Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin …, Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Streitig ist Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Die 1946 geborene Klägerin, ausgebildete Rechtsanwalts- und Notargehilfin, arbeitete in ihrem Beruf, nur unterbrochen von Tätigkeiten als Angestellte in einem Fertigungsbetrieb (Juli 1966 bis September 1967) und danach in den Jahren 1975 bis 1977 als Verwaltungsangestellte. Später - von März 1985 bis Dezember 1986 - war sie als Mitarbeiterin eines Fotostudios (Absprache und Koordinierung von Fototerminen) noch teilzeitbeschäftigt.
Bereits im Februar 1981 hatte die Klägerin bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit beantragt. Der von der Beklagten zunächst zugezogene Internist Medizinalrat Dr. L. diagnostizierte eine Fehlstatik der Wirbelsäule bei Steilstellung der Brust- und Lendenwirbelsäule sowie geringgradige Struma parenchymatosa; er hielt die Klägerin für fähig, vollschichtig als Angestellte oder Bürofachkraft zu arbeiten. Die Orthopäden Dr. W. (Chefarzt) und Dr. von K. (Oberarzt) stellten auf ihrem Gebiet bei der Diagnose eines chronisch-rezidivierenden Cervicalsyndroms bei geringer Gefügelockerung im Segment C 5/6 und eines chronisch-rezidivierenden Thorakal- und Lumbalsyndroms bei Fehlstatik der Wirbelsäule, geringer Kyphose und geringer lumbaler Seitfehlhaltung keine die Erwerbsfähigkeit wesentlich mindernde Erkrankung fest. In dem weiteren, von Privatdozent Dr. med. B. erstatteten nervenärztlichen Gutachten sind rezidivierende Lumboischialgien ohne neurologische Ausfälle sowie ein multiples psychosomatisches Beschwerdebild erwähnt. Es hieß, die Klägerin bedürfe dringend eines längerfristigen Aufenthaltes in einer psychosomatischen Klinik; aus nervenärztlicher Sicht bestehe kein Grund zu vorzeitiger Berentung. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 4. September 1981, Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 1982).
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Beklagte durch Urteil vom10. Mai 1985 verpflichtet, Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit nach einem Versicherungsfall vom 23. Februar 1981 bis zum 30. Juni 1986 zu gewähren. Es ist in der Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin dem von ihm gehörten Orthopäden Dr. med. T. gefolgt, der im Gutachten vom 17. September 1984 ein chronisches Cervicalsyndron bei Osteochondrose, ein chronisches Thorakal- und Lumbalsyndrom bei linkskonvexer Skoliosierung und geringgradiger Spondylose sowie eine allgemeine Hypermobilität bei Kapselbandschwäche diagnostiziert und ausgeführt hatte, diese Gesundheitsstörungen bedingten, für sich betrachtet, eine nur leichte Minderung des Leistungsvermögens und ließen leichte vollschichtige Arbeit im Wechsel von Sitzen und Stehen zu; wegen der Hypermobilität mit allgemeiner Bänder- und Gelenkkapselschwäche (Hinweis auf Schlegel, "Belastung und Belastbarkeit - Paraphrase über ein orthopädisches Problem") erscheine aber eine Berentung auf Zeit gerechtfertigt, während der eine psychosomatische sowie eine balneologische Therapie, verbunden mit intensivem Training, durchgeführt werden solle.
Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen sowie die auf Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente auf Dauer gerichtete Anschlußberufung der Klägerin zurückgewiesen. In der angefochtenen Entscheidung vom 13. Juli 1987 ist im wesentlichen ausgeführt: Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit sei von dem zuletzt vor dem Rentenantrag ausgeübten Beruf einer Verwaltungsangestellten auszugehen. Aus der Würdigung des gesamten Streitstoffes folge, daß die Klägerin als Verwaltungsangestellte und Rechtsanwaltsgehilfin voll arbeiten könne. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. T. entbehre insoweit der wissenschaftlichen Grundlage, als es auf Gedanken von Prof. Dr. med. S. aufbaue, die dieser - wie sich aus Abschnitten I und II seiner Abhandlung, veröffentlicht in Orthopädische Praxis 1982, 816 bis 819 ergebe - nicht geäußert habe. Zudem habe sich Dr. med. T. mit seiner Begründung, (auch) vom neurologischen Gutachter Dr. med. B. sei eine längerfristige stationäre psychosomatische Behandlung empfohlen worden, auf ein ihm fremdes Fachgebiet begeben. Auch lasse sich nicht feststellen, seit wann die beschriebene Leistungsminderung eingetreten sei. Im übrigen spreche die Meldung der Klägerin als Arbeitsuchende von Februar 1984 bis Februar 1985 sowie die anschließende Halbtagstätigkeit gegen das Bestehen von Berufsunfähigkeit in dieser Zeit.
Zur Begründung der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin in erster Linie Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das LSG habe nicht auf das Berufsbild einer Verwaltungsangestellten anstatt einer Rechtsanwaltsgehilfin abheben dürfen. Eine weitere Verletzung rechtlichen Gehörs liege darin, daß das Berufungsgericht Ausführungen des Prof. Dr. S. verwertet habe, ohne daß diese ihr - der Klägerin - zugänglich gemacht worden seien; die Beklagte habe sich erstmals im Termin vom 13. Juli 1987 hierauf berufen. Das LSG habe mit seiner Auffassung überrascht und keine Gelegenheit gegeben, den Antrag auf Anhörung des Orthopäden Dr. T. und Erläuterung seines Gutachtens zu stellen; es hätte vom Urteil des SG nur abweichen können, wenn dieser Sachverständige vorher gehört und gegebenenfalls ein Obergutachten eingeholt worden wäre. Deshalb beruhe das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel. Im übrigen habe das LSG ergänzend ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einholen und untersuchen müssen, ob ihre Tätigkeit bei dem Fotografenmeister auf Kosten der Gesundheit verrichtet worden sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 13. Juli 1987 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 10. Mai 1985 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. September 1981 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 1982 zu verurteilen, ihr Rente wegen Berufsunfähigkeit ohne zeitliche Begrenzung ab 1. März 1931 zu gewährenhilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die auf fehlerhafte Tatsachenermittlung gerichteten Verfahrensrügen für unbegründet.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
II
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts sind verfahrensfehlerhaft zustandegekommen.
Nach § 23 Abs. 2 Satz 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG; = § 1246 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf". Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien bewertet werden. Dies erfordert, den qualitativen Wert des bisherigen Berufs festzustellen (z.B. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 41).
Ob das LSG ohne weiteres in seinem Urteil von dem von der Klägerin "vor ihrem Rentenantrag ausgeübten Beruf einer Verwaltungsangestellten auszugehen" hatte, ist zumindest zweifelhaft und kann jedenfalls den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht entnommen werden. Denn unter dem "bisherigen Beruf" ist nicht schematisch stets die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung vor der Rentenantragstellung zu verstehen; eine relevante Lösung von erlernten und ausgeübten Beruf setzt nicht nur das Fehlen gesundheitlicher Ursachen, sondern auch voraus, daß der Versicherte dieser Berufstätigkeit aus anderen als gesundheitlichen Gründen nicht weiter nachgehen will und sich "endgültig" einer anderen Berufstätigkeit zuwendet (wegen Einzelheiten vgl. zuletzt BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 130 S. 413 f. m.w.N.). Insoweit weist die Klägerin mit Recht darauf hin, daß sie insgesamt 12 Jahre und zuletzt wieder ab Oktober 1967 als Rechtsanwaltsgehilfin beschäftigt gewesen ist (nachdem sie damals - rückwirkend gesehen vorübergehend - in einem anderen Beruf tätig gewesen war). Soweit allerdings die Klägerin mit den Hinweis auf den langjährig ausgeübten erlernten Beruf einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) rügt, fehlt es - wenn man Bedenken hintanstellt, ob die den Mangel ergebenden Tatsachen (etwa zur Frage der Lösung vom erlernten Beruf) i. S. von § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG hinreichend "bezeichnet" sind - zumindest an der Darlegung, daß das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann (zu diesem Erfordernis vgl. z.B. BSGE 53, 83, 85). Die Klägerin hat nicht erklärt und auch nicht begründen können, daß ohne den behaupteten Verfahrensmangel das Berufungsgericht möglicherweise anders entschieden hätte; denn im LSG-Urteil ist ausgeführt, sie könne auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesundheitsstörungen den "Beruf einer Verwaltungsangestellten" und gleichermaßen den Beruf einer Rechtsanwaltsgehilfin nach wie vor ausüben.
Die von der Klägerin erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist jedoch zulässig und begründet, soweit sie sich gegen das Zustandekommen der Feststellungen im LSG-Urteil richtet, die die Bewertung und Beurteilung des verbliebenen Leistungsvermögens betreffen. Die Revision macht geltend, das Berufungsgericht habe Ausführungen von Prof. Dr. med. S. verwertet, ohne daß diese der Klägerin jemals im Verfahren zugänglich gemacht worden seien. Damit rügt sie zutreffend die Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) und gleichzeitig einen Verstoß gegen das sog. Verwertungsverbot des § 128 Abs. 2 SGG (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 70 zu § 128 SGG), wonach das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Denn der Verfahrensmangel liegt auch vor: Weder dem Tatbestand noch den Gründen des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, daß in den Schriftsätzen der Beteiligten die wissenschaftliche Abhandlung von Prof. Dr. med. S. eine Rolle gespielt habe, noch findet sich im Protokoll über den Termin vor dem LSG vom 13. Juli 1987 ein Hinweis, die Abhandlung sei verlesen oder auch nur nach ihrem wesentlichen Inhalt zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden. Eine Fotokopie der Abhandlung ist in der Gerichtsakte lediglich bezugslos nach den Terminsprotokoll sowie einem Schriftsatz der Klägerin, dessen Kopie in der Verhandlung der Beklagten ausgehändigt worden war, und vor dem schriftlichen Urteil abgeheftet. Gleichwohl befaßt sich das LSG-Urteil ausführlich (S. 14, 15) mit dem Aufsatz und mündet in die Schlußfolgerung, der Gutachter Dr. med. T. baue seine Annahme, die Klägerin sei berufsunfähig, auf Gedanken von Prof. Dr. med. S. auf, die dieser gar nicht geäußert habe.
Allerdings liegt ein Verfahrensmangel wegen Verletzung der §§ 62, 128 Abs. 2 SGG nur vor, wenn die angefochtene Entscheidung auf ihm beruhen kann, wozu es genügt, daß die Möglichkeit einer anderen Entscheidung besteht, wenn das rechtliche Gehör nicht verletzt worden wäre (vgl. BSG SozR 1500 § 160 Nr. 31 m.w.N.). Zur Frage des Beruhenkönnens hat aber die Klägerin vorgetragen, daß sie wären ihr die Bedenken des Berufungsgerichts im Hinblick auf die ins Feld geführte Abhandlung bekannt gewesen - den Antrag gestellt hätte, Dr. med. T. möge nochmals Stellung nehmen, und sein Gutachten mündlich erläutern; auch auf die Möglichkeit der Einholung eines Obergutachtens durch das Gericht ist hingewiesen worden. Eine andere Entscheidung des Berufungsgerichts für den Fall der ordnungsgemäßen Einführung seiner Erkenntnisquelle in das Verfahren kann hiernach wenigstens nicht ausgeschlossen werden, unbeschadet der Frage, ob sich dem LSG nicht hätte aufdrängen müssen, von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufzuklären.
Die Möglichkeit einer anderen Entscheidung des LSG ist auch nicht durch den übrigen Teil der Begründung des angefochtenen Urteils ausgeschlossen. Soweit der Gutachter Dr. med. T. zur Stützung seines Vorschlags einer "Berentung auf Zeit" ausführt, der neurologische Gutachter Dr. med. B. habe eine längerfristige stationäre psychosomatische Behandlung empfohlen, hat er sich nicht - wie Beklagte und LSG meinen - auf ein Gebiet begeben, für das er nicht "kompetent" ist, sondern nur wiederholt und pflichtgemäß ausgewertet, was in jenem Gutachten ausgesagt worden war. Auch wenn dem Berufungsgericht zuzugeben sein mag, daß die Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin durch Dr. med. T. Bedenken begegnet und entgegen dem SG zu einer Verurteilung der Beklagten nicht ausreichen dürfte, kann - umgekehrt - mit den bisher verfahrensfehlerfrei gewonnenen Erkenntnissen schwerlich der geltend gemachte Anspruch bereits verneint werden.
Schließlich scheidet die Möglichkeit, daß die Entscheidung des Berufungsgerichts auf dem geschilderten Verfahrensmangel beruht, auch nicht wegen der von der Klägerin 1985/86 verrichteten Berufstätigkeit aus. Zwar trifft es zu, daß der Tatsache einer tatsächlich verrichteten Tätigkeit unter Umständen ein stärkerer Beweiswert zukommt als den diese Tätigkeit scheinbar ausschließenden medizinischen Befunden (BSG SozR 2200 § 1247 Nr. 12 m.w.N.); indessen gilt dies nicht, wenn - worauf sich die Klägerin beruft - der Versicherte eine solche Tätigkeit unter unzumutbaren Schmerzen, einer unzumutbaren Anspannung seiner Willenskraft oder auf Kosten seiner Gesundheit ausübt (BSG SozR 2200 § 1247 Nr. 31). Als Dr. med. T. als letzter medizinischer Sachverständiger sein Gutachten erstellte, ist ihm eine entsprechende Frage nicht gestellt worden und konnte sich auch nicht stellen, weil die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt ihre Tätigkeit bei dem Fotografenmeister noch nicht aufgenommen hatte. Es dürfte sich daher empfehlen, falls erforderlich, auch zu diesem Punkt den Gutachter Dr. med. T. ergänzend oder einen anderen medizinischen Sachverständigen zu hören. Bisher liegen zu diesem Komplex nur zwei sich widersprechende Auskünfte des Arbeitgebers vom 7. November1985 und vom 30. März 1987 vor.
Die hiernach noch erforderlichen Ermittlungen kann nicht der Senat als Revisionsgericht , sondern muß das LSG als Tatsacheninstanz anstellen und aufgrund der danach neu getroffenen Feststellungen entscheiden.
In der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung wird auch über die außergerichtlichen Kosten zu befinden sein. Bundessozialgericht
4 RA 37/88
1989-03-16
Fundstellen