Entscheidungsstichwort (Thema)
Schülerunfall. Unterbrechung des Schulweges. Erstattungsanspruch. Familienkrankenpflege
Orientierungssatz
1. Die Voraussetzungen, unter denen bei Schülern auf dem Schulweg auch eine zeitlich längere Unterbrechung als unfallversicherungsrechtlich noch unbedeutend angesehen werden kann, liegen bei einer auf Geheiß der Eltern eingetretenen Unterbrechung zur Essenseinnahme bei der Großmutter nicht vor (vgl BSG vom 23.4.1987 - 2 RU 19/85 = USK 8734).
2. Die Vorschrift des § 1504 RVO aF ist zwar erst mit Ablauf des 31.12.1988 außer Kraft getreten, sie war jedoch bei Leistungen der Krankenkasse im Rahmen der Familienkrankenpflege nicht anwendbar (vgl BSG vom 18.12.1974 - 2/8 RU 34/73 = BSGE 39, 24).
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b, § 550 Abs 1, § 1504
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 29.11.1989; Aktenzeichen L 3 U 176/88) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 12.10.1988; Aktenzeichen S 10 U 336/87) |
Tatbestand
Die klagende Krankenkasse begehrt von dem beklagten
Der im Jahre 1978 geborene Beigeladene wurde von seinen berufstätigen Eltern, damals wohnhaft in D. , S straße , montags bis freitags frühmorgens zu seiner am selben Ort in der O straße wohnenden Großmutter gebracht. Von dort aus ging er zu einer allgemeinbildenden Schule - der Weg nimmt etwa 20 bis 25 Minuten in Anspruch - und kehrte nach Schulende zur Wohnung der Großmutter zurück. Hier aß er zu Mittag und wurde zwischen 12.45 und 14.30 Uhr von seiner Mutter nach Hause abgeholt. Der direkte Weg von der Wohnung der Eltern des Beigeladenen zur Schule führte von der S straße auf die kreuzende O straße und von dort zunächst weiter auf der S straße oder entweder auf dem nördlich gelegenen Sch weg oder der südlich gelegenen Sch straße. Die Wohnung der Großmutter liegt über die Kreuzung O straße/Schl straße hinaus in südlicher Richtung.
Auch am Unfalltag war der Beigeladene nach der Schule zunächst zu seiner Großmutter gegangen, hatte dort zu Mittag gegessen und wurde etwa 45 Minuten später gegen 12.45 Uhr von seiner Mutter abgeholt. Am Übergang vom Zufahrtsweg des Hauses, in dem die Großmutter wohnt, zum Bürgersteig stolperte er, stürzte auf den Bürgersteig und zog sich eine Unterarmfraktur links zu.
Mit Schreiben vom 18. und 27. November 1986 begehrte die Klägerin von dem Beklagten die Erstattung der ihr aus Anlaß des Unfalls entstandenen Kosten der Krankenhauspflege in Höhe von 1.802,96 DM sowie 57,-- DM als Pauschale für die anschließenden Krankenpflegekosten, weil der Beigeladene ihrer Meinung nach unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Der Beklagte lehnte eine Erstattung der Kosten mit der Begründung ab, daß es zu dem Unfall auf einem unversicherten Abweg gekommen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten zur Kostenerstattung nach § 105 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) in vollem Umfang verurteilt (Urteil vom 12. Oktober 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 29. November 1989). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Grundlage des Erstattungsanspruchs sei § 1504 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31. Dezember 1988 geltenden Fassung. Zwar sei durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) keine ausdrückliche Fortgeltung dieser Vorschrift für vor dem 1. Januar 1989 entstandene Erstattungsansprüche bestimmt worden. Dies folge aber aus dem Regelungszusammenhang des Art 63 GRG und der Intention des Gesetzgebers, mit dem GRG die Krankenkassen zu entlasten. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 1504 RVO aF seien erfüllt, da der Weg des Beigeladenen von der Großmutter zur elterlichen Wohnung als Schulweg unter Unfallversicherungsschutz gestanden habe. So sei dessen Weg von der Schule zur Wohnung der Großmutter und von dort zur elterlichen Wohnung als einheitlicher Gesamtweg in vollem Umfang versichert gewesen. Insbesondere habe der 45-minütige Aufenthalt nicht dazu geführt, daß die Wohnung der Großmutter "dritter Ort" geworden und der Versicherungsschutz damit dort geendet habe oder unterbrochen worden sei. Denn die Dauer des Aufenthalts sei nicht so erheblich gewesen, daß der beabsichtigte weitere Weg zur elterlichen Wohnung dadurch eine eigene Bedeutung erlangt habe. Diesen Weg habe der Beigeladene zudem bereits seit seiner Kindergartenzeit zurückgelegt. Außerdem habe es sich um den sichersten Weg gehandelt, um die Wartezeit bis zum Eintreffen seiner Mutter in der Obhut der Großmutter zu überbrücken. Unter diesen Umständen müsse auch für den längeren Weg zur elterlichen Wohnung mit Aufenthalt bei der Großmutter Unfallversicherungsschutz anerkannt werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO. So reiche nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) ein Aufenthalt von 45 Minuten aus, um einen Aufenthaltsort zu einem "dritten Ort" und damit zum Endpunkt des versicherten Weges werden zu lassen. Daß der Beigeladene Schüler sei, stelle keine Besonderheit dar. Der weitere Weg über die Wohnung der Großmutter zur elterlichen Wohnung sei für ihn nicht aus schulischen, sondern allein wegen der Berufstätigkeit der Eltern, also privaten Gründen, erforderlich gewesen. Die Rechtsprechung des BSG bei Unfällen im Zusammenhang mit einer Wartezeit könne hier nicht herangezogen werden, da der Beigeladene nicht auf öffentliche oder private Verkehrsmittel angewiesen, mithin der Aufenthalt bei der Großmutter keine notwendige Wartezeit gewesen sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung ihrer Kosten, da der Beigeladene am 12. August 1986 keinen Arbeitsunfall erlitten hat.
Anspruchsgrundlage des geltend gemachten Erstattungsanspruchs ist nicht § 1504 RVO aF. Diese Vorschrift ist zwar erst mit Ablauf des 31. Dezember 1988 und damit nach dem hier maßgebenden Unfall außer Kraft getreten (s Art 5 Nr 32 GRG). Sie war jedoch bei Leistungen der Krankenkasse im Rahmen der Familienkrankenpflege nicht anwendbar (BSGE 39, 24, 25; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 11. Aufl, S 981 f). Der davor insoweit entsprechend anwendbare § 1510 RVO aF (BSGE aa0) ist schon mit Wirkung vom 1. Juli 1983 und damit vor dem Unfall des Beigeladenen außer Kraft gesetzt und durch § 91 SGB X ersetzt worden (Brackmann aa0 S 979 d und e). § 91 SGB X setzt aber einen Auftrag der Beklagten voraus, der hier jedoch wiederum das Vorliegen des Arbeitsunfalls erfordert. Der Beigeladene hat jedoch am 12. August 1986 keinen Arbeitsunfall erlitten. Deshalb scheidet auch § 105 SGB X als Anspruchsgrundlage aus.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit dieser Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO). Eine Tätigkeit in diesem Sinne ist bei nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versicherten Schülern auch der Besuch allgemeinbildender Schulen. Danach sind Schüler während des Besuches und auf dem Weg zu und von ihren Schulen unfallversichert (BSGE 52, 38).
Nach den tatsächlichen, nicht angegriffenen und den Senat daher bindenden Feststellungen des LSG befand sich der Beigeladene am Unfallort nicht auf dem direkten Weg von der Schule zur elterlichen Wohnung, die das LSG zutreffend als Endziel des Heimweges angesehen hat. Er hatte vielmehr mit dem Aufsuchen der großmütterlichen Wohnung in das Zurücklegens des Heimweges eine Verrichtung eingeschoben, die nicht dem Erreichen der elterlichen Wohnung diente. Entgegen der Auffassung des LSG ist sein Heimweg und als Folge davon sein Versicherungsschutz dadurch unterbrochen worden.
Der Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit wird durch eine wesentlich allein privaten Zwecken dienende Verrichtung unterbrochen, wenn er dadurch verlängert wird, daß während des Weges ein anderer Weg eingeschoben wird oder der Versicherte sich nicht mehr in Richtung des Grenzpunktes fortbewegt (BSGE 43, 113, 114; BSG, Urteil vom 25. November 1977 - 2 RU 75/77 - USK 77220; Brackmann aa0 S 486 y mwN; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 550 RdNrn 5.1 und 5.2). Eine Unterbrechung liegt nur dann nicht vor, wenn die Verlängerung der Wegstrecke ganz unbedeutend ist (BSGE aa0 S 115; Brackmann aaO S 487 e mwN). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Zwar war der Weg über die Wohnung der Großmutter nach den Feststellungen des LSG nur 100 bis 200 m länger als der direkte Weg von der Schule zur elterlichen Wohnung. Hinzu kommt aber, daß sich der Beigeladene dort noch über einen Zeitraum von 45 Minuten aufgehalten hatte. Dies bildete eine deutliche Zäsur innerhalb des Heimweges. In diesem Zusammenhang hat die Rechtsprechung im wesentlichen nur Unterbrechungen durch Verrichtungen "im Vorbeigehen" als noch unbedeutend angesehen (BSG Urteil vom 21. Juli 1985 - 2 RU 63/84; Brackmann aa0 S 487 f mwN). Vor allem ein Verlassen des Bereichs des öffentlichen Verkehrsraumes auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach Hause ist vom erkennenden Senat als Unterbrechung des Weges angesehen worden (BSG SozR 2200 § 550 Nr 44 mwN; Brackmann aa0 S 487 f I). Die Voraussetzungen, unter denen bei Schülern auf dem Schulweg auch eine zeitlich längere Unterbrechung als unfallversicherungsrechtlich noch unbedeutend angesehen werden kann (s Brackmann aa0 S 483 u ff), liegen hier bei einer auf Geheiß der Eltern eingetretenen Unterbrechung zur Essenseinnahme bei der Großmutter nicht vor (s Brackmann aa0 S 483 v; s auch BSG Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 19/85 - USK 8734).
Auf einer Wegstrecke, die zurückgelegt wird, solange die Unterbrechung andauert, besteht grundsätzlich kein Versicherungsschutz (BSG SozR Nr 5 zu § 543 RVO aF; BSGE 62, 100, 101; Brackmann aa0 S 487 a). Erst nach Beendigung der Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit setzt der Versicherungsschutz gegen Unfälle grundsätzlich wieder ein. Als der Beigeladene verunglückte, war die Unterbrechung noch nicht beendet. Ebenso wie die Unterbrechung des Weges begann, als er den öffentlichen Verkehrsraum seines Heimweges von der Schule zur elterlichen Wohnung verließ, hätte sie erst mit dem Erreichen dieses Verkehrsraums wieder geendet. Das war aber noch nicht der Fall. Denn nach der in der Prozeßakte des SG befindlichen Ortsskizze von D. , die das LSG zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, lag der Wiederanknüpfungspunkt an den Heimweg des Beigeladenen frühestens an der Kreuzung O straße/Sch straße, da der gesamte Teilabschnitt der O straße von dieser Kreuzung bis zur Wohnung der Großmutter, wo der Beigeladene verunglückte, von der elterlichen Wohnung fortführte und damit nicht zum versicherten Heimweg gehörte.
Das LSG weist in seiner Urteilsbegründung darauf hin, daß der Beigeladene den - räumlich und zeitlich - längeren Weg mit dem Aufenthalt bei der Großmutter bereits seit seiner Kindergartenzeit zurückgelegt hatte. Dies führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis; denn allein durch eine langjährige Übung wird der für eine Fortdauer des Versicherungsschutzes erforderliche Zusammenhang mit dem Betrieb bzw der Schule nicht geschaffen (vgl Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 550 Anm 19 S 280/1). Andere im Schulbesuch liegende Gründe haben den Aufenthalt des Beigeladenen bei der Großmutter nicht erforderlich gemacht. Ursache dafür war vielmehr, daß seine Eltern berufstätig und daher bei Schulende von montags bis freitags nicht zu Hause waren. Dabei handelt es sich jedoch um einen Umstand, der ausschließlich der privaten Sphäre des versicherten Beigeladenen zuzuordnen ist. Zu Unrecht verweist das LSG in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des BSG zum Unfallversicherungsschutz von Schülern während einer Wartezeit. Kennzeichnend war in diesen Fällen, daß der Grund für die Wartezeit wesentlich im schulischen Bereich lag, so etwa während einer Freistunde (vgl BSGE 55, 139), oder während des Wartens auf ein öffentliches Verkehrsmittel (vgl BSGE 57, 222, 225). Wann Versicherungsschutz auch beim Warten besteht, bis der Schüler von seinen Eltern oder anderen Personen von der Schule abgeholt wird, bedarf hier keiner Entscheidung. Der Beigeladene wartete nicht an oder in der Schule, um abgeholt zu werden, sondern hatte sich bereits zur Großmutter begeben und dabei sogar einen etwas längeren Weg als zur Wohnung seiner Eltern zurückgelegt. Erst bei seiner Großmutter wartete er darauf, abgeholt zu werden.
Mithin stand der Beigeladene zum Zeitpunkt des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz. Der Senat brauchte nicht auf die Frage einzugehen, ob anstelle der elterlichen Wohnung nicht die Wohnung der Großmutter als sog "dritter Ort" Endpunkt des Heimweges des Beigeladenen war. Auch wenn dies zu bejahen wäre, hätte das nämlich lediglich zur Folge, daß der Beigeladene nur auf dem Weg von der Schule zur Wohnung der Großmutter versichert war (vgl BSGE 62, 113, 115; Brackmann aa0 S 485 r II für den Weg zum Ort der Tätigkeit; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens aaO § 550 RdNr 3.4). Auf diesem Teil des Weges geschah der Unfall jedoch nicht. Lehnt man hingegen die Annahme eines dritten Ortes als Endpunkt ab, ist der Unfall unter dem Gesichtspunkt einer Unterbrechung zu beurteilen (BSG Urteil vom 18. Oktober 1984 - 2 RU 22/84 - HV Info 1984, Nr 20, 13). Das führt, wie oben ausgeführt, jedoch zu einer Ablehnung des Versicherungsschutzes.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen