Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Entscheidung über Anspruch auf Krankenbehandlung. Änderungen im Gesundheitszustand. Änderung. Streitgegenstand. Ermessen. Rehabilitationsleistung. Leistungsvoraussetzung
Leitsatz (amtlich)
- Der Grundsatz, dass bei der Entscheidung über den Anspruch auf Krankenbehandlung während des Prozesses eingetretene Änderungen im Gesundheitszustand zu berücksichtigen sind, gilt nicht, wenn sich dadurch der durch die Verwaltungsentscheidung festgelegte Streitgegenstand ändert.
- Das der Krankenkasse bei Reha-Leistungen eingeräumte Ermessen bezieht sich nicht auf die Entscheidung über das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen.
Normenkette
SGB V § 11 Abs. 2 S. 1, § 40 Abs. 1-2; SGG § 54 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 2000 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die beklagte Ersatzkasse lehnte einen vom Kläger im Juni 1997 gestellten und auf eine ärztliche Verordnung vom Juli 1997 gestützten Antrag auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme ab, nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zum Ergebnis gekommen war, die Therapiemöglichkeiten am Wohnort reichten aus (Bescheid vom 22. Oktober 1997). Die im Widerspruchsverfahren veranlasste Begutachtung des Klägers durch den MDK erbrachte keine medizinische Indikation für eine Kurmaßnahme, sodass der Widerspruch zurückgewiesen wurde (Widerspruchsbescheid vom 17. April 1998). Das Sozialgericht (SG) hat sich dieser Beurteilung im Gerichtsbescheid vom 25. November 1998 angeschlossen.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Befreiung seiner behandelnden Ärztin von der ärztlichen Schweigepflicht abgelehnt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 19. Dezember 2000 hat er mitgeteilt, er sei vom 1. Januar bis 2. Februar 2000 im Rahmen einer Krisenintervention in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen, ohne dass es sich um eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme gehandelt habe. Auch im Jahre 1999 sei er stationär behandelt worden. Das LSG hat den Gerichtsbescheid des SG und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese zur Neubescheidung des Antrags vom Juni/Juli 1997 verurteilt. Zur Begründung führt es im Wesentlichen aus, dass die Gewährung von Rehabilitationsleistungen im Ermessen der Krankenkasse stehe. Eine nähere Regelung der Ermessensgrenzen hinsichtlich des “Ob” der Leistung sei durch die seit 1. Januar 2000 geltende Neufassung von § 40 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht getroffen worden. Deshalb könne nach wie vor zur Bestimmung der Ermessensgrenzen auf das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgegriffen werden. Dort sei das Ermessen der Rehabilitationsträger im Ergebnis auf das “Wie” der Leistung beschränkt, also auf Art, Ort, Beginn und Dauer der Rehabilitationsmaßnahme (Gestaltungsermessen). Lägen die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen im Übrigen vor, zB auch medizinische Notwendigkeit und Erfolgsaussicht, so dürfe der Rentenversicherungsträger eine Rehabilitationsmaßnahme nicht allgemein, sondern allenfalls in Ausnahmefällen versagen.
Die Beklagte habe ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die Grenzen des Ermessens einzuhalten; der Betroffene habe hierauf einen Rechtsanspruch. Bei der Ermessensentscheidung müsse die Behörde von einer richtigen Beurteilung der Voraussetzungen für das Ermessen und bei dessen Ausübung vom richtigen und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgehen. Für die Frage, ob die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen habe und – falls ja diese rechtmäßig gewesen sei, komme es auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides, insbesondere auf seine Begründung an. Die Beklagte habe auf der Grundlage der Äußerungen des MDK festgestellt, dass im Falle des Klägers eine medizinische Indikation weder für eine orthopädisch-orientierte Kurmaßnahme noch für eine psychosomatische Rehabilitationskur vorliege und die Behandlungsmöglichkeiten vor Ort ausreichend seien. Dabei habe sie es unterlassen, von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Die Bescheide ließen keinerlei Gesichtspunkte für eine Ausübung des Ermessens erkennen. Darüber hinaus habe sie ihrer Entscheidung einen nicht vollständig ermittelten Sachverhalt zu Grunde gelegt, weil der MDK die Befundunterlagen der behandelnden Ärztin des Klägers nicht berücksichtigt habe. Deshalb müsse die Beklagte über den Rehabilitationsantrag des Klägers erneut entscheiden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 40 SGB V. Die begehrte stationäre Rehabilitationsmaßnahme sei schon deshalb abzulehnen gewesen, weil sie rechtlich ausgeschlossen gewesen sei – und zwar sowohl durch den Vorrang ambulanter Maßnahmen als auch durch mangelnde Erfolgsaussicht. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf der unzureichenden Sachaufklärung greife nicht, weil das LSG wesentlichen Prozessstoff übergangen habe; der Beiziehung von Unterlagen der behandelnden Ärztin, die vom Kläger im Gerichtsverfahren nicht von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden worden sei, habe es zur weiteren Aufklärung nicht bedurft. Unabhängig davon liege die Entscheidung über die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen nicht oder allenfalls ausnahmsweise im Ermessen der Krankenkasse, wie das LSG selbst ausführe. Deshalb habe der angefochtene Bescheid nicht wegen Ermessensfehlers aufgehoben werden dürfen. Die erstinstanzliche Entscheidung sei wiederherzustellen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 25. November 1998 zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung begründet. Über den vom Kläger erhobenen Anspruch kann ohne weitere Sachaufklärung und Beweiswürdigung nicht entschieden werden.
Auf zusätzliche Ermittlungen könnte nur verzichtet werden, wenn davon auszugehen wäre, dass sich der ursprüngliche Antrag durch Zeitablauf oder Änderungen im Gesundheitszustand des Klägers in der Zwischenzeit erledigt hat und der sich darauf beziehende Ablehnungsbescheid der Beklagten gegenstandslos geworden ist. Das jetzige Begehren zielte dann auf eine qualitativ andere Leistung, die vor Klageerhebung zum Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens gemacht werden müsste. Eine ausdrücklich mit dem ursprünglichen Ziel aufrechterhaltene Klage wäre abzuweisen, es sei denn, es würde Rechtsschutz in der Form der Fortsetzungsfeststellungsklage iS von § 131 Abs 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) begehrt. Darauf braucht der Senat indes nicht näher einzugehen, denn die bisherigen Feststellungen des LSG lassen trotz der langen Verfahrensdauer nicht den Schluss zu, dass infolge der während des Prozesses eingetretenen Veränderungen der ursprüngliche Anspruch obsolet geworden ist.
Es liegt auf der Hand, dass beim Streit über die Gewährung einer Rehabilitationsmaßnahme nicht jede Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Versicherten dem Rechtsstreit die Grundlage entzieht und zur Einleitung eines neuen Verwaltungsverfahrens zwingt. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich deshalb auch nicht auf die ursprüngliche Verwaltungsentscheidung und den dabei zu Grunde gelegten Sachverhalt. Vielmehr ist über Behandlungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung generell und somit auch über Ansprüche auf Rehabilitationsmaßnahmen nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Diesen Grundsatz hat der Senat im Urteil vom 19. Juni 2001 in Bezug auf Rechtsänderungen daraus abgeleitet, dass ein entsprechendes Sachleistungsbegehren auf ein künftiges Handeln der beklagten Krankenkasse gerichtet ist ( BSGE 88, 166, 167 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5 S 26 mwN; vgl auch Senatsurteil vom 25. März 2003 – B 1 KR 17/01 R, zur Veröffentlichung bestimmt) . Für die den Anspruch stützenden Tatsachen muss dasselbe gelten, denn es wäre widersinnig, die Krankenkasse zu einer Leistung zu verurteilen, für die im Zeitpunkt der Verurteilung keine Notwendigkeit mehr besteht oder für die – beispielsweise durch eine zwischenzeitliche Operation am erkrankten Organ – jegliche Grundlage entfallen ist. Umgekehrt kann sich der Gesundheitszustand des Versicherten im Laufe des Verfahrens so verschlechtert haben, dass die Krankenkasse am Ende des Prozesses zu einer Leistung verurteilt werden muss, die sie ursprünglich noch zu Recht abgelehnt hatte. Dieses Ergebnis entspricht der in der Rechtsprechung entwickelten Faustregel, dass bei Leistungs- und Verpflichtungsklagen Änderungen der Sach- und Rechtslage bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen sind. Soweit es dabei um tatsächliche Änderungen geht, muss das Revisionsverfahren wegen der in § 163 SGG vorgeschriebenen Bindung an die vorinstanzlichen Feststellungen allerdings grundsätzlich außer Betracht bleiben, sodass die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgebend ist ( vgl etwa BSGE 41, 38 = SozR 2200 § 1418 Nr 2; BSG vom 8. Dezember 1988 – 2 RU 83/87 – HV-INFO 1989, 631) .
Neue Tatsachen oder Rechtsänderungen sind indessen nur im Rahmen des jeweiligen Streitgegenstandes zu berücksichtigen, bei der Anfechtungs- und Leistungsklage also nur, soweit sie das konkrete Begehren betreffen, über das die Krankenkasse in dem angefochtenen Bescheid und dem nachfolgenden Widerspruchsbescheid entschieden hat. Medizinische Leistungen zur Rehabilitation sollen einen aktuellen, auf die Ziele des § 11 Abs 2 SGB V ausgerichteten Behandlungsbedarf befriedigen. Ihre Notwendigkeit sowie Art und Umfang der Maßnahmen richten sich nach den gesundheitlichen Verhältnissen, die den Leistungsantrag ausgelöst haben und von der Kasse ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt wurden. Nur der sich daraus ergebende Leistungsanspruch, nicht ein abstrakter, vom Ausgangssachverhalt losgelöster Anspruch auf Rehabilitation ist Gegenstand des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens. Stützen die diesbezüglichen Feststellungen den Anspruch nicht, ist in dem anhängigen Prozess grundsätzlich nicht darüber zu befinden, ob möglicherweise andere, nachträglich aufgetretene Gesundheitsstörungen einen Rehabilitationsbedarf begründen. Da dann nicht mehr um die ursprüngliche, sondern um eine andere Leistung gestritten wird, vermögen auch Gründe der Prozessökonomie die Einbeziehung in das laufende Verfahren nicht zu rechtfertigen.
Nach den aufgezeigten Grundsätzen muss zunächst geprüft werden, ob sich der ursprüngliche Rehabilitationsbedarf durch die seit der Verwaltungsentscheidung im Jahr 1998 eingetretene gesundheitliche Entwicklung und die zwischenzeitlich durchgeführten stationären Behandlungen so verändert hat, dass dem Klagebegehren die Grundlage entzogen ist. Dafür könnte sprechen, dass die Ablehnung der Beklagten und das dazu führende Verwaltungsverfahren einen bei Abschluss des Berufungsverfahrens bereits zweieinhalb Jahre zurückliegenden Antrag betrafen, der sich überdies auf ein konkretes Maßnahmeziel bezog, denn die aufnehmende Klinik sollte – vermutlich mit Rücksicht auf den damals aktuellen Gesundheitszustand des Klägers – zur Behandlung von psychovegetativen Erschöpfungszuständen und chronischen Ermüdungs- und Erschöpfungserscheinungen geeignet sein. Wegen der zwischenzeitlichen stationären Behandlungsversuche mag es auch unwahrscheinlich sein, dass heute noch immer dieselbe Kurmaßnahme in Frage kommt wie vorher. Indessen lassen die vom LSG mitgeteilten Fakten allein diesen Schluss nicht zu, sodass es diesbezüglich noch tatrichterlicher Feststellungen bedarf. In diesem Zusammenhang kann auch geklärt werden, welche Leistungen genau der Kläger während der stationären Behandlung in einer Einrichtung, die sich auch als Rehabilitationszentrum bezeichnet, zu Lasten der Beklagten erhalten hat. Sollte sich seine Angabe bestätigen, er habe keine Rehabilitationsleistungen erhalten, und sollte sich überdies ergeben, dass die das Verfahren auslösende psychische Erkrankung nach wie vor besteht, muss – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – geklärt werden, ob ihretwegen Anspruch auf die beantragte stationäre Rehabilitationsmaßnahme besteht.
Die weitere Sachverhaltsermittlung darf entgegen der Auffassung des LSG nicht unter Hinweis auf eine angeblich notwendige Ermessensentscheidung unterbleiben. Denn beim derzeitigen Verfahrensstand kommt es nicht darauf an, ob die Krankenkasse auch bei der Ablehnung von Rehabilitationsmaßnahmen und nicht nur in Bezug auf die Leistungsmodalitäten bei der Gewährung Ermessen auszuüben hat. Das LSG hat zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf stationäre Leistungen zur Rehabilitation ausgeschlossen ist, wenn eine ambulante Rehabilitationskur oder ambulante Krankenbehandlung in Betracht kommt. Denn § 40 Abs 1 SGB V macht den Anspruch auf ambulante Rehabilitationsleistungen davon abhängig, dass ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht; nach § 40 Abs 2 SGB V setzt der Anspruch auf stationäre Rehabilitation voraus, dass eine ambulante Leistung nach § 40 Abs 1 SGB V nicht ausreicht. Außerdem müssen Rehabilitationsmaßnahmen nach § 11 Abs 2 Satz 1 SGB V notwendig sein, um einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie nach Eintritt zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Die Feststellung der Notwendigkeit und der Erfolgsaussicht einer beantragten Rehabilitationsmaßnahme hängt weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn des Gesetzes vom Ermessen der Krankenkasse ab. Nur wenn die genannten Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, kann sich die Frage stellen, ob die Gewährung dennoch mit Ermessenserwägungen versagt werden darf.
Wenn die Krankenkasse wie im Falle des Klägers die Voraussetzungen des Anspruchs unter den angesprochenen Gesichtspunkten verneint, weil nach der Einschätzung des MDK das Ziel der Rehabilitation nicht erreichbar erscheint bzw die Möglichkeiten der ambulanten Behandlung nicht ausgeschöpft sind, hat das Gericht infolgedessen diese Einschätzung unter Berücksichtigung des aktuellen Gesundheitszustands zu überprüfen und sich dabei gegebenenfalls sachverständiger Hilfe zu bedienen; wird dies durch den Versicherten ohne triftigen Grund verhindert, wie es mit Rücksicht auf das fehlende Einverständnis des Klägers zur Beiziehung medizinischer Unterlagen hier denkbar erscheint, geht dies zu seinen Lasten. Nur wenn das Gericht nach der notwendigen Sachverhaltsaufklärung in beiden Punkten zur gegenteiligen Überzeugung kommt, ist die Überlegung gerechtfertigt, ob das Gesetz der Krankenkasse einen Ermessensspielraum einräumt, kraft dessen sie befugt ist, den Anspruch trotz Vorliegens der genannten Voraussetzungen abzulehnen. Hierüber kann der Senat beim jetzigen Stand des Verfahrens nicht entscheiden, denn für die Zurückverweisung ist diese Frage unerheblich; eine Äußerung dazu wäre nicht verbindlich. Sollten die Leistungsvoraussetzungen nachgewiesen werden, wird das LSG erneut zur Frage des Ermessens Stellung nehmen müssen.
Schließlich wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 954164 |
NZA 2003, 1384 |
NZS 2004, 167 |
SozR 4-1500 § 54, Nr. 1 |
GuS 2003, 60 |