Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung eines Prozeßvergleichs
Orientierungssatz
Zur Anfechtung eines Prozeßvergleichs wegen arglistiger Täuschung durch Verschweigen von Tatsachen.
Normenkette
SGG § 101 Abs 1; BGB § 123 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 17.03.1987; Aktenzeichen L 3 U 181/84) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 18.05.1984; Aktenzeichen S 2 U 51/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs.
Der Kläger betrieb bis zum Jahre 1983 ein landwirtschaftliches Unternehmen. Er wandte sich gegen die Veranlagungs- und Beitragsbescheide der Beklagten für die Jahre 1980 bis 1983 mit Widerspruch, Klage (Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 18. Mai 1984 - S 2 U 51/80 -), Berufung (Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen - LSG - vom 17. März 1987 - L 3 U 181/84 -) und Revision (2/9b RU 46/87) im wesentlichen mit der Begründung, das gesamte Veranlagungssystem der Beklagten sei ungerechtfertigt; die der Veranlagung seines Betriebes zugrundeliegende Satzung der Beklagten entspreche nicht mehr den heutigen Verhältnissen, sei durch die beitragsmäßige Bevorzugung bestimmter landwirtschaftlicher Unternehmensformen willkürlich und könne nicht Grundlage der Beitragsforderungen durch die Beklagte sein.
Vor dem Bundessozialgericht (BSG) schlossen die Beteiligten am 19. Februar 1988 folgenden Vergleich: "Die Beklagte wird bei der Berechnung der Beiträge des Klägers für die Beitragsjahre 1980 bis 1983 einschließlich das Abschätzungsergebnis hinsichtlich der viehwirtschaftsbezogenen Flächen um 1/5 (ein Fünftel) ermäßigen.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers aller Rechtszüge zu 2/3 (zwei Drittel).
Der Kläger nimmt die Klage zurück."
Mit dem am 15. August 1990 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 9. August 1990 erklärt der Kläger die Anfechtung des am 19. Februar 1988 geschlossenen Prozeßvergleichs. Er meint, er sei zum Abschluß des Vergleichs durch arglistige Täuschung seitens der Beklagten veranlaßt worden. Er habe vor kurzem der neuen Satzung der Beklagten entnommen, daß die darin enthaltenen Bewertungsergebnisse "genau seinen früheren Vorstellungen" entsprächen, die er auch vorgetragen habe. Auf Rückfrage habe er erfahren, daß diese Änderungen in der Satzung auf der Grundlage eines im April 1988 erstellten Gutachtens von Prof. Dr. K. , Institut für Agrarökonomie der Universität G. , beschlossen worden seien. Bereits die erste Fassung des Gutachtens vom Januar 1988 habe die hier streitigen Bewertungen enthalten. An den Besprechungen mit dem Gutachter sowohl im Januar 1988 als auch bereits im Monat zuvor habe auch der Geschäftsführer der Beklagten teilgenommen. Im Vergleichstermin habe der Vorsitzende des erkennenden Senats auf die Notwendigkeit einer künftigen gutachtlich zu belegenden Neuregelung der Beitragssätze hingewiesen; gleichwohl habe der Geschäftsführer der Beklagten verschwiegen, daß diese gutachtlichen Ergebnisse bereits mindestens seit vier Wochen vorlägen. Ein solches Verhalten sei arglistig. Mit Sicherheit hätten der Vorsitzende und der Kläger nach einem entsprechenden Hinweis seitens der Vertreter der Beklagten gefragt, wie denn etwa die gutachtlichen Ergebnisse ausgefallen seien. Unter diesen Umständen wäre, wenn überhaupt, ein anderer Vergleich geschlossen worden. In Kenntnis der Ergebnisse dieses Gutachtens hätte er - der Kläger - einer Reduzierung des Abschätzungsergebnisses nicht um ein Fünftel, sondern allenfalls um vier Fünftel zugestimmt.
Der Kläger beantragt,
1.
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen, Celle vom 17. März 1987 zu - L 3 U 181/84 - aufzuheben,
2.
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 18. Mai 1984 aufzuheben,
3.
den Veranlagungs-Änderungsbescheid vom 28. Januar 1980 und den Beitragsbescheid vom 5. Februar 1980 idF des Widerspruchsbescheides vom 25. März 1980 sowie nachstehende Folgebescheide aufzuheben: a) Beitragsbescheid vom 10. Februar 1981, b) Beitragsbescheid vom 29. Januar 1982, c)
Veranlagungs-Änderungsbescheid vom 27. Januar 1982,
d)
Veranlagungs-Änderungsbescheid vom 31. Dezember 1982,
e) Beitragsbescheid vom 2. Februar 1983, f) Beitragsbescheid vom 1. Februar 1984,
hilfsweise,
Zurückverweisung an die Vorinstanz.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. März 1987 als unzulässig zu verwerfen.
Sie meint, daß der Rechtsstreit durch den Vergleich vom 19. Februar 1988 und die darin erklärte Klagerücknahme rechtswirksam beendet worden sei.
Entscheidungsgründe
Der Rechtsstreit ist durch den vor dem Vorsitzenden des Senats am 19. Februar 1988 geschlossenen Prozeßvergleich vollständig erledigt (§ 101 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die mit dem - beim BSG am 15. August 1990 eingegangenen - Schriftsatz vom 9. August 1990 erklärte Anfechtung dieses Prozeßvergleichs greift nicht durch. Es liegen weder prozeß- noch materiell-rechtliche Gründe vor, die diesen Prozeßvergleich unwirksam machen. Dementsprechend hat der Senat, der für die Entscheidung über die geltend gemachte Unwirksamkeit des Prozeßvergleichs zuständig ist (BSGE 7, 279, 281), festgestellt, daß der Rechtsstreit durch den Prozeßvergleich beendet worden ist.
Ein Prozeßvergleich hat nach hM (s ua BSGE 19, 112, 115; BSG SozR 1500 § 101 Nr 8; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 248; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl, § 101 RdNr 13, jeweils mwN) eine Doppelnatur: Er ist einerseits ein materiell-rechtlicher Vertrag und andererseits eine Prozeßhandlung, welche die Beendigung des Rechtsstreits bewirkt.
Zunächst ist festzustellen, daß keine prozeßrechtlichen Gründe für eine Unwirksamkeit des Prozeßvergleichs ersichtlich sind. Hierzu trägt auch der Kläger nichts vor.
Der Prozeßvergleich ist aber auch nicht aus materiell-rechtlichen Gründen unwirksam. Wegen seiner Doppelnatur entfaltet der Prozeßvergleich zwar keine Rechtswirksamkeit, wenn die Beteiligten nicht wirksam zugestimmt haben oder er als öffentlich-rechtlicher Vertrag nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nichtig oder wirksam angefochten ist; das gleiche gilt, wenn der nach dem Inhalt des Vergleichs als feststehend zugrundegelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht oder der Streit oder die Ungewißheit bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden sein würde - § 779 Abs 1 BGB - (s Meyer-Ladewig aaO § 101 RdNr 13 mwN). Das jedoch ist hier für keine dieser Voraussetzungen der Fall.
Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit des Prozeßvergleichs, etwa nach den Bestimmungen der §§ 116 ff BGB, oder seine Unwirksamkeit nach § 779 Abs 1 BGB liegen nicht vor. Der Kläger macht solche Gründe auch nicht geltend.
Aber auch die vom Kläger auf § 123 Abs 1 BGB gestützte Anfechtung des Prozeßvergleichs wegen arglistiger Täuschung ist nicht begründet. Eine Täuschung kann zwar auch durch Verschweigen von Tatsachen erfolgen; dies kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn der Betreffende zu einer solchen Aufklärung verpflichtet war (BGH LM § 123 Nr 52; Palandt-Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 49. Aufl, § 123 Anm 2c mwN). Im vorliegenden Fall waren entgegen der Auffassung des Klägers die Vertreter der Beklagten nicht verpflichtet, ihn bei den Vergleichsverhandlungen im Termin am 19. Februar 1988 darüber aufzuklären, daß im Januar 1988 bereits eine erste Fassung des Gutachtens vorlag. Diese Verpflichtung bestand schon deshalb nicht, weil, wie die Beklagte zu Recht darauf hinweist, diese erste Fassung des Gutachtens als Diskussionsgrundlage zwischen dem beauftragten Gutachter und den zuständigen Gremien der Beklagten für eine zukünftige Neugestaltung der Beiträge diente. Vor einer Abstimmung in diesen Gremien und vor der endgültigen Fassung des Gutachtens waren die Vertreter der Beklagten nicht verpflichtet, sogar nicht einmal befugt, Einzelheiten der ersten Fassung dieses Gutachtens Dritten (und damit auch nicht dem Kläger) mitzuteilen. Das Gutachten in seiner endgültigen Fassung wurde erst nach Abschluß des Prozeßvergleichs, nämlich im April 1988 erstattet. Auf seiner Grundlage erfolgte mit dem 2. Nachtrag der Satzung der Beklagten vom 29. November 1988 eine Beitragsumgestaltung, die im übrigen keine Auswirkungen auf die Beitragsbemessung für die vom Kläger beanstandeten Jahre 1980 bis 1983 hatte.
Allein schon aus diesen Gründen haben die Vertreter der Beklagten gegenüber dem Kläger keine Tatsachen verschwiegen, zu deren Aufklärung sie vor Abschluß des Prozeßvergleichs verpflichtet gewesen wären. Der Kläger wurde dementsprechend weder getäuscht iS des § 123 Abs 1 BGB, noch liegt ein arglistiges Verhalten der Beklagten vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen