (vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 und vom 11. Januar 1989 - 7 RAr 8/87) hätte der erkennende Senat eine abschließende Entscheidung mangels tatsächlicher Feststellungen zu den sog Ermessensvoraussetzungen von Rechts wegen allein auf die fehlende Ermessensausübung der Beklagten stützen können. Er hat dies unter Gesichtspunkten der Rechtskraftwirkung (§ 141 Abs 1 SGG) für untunlich erachtet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Hierbei spielte die Rechtspr des 11. Senats eine Rolle, daß die Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X auch dann gewahrt sei, wenn ein fristgemäßer erster Aufhebungsbescheid nach seiner rechtskräftigen Aufhebung "alsbald" durch einen weiteren Aufhebungsbescheid ersetzt werde, da das von der Einjahresfrist geschützte Vertrauen in die Bindungswirkung des früheren Bescheides schon durch den ersten Änderungsbescheid erschüttert worden sei (BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39; BSGE 63, 37, 43 = SozR 1300 § 45 Nr 34).
Diese Rechtspr ist vom 11. Senat zwischenzeitlich aufgegeben worden (BSG vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 115/87 und - 11 RAr 7/88; vgl auch BSG vom 9. November 1989 - BSGE 66, 69). Der 11. Senat vertritt nunmehr - mit näherer Begründung, daß er insoweit nicht von der Rechtspr anderer Senate des BSG abweiche - die Ansicht, daß die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X auch für einen Rücknahmebescheid uneingeschränkt gilt, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen bzw aufzuhebenden früheren Aufhebungs- oder Rücknahmebescheides tritt.
Zur Begründung seiner neuen Rechtspr hat der 11. Senat ua herausgestellt, die Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X diene der Rechtssicherheit. Sie betreffe, da sie - anders als § 48 Abs 4 VwVfG - selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung eingreife, gerade die Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht komme; das schließe es aus, der vertrauensmindernden Wirkung der ersten - rechtswidrigen - Rücknahme entscheidende Bedeutung beizumessen; es komme vielmehr allein auf den Zeitablauf an. Des weiteren vermeide die nunmehr vertretene Meinung Zweifel dahin, ob eine fehlerfreie Wiederholung des Aufhebungsbescheides schon während oder erst nach Abschluß eines hinsichtlich der ersten - fehlerhaften - Aufhebung anhängigen Gerichtsverfahrens zulässig ist. Endlich entspreche es dem Verfassungsgrundsatz eines effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG), Rechtsvorschriften im Zweifel so auszulegen, daß ein wegen Rechtswidrigkeit aufgehobener Verwaltungsakt für den Betroffenen auch mittelbar keine nachteiligen Folgen habe; diesem Grundsatz laufe die Annahme der Fristwahrung durch einen rechtswidrigen ersten Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid zuwider. Demgegenüber überzeuge nicht das Argument, daß die Verjährung eines Anspruchs durch eine später als unzulässig abgewiesene Klage unterbrochen werde (§ 211 BGB); mit der Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X habe der Gesetzgeber bereits die Frage geregelt, inwieweit sich ein Irrtum der Verwaltung über das einzuschlagende Verfahren auf den Fristablauf auswirke.
Der erkennende Senat schließt sich der vom 11. Senat vertretenen neuen Auffassung an. Für ihn steht dabei der Gedanke der Rechtssicherheit im Vordergrund. Ihm gebührt Vorrang vor dem Interesse der Verwaltung an hinausschiebbarer Wiederholung eines zuvor fristgerecht erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen oder aufzuhebenden Rücknahmebescheides. Unter Berücksichtigung dieser neuen Rechtspr ist eine Zurückverweisung an das Landessozialgericht (LSG) untunlich; der Senat kann in der Sache selbst entscheiden. Es steht vorliegend nämlich fest, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X versäumt worden ist und ein Aufhebungsbescheid mit derselben Begründung wie im Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986 von der Beklagten nicht mehr fristgerecht wiederholt werden kann.
Für den Beginn der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X können - wie der 11. Senat in seinen beiden Urteilen vom 27. Juli 1989 hervorgehoben hat - in Betracht kommen: (1.) Die Kenntnis der die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes begründenden Tatsachen, (2.) die Kenntnis aller die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen, (3.) die Rechts- und Tatsachenkenntnis hinsichtlich der Grundvoraussetzung der Rücknahme (der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes), während hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen die Tatsachenkenntnis genügt, oder (4.) die Kenntnis aller Tatsachen, die ihre Rücknahme rechtfertigen, und ihrer rechtlichen Bedeutung. Die Auslegungsmöglichkeiten zu 1.) und 4.) sind vom 11. Senat zu Recht abgelehnt worden. Die Auslegungsmöglichkeit zu 1.) kollidiert nicht nur mit dem Gesetzeswortlaut. Gegen sie hat sich der GrS des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in seinem Bes vom 19. Dezember 1984 - Gr Sen 1, 2/84 (BVerwGE 70, 376 = NJW 1985, 819) zu der entsprechenden Fristbestimmung des § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG ausgesprochen. Das BSG ist dem sowohl zur Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X als auch zu dessen entsprechender Anwendung nach § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X gefolgt (BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39; BSG SozR 1300 § 48 Nr 47). Die Auslegungsmöglichkeit zu 4.) scheidet aus, weil bei ihr unbeachtet bliebe, daß das Gesetz nur die Kenntnis der Tatsachen fordert; auch hätte der Gesetzgeber, hätte er diese Auslegung gewollt, besser von Kenntnis der Voraussetzungen der Rücknahme gesprochen. Schließlich bliebe bei einer Auslegung iS der Möglichkeit zu 4.) für die Anwendung der Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X - wie der 11. Senat mit Recht bemerkt - so gut wie kaum ein praktischer Anwendungsbereich.
Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob letztlich die Auslegungsmöglichkeit zu 2.) oder zu 3.) maßgeblich ist. Die Beklagte hat - unabhängig davon, daß sie die gesetzlich vorgezeichnete Form der Ermessensausübung mißachtet hat - die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X deswegen versäumt, weil sie weit länger als ein Jahr vor Erlaß des Ersetzungsbescheides vom 5. Juni 1986 sowohl die Rechts- und Tatsachenkenntnis hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 14. Oktober 1981 als auch die Tatsachenkenntnis hinsichtlich der weiteren Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X hatte. Zu dieser Schlußfolgerung reichen die von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgericht (LSG) aus. Danach wußte die Beklagte spätestens im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1982, daß der Bewilligungsbescheid vom 14. Oktober 1981 wegen Fehlens der notwendigen Anwartschaftszeit (§ 104 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aF) rechtswidrig war. Ebenso war ihr zu diesem Zeitpunkt die für die Vertrauensabwägung maßgebende Tatsache bekannt, nämlich daß die Klägerin bereits im Rahmen ihres Kaug-Antrags über die möglicherweise fehlende Arbeitnehmereigenschaft unterrichtet worden war. Schließlich waren der Beklagten im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides sämtliche Umstände bekannt, auf die sie ihre Ermessenserwägungen im Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986 gestützt hat. Das gilt nicht nur für den Hinweis, daß die Klägerin schon im Rahmen ihres Kaug-Antrags über ihre möglicherweise mangelnde Arbeitnehmereigenschaft informiert worden sei, sondern auch für die weitere Bemerkung, daß die Rechtsposition der Klägerin - verglichen mit dem Rechtszustand, der bei sofortiger Ablehnung ihres Antrags bestanden hätte - durch die vollständige Rücknahme des Bewilligungsbescheides nicht so schwerwiegend beeinträchtigt worden sei, daß eine Zahlung von Alg auch nur bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 5. November 1981 entgegen den öffentlichen Interessen erfolgen müsse.
Die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X war bei Erlaß des Ersetzungsbescheides vom 5. Juni 1986 mithin deutlich mehr als ein Jahr abgelaufen. Dieser Bescheid ist daher vom Landessozialgericht (LSG) zu Recht aufgehoben worden. Einer Aufhebung auch des Bescheides vom 5. November 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1982 durch das Landessozialgericht (LSG) hätte es nicht bedurft, weil dieser Bescheid - ebenso wie der Bescheid über die Ermessensausübung vom 3. Februar 1986 - bereits durch den Ersetzungsbescheid vom 5. Juni 1986 aufgehoben worden war. Doch erscheint insoweit eine Neuformulierung des Tenors des LSG-Urteils, weil sie nur deklaratorische Bedeutung hätte, nicht geboten.
Fundstellen