Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 22.08.1990) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. August 1990 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Beigeladenen zu 1) und 2) die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten; im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt die Feststellung, daß der Beklagte für die Entschädigung eines Unfalls des Beigeladenen zu 1) zuständig ist.
Der Beigeladene zu 1) verunglückte am 12. September 1984, als er bei der baulichen Erweiterung des Eigenheims seines Schwiegersohnes, des Beigeladenen zu 2), mithalf. Nach dem der Klägerin übersandten Durchgangsarztbericht zog sich der Beigeladene zu 1) bei einem Sturz von einer Leiter Wirbelsäulenverletzungen zu.
Auf Anfrage der Klägerin teilte das Kreisbauamt der zuständigen Kreisverwaltung mit, daß der Beigeladene zu 2) noch keinen Antrag auf Erteilung eines Anerkennungsbescheides nach § 82 Abs 2 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG) gestellt habe. Ob ihm ein Anspruch auf Anerkennung zustehe, könne nach den vorhandenen Unterlagen nicht beurteilt werden. In dem der Klägerin Mitte Oktober 1984 eingereichten Eigenbaunachweis für die Zeit bis 15. September 1984 erklärte der Beigeladene zu 2), daß er den Antrag auf Anerkennung einer Steuerbegünstigung am 10. Oktober 1984 gestellt habe. Diese Angabe übersah die Klägerin. Sie forderte mit Beitragsbescheid vom 3. Januar 1985 für die Zeit von Juni bis September 1984 Beiträge ua für die vom Beigeladenen zu 1) in dieser Zeit laut Eigenbaunachweis entgeltlich geleisteten Arbeitsstunden an. Der Beigeladene zu 2) entrichtete diese Beiträge. Mit Bescheid vom 1. März 1985 bewilligte die Klägerin dem Beigeladenen zu 1) wegen der Folgen des Unfalls vom 12. September 1984 eine vorläufige Verletztenrente.
Die Kreisverwaltung erkannte mit Bescheid vom 3. September 1985 den Anbau als steuerbegünstigte Wohnung nach den §§ 82, 83 II. WoBauG in der Form eines Familienheimes iS des § 7 II. WoBauG an. Daraufhin teilte die Klägerin unter dem 3. Oktober 1985 dem Beigeladenen zu 2) mit, daß der mit Beitragsbescheid vom 3. Januar 1985 für den Beigeladenen zu 1) erhobene Beitrag seinem Konto wieder gutgeschrieben werde. Alsdann leitete sie die Unfallsache des Beigeladenen zu 1) an den Beklagten weiter und begehrte Ersatz der bisher erbrachten Leistungen. Der Beklagte verneinte seine Zuständigkeit. Die Klägerin zahlte daraufhin dem Beigeladenen zu 1) die Verletztenrente weiter und stellte diese als Dauerrente fest (Bescheid vom 13. März 1986). Sie nahm mit Bescheid vom 26. Juni 1986 gegenüber dem Beigeladenen zu 2) den Beitragsbescheid vom 3. Januar 1985 nach § 44 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) mit Wirkung für die Vergangenheit insoweit zurück, als er den Beigeladenen zu 1) betraf; für diesen habe im Zeitpunkt des Unfalls beitragsfreier Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 15 iVm § 657 Abs 1 Nr 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beim Beklagten bestanden.
Das Sozialgericht (SG) hat die auf Feststellung der Zuständigkeit des Beklagten gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 8. November 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat das angefochtene Urteil aufgehoben und festgestellt, daß der Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen zu 1) vom 12. September 1984 zuständige Versicherungsträger ist (Urteil vom 22. August 1990). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Für den Beigeladenen zu 1) habe zum Unfallzeitpunkt nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO – beitragsfreier – Versicherungsschutz mit dem Beklagten als zuständigem Unfallversicherungsträger (§ 657 Abs 1 Nr 8 RVO) bestanden. Die Klägerin habe zwar Beiträge für die vom Beigeladenen zu 1) geleisteten Arbeitsstunden festgesetzt. Eine solche erst nach dem Eintritt des Unfalls vorgenommene rückwirkende Beitragserhebung könne jedoch ein formales Versicherungsverhältnis nicht begründen. Denn durch die Formalversicherung werde nur das Vertrauen in das Versichertsein für einen zukünftigen, nach unbeanstandeter Entgegennahme von Beiträgen eingetretenen Versicherungsfall geschützt. Selbst wenn man aber ein formales Versicherungsverhältnis zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen zu 1) annehme, so sei dieses ggf rückwirkend begründete Versicherungsverhältnis jedenfalls durch den auf § 44 SGB X gestützten Bescheid vom 26. Juni 1986 wieder beseitigt worden.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Unzutreffend sei die Auffassung des LSG, daß eine erst nach dem Unfall vorgenommene rückwirkende Beitragserhebung ein den Unfall umfassendes formales Versicherungsverhältnis nicht begründen könne. Bei diesem Streitpunkt habe das LSG nur darauf abgestellt, daß die Beitragserhebung nach dem Unfall erfolgt sei; damit habe es den vollständigen Inhalt der Akten unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 SGG nicht hinreichend beachtet und gewürdigt. Mit der bindend gewordenen Beitragserhebung sei ein formal-rechtliches Versicherungsverhältnis zustande gekommen. Dieses Versicherungsverhältnis habe die Klägerin nach dem Unfall, insbesondere nach der Erbringung von endgültigen Leistungen an den Beigeladenen zu 1), nicht mehr rückwirkend beseitigen können. Er – der Beklagte – könne sich nach wie vor auf das Bestehen des formal-rechtlichen Versicherungsverhältnisses berufen. Damit sei die Klägerin für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen zu 1) selbst zuständig.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 22. August 1990 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Frankfurt am Main vom 8. November 1988 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend festgestellt, daß der Beklagte für die Entschädigung des Arbeitsunfalls des Beigeladenen zu 1) zuständig ist, den dieser am 12. September 1984 im Zusammenhang mit für das Bauvorhaben des Beigeladenen zu 2) verrichteten Hilfsarbeiten erlitten hat.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Der Beigeladene zu 1) war am Unfalltag nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Nach dieser Vorschrift besteht Unfallversicherungsschutz für Personen, die beim Bau eines Familienheims (ua Eigenheims) im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind, wenn durch das Bauvorhaben öffentlich geförderte oder steuerbegünstigte Wohnungen geschaffen werden sollen. Zur Selbsthilfe gehören nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO iVm § 36 Abs 2 II. WoBauG erbrachte Arbeitsleistungen des Bauherrn und seiner Angehörigen. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sind die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt: Der Beigeladene zu 1) war in der Zeit von Juni bis September 1984 mit Bauarbeiten zur Erweiterung des Eigenheims seines Schwiegersohnes im Rahmen der Selbsthilfe tätig und verunglückte bei dem versuchsweisen Anbringen eines Dachrinneneisens an der Dachkante. Das Bauvorhaben erfüllte im Unfallzeitpunkt auch die Voraussetzungen für die Anerkennung als steuerbegünstigter Wohnraum nach §§ 82, 83 II. WoBauG (s dazu ua BSGE 64, 29 ff mit zahlreichen Nachweisen). Für den somit nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO versicherten Beigeladenen zu 1) ist nach § 657 Abs 1 Nr 8 RVO der Beklagte der für den Unfall vom 12. September 1984 zuständige und entschädigungspflichtige Träger der Unfallversicherung.
Seine Zuständigkeit und Leistungspflicht entfällt nicht deshalb, weil, wie der Beklagte mit der Revision meint, nicht er, sondern die Klägerin zumindest infolge einer – auch durch den Rücknahmebescheid nicht beseitigten – Formalversicherung des Beigeladenen zu 1) zuständig und leistungspflichtig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann ein formal-rechtliches Versicherungsverhältnis begründet werden, wenn die Eintragung in das Unternehmerverzeichnis erfolgt und der Mitgliedsschein zugestellt ist, ohne daß die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht des Unternehmers gegeben waren, und die Berufsgenossenschaft Beiträge erhoben hat (BSGE 36, 71, 73 mwN). Aber auch ohne Katastereintragung kann eine Formalversicherung allein durch Heranziehung des Unternehmers zur Beitragsleistung entstehen (BSGE 34, 230, 232 mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat im vorliegenden Fall die Klägerin zwar den Beigeladenen zu 2) durch Bescheid vom 3. Januar 1985 (der mangels Anfechtung durch den Beigeladenen zu 2) bindend wurde – § 77 SGG –) zur Beitragszahlung herangezogen, obgleich die Beigeladenen bei den Arbeitsleistungen am Bauvorhaben nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO beim Beklagten beitragsfrei versichert waren und deshalb der Beitragsanspruch im Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht begründet war. Ob jedoch, wie das LSG meint, eine erst nach dem Eintritt eines Unfalls vorgenommene und nicht angefochtene rückwirkende Beitragserhebung ein den Unfall umfassendes formal-rechtliches Versicherungsverhältnis nicht begründen kann, braucht der Senat nicht zu entscheiden, so daß die von der Revision in diesem Zusammenhang erhobene Verfahrensrüge, das LSG habe unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 SGG nicht den vollständigen Inhalt der Akten berücksichtigt, nicht begründet ist. Selbst wenn hier ein formales Versicherungsverhältnis bei der Klägerin vorgelegen haben sollte, so ist dieses durch den gegenüber dem Beigeladenen zu 2) erlassenen Bescheid der Klägerin vom 26. Juni 1986 außer Kraft gesetzt worden (s Urteil des Senats vom 26. September 1986 – 2 RU 54/85 – HV-Info 1987, 33).
Die Klägerin hat durch den Bescheid vom 26. Juni 1986 ihren bindend gewordenen Beitragsbescheid vom 3. Januar 1985 nach § 44 SGB X insoweit rückwirkend wieder aufgehoben, als darin für den Beigeladenen zu 1) für die Zeit von Juni bis September 1984 Beiträge angefordert waren; ferner hat die Klägerin die Rückerstattung dieser Beiträge an den Beigeladenen zu 2) festgelegt. Allerdings ist dieser Bescheid nach dem Unfall des Beigeladenen zu 1) ergangen, so daß die Beendigung einer etwa vorhandenen Formalversicherung rückwirkend für einen Zeitpunkt erfolgte, welcher vor dem Unfall gelegen ist. Zwar darf nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Formalversicherung nach Eintritt eines Arbeitsunfalls grundsätzlich nicht rückwirkend beendet werden (BSGE 36, 71, 73; BSG SozR 2200 § 776 Nr 8, jeweils mwN). Dies folgt zugunsten des Versicherten allein schon aus dem durch das formal-rechtliche Versicherungsverhältnis vor dem Unfall begründeten Vertrauensverhältnis zwischen dem Versicherten und dem Unfallversicherungsträger (s dazu BSG SozR aaO) sowie aus dem auch in der Unfallversicherung geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (s Kaskel, Die Entwicklung der formellen Versicherung in der sozialen Unfallversicherung, Festgabe für Alfred Manes, 1927, S 248, 272). Ficht aber der Versicherte – wie hier – den Bescheid des Unfallversicherungsträgers über die Aufhebung des Beitragsbescheides und die Rückzahlung der Beiträge, welche die Grundlage des formalen Versicherungsverhältnisses gebildet haben, nicht an, so entfällt dadurch auch sein Vertrauensschutz rückwirkend. Jedenfalls dann kann sich der nach dem Gesetz zuständige Unfallversicherungsträger nicht mehr auf das einmal begründete, aber dann rückwirkend beseitigte formale Versicherungsverhältnis berufen. Ein eigener Vertrauensschutz steht dem nach dem Gesetz für die Entschädigung der Folgen des Arbeitsunfalles zuständigen Unfallversicherungsträger nicht zu.
Dieses Ergebnis weicht entgegen der Auffassung der Revision nicht von dem Urteil des Senats vom 28. November 1987 (BSG SozR 2200 § 776 Nr 8) ab, wie sich schon daraus ergibt, daß der Senat in diesem Urteil wiederholt auf seine Entscheidung vom 26. September 1986 (2 RU 54/85) Bezug genommen hat. In seinem Urteil vom 28. November 1987 hat der Senat im Rahmen eines Erstattungsstreits zwischen Unfall- und Krankenversicherungsträger entschieden, daß ein Bescheid, mit dem ein formales Versicherungsverhältnis rückwirkend beendet wurde, auf den Erstattungsanspruch der Krankenkasse keine unmittelbare Bindungswirkung hat. Die Krankenkasse darf sich auf das formal-rechtliche Mitgliedschaftsverhältnis des Verletzten mit wirksamem Unfallversicherungsschutz zum Zeitpunkt des Unfalls als Rechtsgrund für ihren Erstattungsanspruch berufen. Diese Regelung beruht auf der Erwägung, daß der Gegenstand des Erstattungsanspruchs einer Krankenkasse gegenüber einem Unfallversicherungsträger grundverschieden von dem Gegenstand der Ansprüche im Mitgliedschafts- und Leistungsverhältnis zwischen Unfallversicherungsträger und Versichertem ist (s BSGE 24, 155, 156 f; Brackmann aaO S 968g). Diese Entscheidung ist somit zu einer vom vorliegenden Fall abweichenden Fallgestaltung ergangen. In dem dem angezogenen Urteil zugrunde liegenden Fall wurde durch die rückwirkende Beendigung der formal-rechtlichen Versicherung der Unfallversicherungsschutz des Verletzten als solcher und damit das Vorliegen eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls rückwirkend in Frage gestellt. In dem hier zu entscheidenden Fall hingegen besteht kein Streit über den Unfallversicherungsschutz des Verletzten im Zeitpunkt des Unfalls, sondern über die Zuständigkeit des entschädigungspflichtigen Unfallversicherungsträgers, nämlich entweder des ursprünglich nach dem materiellen Recht oder des nach dem Unfall „formal-rechtlich” Verpflichteten. Ein Vertrauenstatbestand kann insoweit nicht bejaht werden.
Die Klägerin ist damit für den Unfall des Beigeladenen zu 1) nicht zuständig. Das LSG hat zutreffend angenommen, daß der Beigeladene nach § 657 Abs 1 Nr 8 iVm § 539 Abs 1 Nr 15 RVO im Unfallzeitpunkt bei dem Beklagten versichert war.
Die Revision des Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen