Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz, daß die Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente nicht als rechtswidrig anzusehen ist, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur aufgrund einer anderen ärztlichen Schätzung um 5 vH abweichend bewertet wird, erfaßt nicht die Fälle, in denen die abweichende Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf einem gefestigten allgemeinen Erfahrungssatz beruht.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, § 1585 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 27. November 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 13. September 1972 einen Arbeitsunfall, der zur Amputation des Vorfußes links vom 1. bis 5. Mittelfußknochen im Bereich des mittleren Drittels führte.
Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 13. September 1973 für die Unfallfolgen eine vorläufige Rente von 40 v.H. für die Zeit vom 12. Juni bis 12. August 1973 und für die Folgezeit von 30 v.H. der Vollrente. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 26. Juni 1974 die Dauerrente auf 25 v.H. der Vollrente vom 1. August 1974 an festgestellt. Die Beklagte stützte sich auf ein Gutachten von Dr. L/Dr. R vom 7. Juni 1974. In seinem vom Sozialgericht (SG) eingeholten Gutachten vom 2. Juli 1974 schätzte Dr. M die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bis zum 12. Oktober 1973 auf 40 v.H. und danach auf 30 v.H.
Die Beklagte hat unter Änderung des Bescheides vom 13. September 1973 den Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Unfallrente nach einer MdE um 40 v.H. bis zum 12. Oktober 1973 anerkannt. Daraufhin hat der Kläger den Antrag gestellt, unter Änderung des Bescheides vom 26. Juni 1974 eine Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. ab 1. August 1974 zu bewilligen.
Durch Urteil vom 31. Juli 1974 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelte Grundsatz ausnahmsloser Irrelevanz einer MdE-Abweichung um nur 5 v.H. beziehe sich auf die Frage, was als wesentliche Änderung im Sinne des § 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen sei; nur in diesen Fällen bestehe eine Bindung an die frühere Rentenfeststellung. Dennoch sei im vorliegenden Fall die richterliche Nachprüfbarkeit eingeschränkt. Auch hier gelte der allgemeine Grundsatz, daß Gerichte die angefochtene MdE-Einschätzung in der Regel nicht um nur 5 v.H. ändern dürften. Derart geringe Abweichungen lägen innerhalb der natürlichen Fehlergrenzen, die für jede Schätzung bestünden. Nur wenn es die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles rechtfertigten, dürften die Gerichte ausnahmsweise von der Einschätzung der Versicherungsträger um einen so geringen Vomhundertsatz wie 5 abweichen. Derartige besondere Verhältnisse lägen nach Auffassung der Kammer hier nicht vor.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 27. November 1974 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. Juni 1974 verurteilt, dem Kläger vom 1. August 1974 an eine Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es u.a. ausgeführt: Der vom BSG in dem Urteil vom 2. März 1971 (BSG 32, 245) aufgestellte Grundsatz der Unzulässigkeit einer Abweichung bei der MdE-Schätzung um 5 v.H. gelte nicht für die erstmalige Feststellung der Dauerrente, sondern nur für die Frage, was als wesentliche Änderung im Sinne des § 622 RVO anzuführen sei. Da es sich hier um die erstmalige Feststellung der Dauerrente nach § 1585 Abs. 2 RVO und nicht um eine neue Feststellung der Verletztenrente nach § 622 RVO handele, sei das SG grundsätzlich berechtigt, bei der Bewertung des unfallbedingten MdE-Grades von der Feststellung der Beklagten um nur 5 v.H. abzuweichen. Maßgebend sei allein der tatsächlich vorliegende Unfallfolgezustand des Klägers. Sonst bestünde aus naheliegenden Gründen die Gefahr einer finanziellen Benachteiligung gegenüber vielen Versicherten, da Toleranzfehler sich dann immer zum Nachteil des Versicherten auswirkten. Nach dem Beweisergebnis wäre die Beklagte auch verpflichtet gewesen, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles eine Dauerrente in Höhe von 30 v.H. der Vollrente ab 1. August 1974 zu gewähren.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Die Urteile des BSG vom 2. März 1971 (2 RU 39/70, 2 RU 86/68, 2 RU 300/68) hätten das Verbot der Änderung der MdE um nur 5 v.H. ganz allgemein ausgesprochen. Das BSG habe in einem weiteren Urteil vom 25. Mai 1972 auch die Änderung eines ersten Dauerrentenbescheides durch ein SG um nur 5 v.H. für unzulässig erklärt.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach den Anträgen in der Vorinstanz,
hilfsweise, auf Zurückverweisung an die Vorinstanz zu erkennen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Rechtsauffassung des LSG stünden die Urteile des Senats vom 2. März 1971 nicht entgegen. Diese Entscheidungen seien zu der Rechtsfrage ergangen, ob die Änderung des Grades der MdE um 5 v.H. eine wesentliche im Sinne des § 622 Abs. 1 RVO sei. Im vorliegenden Streitfall gehe es aber nicht um die Herauf- oder Herabsetzung einer Verletztenrente, sondern um die Festsetzung der ersten Dauerrente nach § 1585 Abs. 2 RVO. Der Verwaltung dürfe hinsichtlich der von ihr vorgenommenen Festsetzung der MdE kein Fehlerbonus von 5 v.H. zustehen. Die Einschätzung der MdE unterliege der vollen Nachprüfbarkeit durch das angerufene Gericht. Für die richterliche Überprüfungsbefugnis sei es unbeachtlich, daß die Festsetzung des Prozentsatzes der Minderung der Erwerbsfähigkeit häufig, aber nicht ausschließlich, nur im Wege der Schätzung möglich sei, wobei derselbe Sachverhalt unter Umständen verschiedene Bewertungen zulasse. In einem solchen Fall müsse das Gericht die unterschiedlichen Beurteilungen sorgfältig gegeneinander abwägen und überzeugend begründen, weshalb die eine Beurteilung gegenüber der anderen den Vorzug verdiene. Das Entstehen von Fehlertoleranzen setze voraus, daß bei einer größeren Zahl von Fällen der gleiche Körperschaden verschieden hoch beurteilt werden könne. Es gebe aber eine Reihe von Verletzungsfolgen, beispielsweise bei Verlust von Gliedmaßen, für die sich aufgrund jahrzehntelanger Erfahrungen bestimmte Prozentsätze herauskristallisiert hätten, die eine Abweichung nach unten gar nicht, nach oben nur in besonders gelagerten Fällen zuließen. Die MdE des Klägers sei auch mit 30 v.H. zutreffend bewertet.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1974 rechtswidrig ist, soweit die unfallbedingte MdE des Klägers mit nur 25 v.H. festgesetzt ist. Der vom LSG gegebenen Begründung kann der Senat jedoch überwiegend nicht beipflichten.
Bei der Bewertung der MdE kann es sich nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) und des BSG grundsätzlich nur um eine Schätzung handeln, bei welcher der Grad der unfallbedingten MdE nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar ist (BSG 4, 147, 149; 31, 185, 186; 32, 245, 247; BSG SozR Nr. 9 zu § 581 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 569; Boller, ZfS 1972, 205; Schimanski, Sozialversicherung 1973, 239). Dieser Auffassung ist der 8. Senat des BSG beigetreten (BSG 37, 177, 178). Auch bei der Prüfung der Rechtsmäßigkeit eines Bescheides über die eine Festsetzung der MdE enthaltende (s. BSG 37, 177, 179) erste Feststellung der Dauerrente ist demnach davon auszugehen, daß die Rechtswidrigkeit der Festsetzung der MdE durch den Versicherungsträger grundsätzlich nicht damit begründet werden kann, die MdE sei aufgrund einer abweichenden ärztlichen Schätzung um 5 v.H. höher zu bewerten. Eine so geringe Dimension liegt noch innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite. Diese in der reichsgesetzlichen Unfallversicherung schon seit langem gesicherte Erkenntnis (s. BSG 32, 245, 246) ist entgegen der Auffassung des LSG nicht nur bei der Neufeststellung der MdE nach § 622 Abs. 1 RVO wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zu beachten (s. BSG Urteil vom 25. Mai 1972 - 2 RU 48/71; LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1973, 891; Brackmann aaO S. 570). Bei einer Anfechtungsklage gegen den Bescheid über die erste Festsetzung der Dauerrente ist ebenso wie bei einer Klage gegen die Neufeststellung der Rente gemäß § 622 Abs. 1 RVO Gegenstand der Anfechtungsklage der vorausgegangene Verwaltungsakt (Brackmann aaO S. 242 g). Das Gericht hat nicht selbst die erste Dauerrente festzustellen, sondern im Rahmen des Klagebegehrens die erste Dauerrentenfeststellung des Versicherungsträgers zu überprüfen und in dem Urteil nur soweit zu ändern, wie der Bescheid rechtswidrig ist (s. BSG Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 300/68; Brackmann aaO S. 570 b). Die objektive Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, auf der die Verletzung des rechtlich geschützten Interesses des Klägers beruht, gehört mit zum Streitgegenstand (Brackmann aaO S. 242 f II ff., hier S. 242 f IV). Der Kläger muß zur Zulässigkeit der Anfechtungsklage geltend machen, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt oder beeinträchtigt zu sein. Das Gericht muß in vollem Umfang prüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Entgegen der Auffassung des Klägers in der Revisionserwiderung räumt der Senat dem Versicherungsträger bei der Schätzung der MdE keinen gerichtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum ein. Rechtswidrig ist der Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente grundsätzlich aber nicht schon, wenn bei unstreitigen Unfallfolgen die der Bewertung der MdE zugrunde liegenden ärztlichen Schätzungen sich lediglich um 5 v.H. unterscheiden und damit innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite liegen (s. BSG Urteil vom 2. März 1971 aaO). Der Senat verkennt nicht, daß auch nach seiner ständigen Rechtsprechung (BSG 4, 147, 149; Brackmann aaO S. 570 b ff. mit weiteren Nachweisen) die Bewertung der MdE nicht die eigentliche Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen ist. Dessen Sachkunde bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine bindende Wirkung; sie sind jedoch eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG aaO). Soweit lediglich die ärztlichen Schätzungen als wesentliche Grundlage der Bewertung der MdE sich um nur 5 v.H. unterscheiden, kann nach jahrzehntelangen unfallmedizinischen Erfahrungen die Festsetzung der MdE durch den Versicherungsträger grundsätzlich nicht deshalb als rechtswidrig angesehen werden, weil dieser die MdE innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigentümlichen Schwankungsbreite um 5 v.H. abweichend von einer anderen ärztlichen Schätzung festgesetzt hat. Diese Rechtsprechung geht davon aus, wie der 8. Senat des BSG bereits entschieden hat (BSG 37, 177, 179), daß der Versicherungsträger den Grad der MdE in einem Verfügungssatz seines Bescheides festgesetzt hat. Wird die Feststellung einer Dauerrente abgelehnt, weil eine MdE im rentenberechtigenden Grade nicht vorliege, so ist ein MdE-Grad durch den Versicherungsträger jedoch nicht festgesetzt (BSG aaO S. 180).
Eine Abweichung um nur 5 v.H. liegt in diesem Fall nicht vor, wenn das Gericht die MdE mit 20 v.H. bewertet.
Die gegen die Rechtsprechung des Senats vorgebrachten Bedenken entfallen zum überwiegenden Teil bei einer die Grundgedanken der Rechtsprechung des Senats berücksichtigenden Rechtsanwendung. Diese Rechtsprechung gründet sich, wie bereits dargelegt, auf die seit Jahrzehnten praktizierte Erkenntnis, daß ein MdE-Grad um 5 v.H. eine so geringe Dimension ist, daß sie noch innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite liegt. Beruht die gegenüber dem angefochtenen, eine Festsetzung der MdE enthaltenden Bescheid höhere Bewertung der MdE durch das Gericht dagegen nicht auf einer lediglich abweichenden ärztlichen Schätzung, so ist auch die Rechtswidrigkeit einer um nur 5 v.H. niedrigeren Festsetzung der MdE durch den angefochtenen Verwaltungsakt nicht wegen der allen ärztlichen Schätzungen eigentümlichen Schwankungsbreite zu verneinen.
So liegt z.B. eine von der Festsetzung der MdE durch den Versicherungsträger abweichende Bewertung der MdE durch das Gericht nicht innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite, wenn sie losgelöst von den Besonderheiten des Einzelfalles auf einem von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten - ggf. neuen oder geänderten - allgemeinen Erfahrungssatz beruht. Darauf ist auch in der Revisionserwiderung mit Recht hingewiesen. Das vom Kläger dabei angeführte Beispiel einer durch entsprechende unfallmedizinische Erfahrungen und versicherungsrechtliche Erkenntnisse gerechtfertigten allgemeinen höheren Bewertung der MdE bei einer bestimmten Unfallfolge um 5 v.H. fällt demnach nicht in den Bereich einer wesentlich auf von den Besonderheiten des Einzelfalles ausgehenden, auf unterschiedlichen ärztlichen Schätzungen beruhenden abweichenden Festsetzung der MdE. Dem Unfallversicherungsträger wird auch aus diesen Gründen entgegen der Auffassung des Klägers durch die Rechtsprechung des Senats kein "Fehlerbonus" zugebilligt.
Das Urteil des Berufungsgerichts ist unter Beachtung dieser Grundsätze im Ergebnis zutreffend. Die Entscheidung, daß die unfallbedingte MdE des Klägers 30 v.H. beträgt, rechtfertigt das LSG unabhängig von den nur 5 v.H. divergierenden Schätzungen der Sachverständigen mit den im versicherungsmedizinischen Schrifttum entwickelten allgemeinen unfallmedizinischen Erfahrungswerten über die MdE bei einer Amputation des Fußes im Lisfranc'schen Gelenk, die jedenfalls mit 30 v.H. bewertet wird (s. Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 6. Aufl., S. 70; Liniger/Molineus, Der Unfallmann, 9. Aufl., 1974, S. 250). Eine darüber hinausgehende MdE aufgrund der durch ärztliche Schätzungen zu beurteilenden besonderen Verhältnisse beim Kläger steht nicht im Streit.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 797058 |
BSGE, 99 |