Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.02.1990)

SG Gelsenkirchen (Urteil vom 30.11.1987)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1990 und des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30. November 1987 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 27. August 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1986 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Vormerkung von Kindererziehungszeiten.

Die 1936 geborene Klägerin, von Beruf Ärztin, ist Mutter der Kinder Peter, geboren am 23. Dezember 1962 und Claus, geboren am 16. März 1966. Sie war während ihrer Beschäftigung als Medizinalassistentin vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 1962 und erneut vom 1. Juli 1963 bis zum 31. Oktober 1964 Mitglied der Bayerischen Ärzteversorgung. Wegen dieser Mitgliedschaft wurde sie auf ihren Antrag von der beklagten Bundesversicherungsanstalt (BfA) durch Beschluß vom 27. November 1962 mit Wirkung vom 2. Oktober 1962 von der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung der Angestellten (AV) befreit. In einem Schreiben der Beklagten an die Klägerin vom 11. Dezember 1963 hieß es, daß Absatz 4 dieses Beschlusses wie folgt geändert und ergänzt werde:

„Die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht gem § 7 Abs 2 aaO fallen weg, wenn die Mitgliedschaft in der öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung Ihrer Berufsgruppe endet.

Das Ausscheiden aus der Mitgliedschaft ist der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte unverzüglich anzuzeigen.

Unterlassen der Anzeige kann zu Beitragsnachforderungen führen.”

Die Beklagte widerrief, nachdem ihr die Beendigung der Mitgliedschaft in der Bayerischen Ärzteversorgung bekannt geworden war, mit Beschluß vom 22. November 1968 die Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV zum 30. November 1968. Ab Dezember 1970 entrichtete die Klägerin als unselbständig beschäftigte Ärztin Pflichtbeiträge zur AV.

Den im Juli 1986 gestellten Antrag, Zeiten der Kindererziehung festzustellen, lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 27. August 1986 ab. Den Widerspruch wies sie zurück, weil nach § 28a Abs 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) Zeiten der Kindererziehung nicht angerechnet würden, wenn der Erziehende von der Versicherungspflicht befreit gewesen sei; eine solche Befreiung habe für die Klägerin damals bestanden (Widerspruchsbescheid vom 18. November 1986).

Das Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) hat den Bescheid vom 27. August 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1986 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die am 23. Dezember 1962 und 16. März 1966 geborenen Kinder Zeiten der Kindererziehung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen vorzumerken (Urteil vom 30. November 1987). Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und in der angefochtenen Entscheidung vom 21. Februar 1990 im wesentlichen ausgeführt:

Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des § 28a Abs 1 Satz 1 AVG. Auf sie finde auch die Ausnahmevorschrift des Abs 4 aaO keine Anwendung. Allerdings sei die Klägerin während der Erziehungszeiten von der Versicherungspflicht in der AV befreit gewesen, weil sich der Widerruf dieser Befreiung durch Beschluß vom 22. November 1968 nur auf die Zukunft bezogen habe. Ob der Widerruf auch für die zurückliegende Zeit, in der die Klägerin nicht mehr Mitglied der Bayerischen Ärzteversorgung gewesen sei, hätte erfolgen können oder müssen, brauche nicht erörtert zu werden, weil zumindest derzeit die Bestandskraft des Beschlusses vom 22. November 1968 zu beachten sei. Die Klägerin habe auch zu keinem Zeitpunkt auf die Befreiung von der Versicherungspflicht verzichtet. Die Rechtsnatur des Verzichtes als einseitiges Rechtsgeschäft schließe es entgegen dem SG aus, in dem von der Beklagten ausgesprochenen Widerruf der Befreiung einen Verzicht zu sehen. Jedoch sei § 28a Abs 4 AVG im Wege der Rechtsfortbildung dahin zu ergänzen, daß die Befreiung von der Versicherungspflicht dann nicht schade, wenn sie später widerrufen werde und wieder Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung eingetreten sei. Es hätten nur solche Personen vom Erwerb der Kindererziehungszeiten ausgeschlossen werden sollen, die dauerhaft nicht (mehr) in das System der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen gewesen seien. Der Gesetzgeber habe es entgegen seiner Absicht versäumt, den Widerruf der Befreiung von der Versicherungspflicht dem Verzicht auf diese Befreiung gleichzustellen; durch beide Tatbestände werde der Versicherte zwar nicht nachträglich für die Zeit der Kindererziehung, wohl aber ex nunc wieder in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach ihrer Ansicht bestehe die vom LSG angenommene Gesetzeslücke nicht, zumal die derzeitigen Regelungen durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 – RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) nicht entsprechend geändert worden seien. Der Gesetzgeber habe den Nachteil ausgleichen wollen, daß während der Kindererziehung keine Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung hätten erworben werden können. Wer aber versicherungsfrei oder von der Versicherungspflicht befreit sei, könne diesen Nachteil nicht erleiden. Im übrigen sei der Verzicht durch das 19. Rentenanpassungsgesetz (19. RAG) mit Wirkung vom 11. Juni 1976 abgeschafft worden. Die Befreiung von der Versicherungspflicht sei auch nicht, ohne daß es eines Verwaltungsaktes bedurft hätte, „gegenstandslos” geworden. Ob ein Widerruf nach § 7 Abs 5 AVG aF mit Rückwirkung möglich gewesen wäre, sei fraglich. Zwar eröffne jetzt § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Möglichkeit, die Befreiung mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben. Dies rechtfertige aber nicht, bei jeder sich lediglich indirekt auf Tatbestände in der Vergangenheit auswirkenden Gesetzesänderung nachträglich zu korrigieren.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen von 21. Februar 1990 und des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30. November 1987 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verweist darauf, daß sie mit dem jeweiligen Ende der Mitgliedschaft bei der Bayerischen Ärzteversorgung dort sämtliche Leistungsansprüche verloren habe. Damit seien die Voraussetzungen für die Befreiung entfallen. Die Befreiung werde ipso iure gegenstandslos (Hinweis auf Funk in Kasseler Kommentar, RdNr 14 zu § 1230 RVO sowie Kommentierung zu § 7 Abs 2 AVG). Es müsse dann der Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung eintreten, zumal nach § 28a Abs 4 AVG sogar Beamten, die ohne Versorgungsanspruch ausschieden und nachversichert würden, Kindererziehungszeiten anzurechnen seien.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat nach der derzeitigen Sach- und Rechtslage keinen Anspruch auf Vormerkung der geltend gemachten Erziehungszeiten für beide Kinder.

Die Klägerin begehrt die Vormerkung (Feststellung) von Kindererziehungszeiten außerhalb des Leistungsverfahrens. Grundlage hierfür ist § 104 Abs 3 Satz 1 AVG. Ein Vormerkungsbescheid im Sinne dieser Bestimmung dient allein der daten- und tatbestandsmäßigen Erfassung; über die Anrechnung und Bewertung wird erst bei Feststellung einer Leistung entschieden (aaO Satz 2).

Materiell-rechtlich geht es um Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nach § 28a AVG (§ 27 Abs 1 Buchst c AVG idF des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes -HEZG- vom 11. Juli 1985, BGBl I 1450). Nach § 28a Abs 1 Satz 1 AVG (ebenfalls idF des HEZG) werden für die Erfüllung der Wartezeit Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten 12 Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben. Daß die Klägerin hinsichtlich beider Kindererziehungszeiten die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dieser Grundvorschrift erfüllt, ist unstreitig. Streitig ist, ob auf sie die Ausnahmeregelung des Abs 4 aaO anzuwenden ist. Hiernach gilt unter anderem Abs 1 nicht für Mütter und Väter, die während der Kindererziehung a) zu den in § 6 oder entsprechenden früheren Regelungen genannten (versicherungsfreien) Personen gehörten oder von der Versicherungspflicht befreit waren, es sei denn, daß eine Nachversicherung durchgeführt oder an deren Stelle eine Abfindung gezahlt oder auf die Befreiung von der Versicherungspflicht verzichtet worden ist, oder b) Abgeordnete, Minister oder Parlamentarische Staatssekretäre waren, es sei denn, daß sie ohne Anspruch auf Versorgung ausgeschieden sind.

Zwar räumt das LSG ein, daß die Klägerin während der Kindererziehung von der Versicherungspflicht zur AV befreit war, weil diese Befreiung durch den Beschluß vom 22. November 1968 nur für die (aus damaliger Sicht) Zukunft widerrufen worden ist, und es verneint auch im Gegensatz zur ersten Instanz die Möglichkeit, in dem von der Beklagten ausgesprochenen Widerruf der Befreiung von der Versicherungspflicht einen Verzicht der Klägerin auf die Befreiung – den diese nicht erklärt hat – zu sehen. Gleichwohl vertritt das Berufungsgericht die Ansicht, § 28a Abs 4 Buchst a AVG müsse im Wege gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung dahin ergänzt werden, daß die Befreiung von der Versicherungspflicht zumindest dann der Anrechnung von Kindererziehungszeiten nicht entgegenstehe, wenn sie später widerrufen worden und wieder Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung eingetreten sei; nicht nur ein Fehler des Gesetzes, sondern eine echte Gesetzeslücke liege vor, die es gebiete, durch teleologische Reduktion den Widerruf der Befreiung von der Versicherungspflicht dem (nachträglichen) Verzicht auf die Befreiung gleichzustellen.

Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Auch er hält die Vorschrift für auslegungsbedürftig und auslegungsfähig im Sinne einer teleologischen Reduktion, allerdings mit anderem Ergebnis:

§ 28 Abs 4 Buchst a AVG schließt die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für Personengruppen aus, die während des (ersten) Erziehungsjahres entweder in ein anderes Sicherungssystem integriert waren oder ihr Versicherungsleben wegen Alters bereits abgeschlossen hatten (vgl die in Bezug genommene Vorschrift des § 6 AVG, und zwar Abs 1 Nrn 2 bis 7 für die Angehörigen eines anderen Systems, Nr 1 für die – in der Praxis weniger bedeutende – Gruppe der Altersruhegeldempfänger). Daß es sich (mit Ausnahme der hier nicht in Frage stehenden Bezieher von Altersruhegeld) um eine Systemabgrenzung handelt, wird daran deutlich, daß nicht alle diejenigen ausgeschlossen sind, die nach dem jeweiligen früheren Recht aus anderen Gründen versicherungsfrei waren, also zB Personen, deren Versicherungsfreiheit bis zum 28. Februar 1957 (also vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze) auf Invalidität, Invalidenrentenbezug damaligen Rechts oder dem Bezug einer Witwenrente aus der Invaliden- oder Angestelltenversicherung beruhte. Im Zusammenhang mit dieser Abgrenzung muß es auch gesehen werden, wenn das Gesetz im Anschluß an die in § 6 AVG (oder in entsprechenden früheren Regelungen) näher bezeichneten Personen alternativ „oder”) diejenigen nennt, die „von der Versicherungspflicht befreit waren”. Dies hebt ersichtlich auf die im Gesetz folgenden Vorschriften § 7 AVG (Befreiung auf Antrag des Versicherten) und § 8 AVG (Befreiung auf Antrag des Arbeitgebers) ab. Auf eine solche Verknüpfung deuten auch die Gesetzesmaterialien hin. Nach der Begründung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zum HEZG heißt es, daß Frauen, die zu dem in § 1229 der Reichsversicherungsordnung (RVO; = § 6 AVG) genannten Personenkreis gehören, von der Versicherungspflicht befreit sind oder Versorgungsansprüche nach dem Abgeordnetengesetz, dem Bundesministergesetz oder dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre erworben haben, nicht durch die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in das Sicherungssystem der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen werden sollen (vgl BR-Drucks 500/84, BT-Drucks 10/2677, jeweils S 34 f zu Art 1 Nr 19 betreffend § 1251a RVO, dort zu Abs 2, der später Abs 4 wurde). Mit der Begrenzung auf die Personen, die wegen und während der Zugehörigkeit zu einem anderen Versicherungs-oder Versorgungssystem von der Versicherungspflicht befreit sind, wird auch das sonst schwer verständliche Ergebnis vermieden, denjenigen Personen Kindererziehungszeiten zuzubilligen, die nie vorher (möglicherweise auch nicht danach) eine Verbindung zur gesetzlichen Rentenversicherung hatten, sie aber denjenigen zu versagen, die sich aus einem vom Gesetz als wichtig angesehenen Grund, und zwar nicht notwendig auf Dauer, von der Versicherungspflicht haben befreien lassen (aA Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts -BSG-vom 19. April 1990 – 1 RA 35/88 = BSGE 66, 288 unter Hinweis auf Kommentarstellen – S 290 – und bei der verfassungsmäßigen Prüfung mit der Begründung, daß es im Falle einer Befreiung von der Versicherungspflicht wegen Beschäftigung beim Ehegatten aufgrund Fehlens eines Bedürfnisses nach eigenständiger sozialer Absicherung nicht des Schutzes durch die gesetzliche Rentenversicherung bedürfe – S 292).

Einer näheren Darlegung des soeben vom Senat vertretenen Standpunktes bedarf es hier indessen nicht. Denn gleichwohl läßt sich daraus, was den Streitgegenstand des anhängigen Verfahrens anlangt, nichts für die Klägerin herleiten. Zum einen entzieht sich richterlicher Beurteilung, ob es optimal gewesen ist, in Abs 4 Buchst a aaO allein auf die Zugehörigkeit zu dem Personenkreis eines anderen Versicherungs- oder Versorgungssystems abzustellen, nicht dagegen darauf, ob die betreffende Kindererziehungszeit auch in dem anderen System Berücksichtigung gefunden hat. Zum anderen steht dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch, wie noch auszuführen sein wird, der Befreiungsbeschluß der Beklagten vom 27. November 1962 und der lediglich mit (aus damaliger Sicht) Wirkung für die Zukunft ausgestattete Beschluß über den Widerruf der Befreiung vom 22. November 1968 entgegen.

Dem kann nicht mit einer vom LSG ins Auge gefaßten Gleichstellung des Widerrufs der Befreiung von der Versicherungspflicht mit dem (nachträglichen) Verzicht auf die Befreiung begegnet werden. Das ergibt sich aus folgendem:

Zunächst könnte der Klägerin eine solche Gleichstellung überhaupt nur weiterhelfen, wenn auch der auf die Kindererziehungszeit folgende Verzicht auf die Befreiung von der Versicherungspflicht die Anrechnung der Kindererziehungszeiten bewirkte. Für die Bejahung dieser Frage, die der 1. Senat des BSG in dem erwähnten Urteil vom 19. April 1990– 1 RA 35/80 – (BSGE 66, 288, 290) ausdrücklich offen gelassen hat, scheint zu sprechen, daß ein vorangegangener Verzicht Abs 4 des § 28a AVG schon tatbestandsmäßig ausschließt, so daß die dort geregelte Ausnahme von der Ausnahme „es sei denn, daß … verzichtet worden ist”) ins Leere gehen müßte. Andererseits gibt es Vorschriften, die sich mit der Erklärung befassen, daß die „Befreiung von der Versicherungspflicht enden soll” (Art 2 § 1 Abs 4, § 1b des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes – AnVNG), während § 5a Abs 4 AnVNG ausdrücklich vom Verzicht auf die Befreiung spricht, und zwar mit einer Rückwirkung bis zu drei Monaten.

Indessen kann auch im vorliegenden Fall offen bleiben, ob der „nachträgliche” Verzicht ausreicht. Denn die vom Berufungsgericht vorgenommene Gleichstellung des Widerrufs und des Verzichts bzw Ergänzung des § 28a Abs 4 Buchst a AVG um den Widerruf der Befreiung verbietet sich schon aus anderen Gründen. § 7 Abs 2 AVG, der die sogenannten Kammerberufe betrifft und maßgebend für die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht war, wurde durch Abs 5 aaO ergänzt. Danach widerrief die BfA die Befreiung, wenn deren Voraussetzungen weggefallen waren. Diese Vorschrift ist erst mit Wirkung vom 1. Januar 1981 durch Art II §§ 6 Nr 1, 40 Abs 1 Satz 1 SGB X gestrichen worden, während § 7 Abs 6 AVG, der den Verzicht auf die Befreiung – dies allerdings nur für den Personenkreis des § 7 Abs 1 AVG, also die Versorgungsempfänger – vorsah, bereits mit Wirkung vom 11. Juni 1976 durch § 15 Nr 9 des 19. RAG ersatzlos weggefallen war. Bei dieser Sachlage kann aber dem Gesetzgeber des HEZG schwerlich entgangen sein, daß in § 7 AVG aF, der wohl wichtigsten Befreiungsvorschrift, nicht nur der Verzicht, sondern auch der Widerruf geregelt war. Hinzu kommt, daß an die Stelle der Widerrufsvorschrift des § 7 Abs 5 AVG aF mit Wirkung vom 1. Januar 1981 die Aufhebung nach § 48 SGB X getreten ist. Was früher Widerrufsgrund war, rechtfertigt jetzt die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung wegen wesentlicher Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nach § 48 Abs 1 SGB X, der auch gilt, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist (Art II § 40 Abs 2 Satz 2 SGB X). Dies bedeutet aber, daß – träfe die Rechtsansicht des LSG zu – in sich folgerichtig dem Verzicht auf die Befreiung von der Versicherungspflicht neben dem Widerruf der Befreiung auch die Aufhebung des Befreiungsbescheides nach § 48 SGB X gleichgestellt werden müßte, zumal diese Vorschrift schon einige Jahre vor dem Inkrafttreten des HEZG bestand. Dies würde aber den Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung sprengen.

Im übrigen widerstreitet auch der Umstand, daß der Widerruf der Befreiung durch den Versicherungsträger einerseits und der Verzicht auf Befreiung von der Versicherungspflicht durch den Bürger auf der anderen Seite unterschiedliche Rechtsinstitute mit voneinander abweichenden Voraussetzungen und Wirkungen sind, der Auffassung des LSG. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – als es im Beschluß vom 3. Juli 1974 – 1 BvL 18/73 (SozR 2400 § 7 Nr 1) feststellte, § 7 Abs 6 AVG aF sei mit Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) insoweit unvereinbar, als danach die gemäß § 7 Abs 1 AVG, nicht aber die nach Abs 2 aaO von der Versicherungspflicht befreiten Personen auf die Befreiung verzichten könnten – eine verfassungskonforme Auslegung nicht nur aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Gesetzes verneint, sondern auch mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG, „die hinsichtlich der Annahme von nicht ausdrücklich vorgeschriebenen Verzichtsmöglichkeiten sehr zurückhaltend ist” (aaO S 4 mwN). Dies muß entsprechend und erst recht für die Gleichstellung des Widerrufs(Bescheids) mit dem Verzicht gelten.

Nun hat die Klägerin in der Revision vor allem ins Feld geführt, mit der (jeweiligen) Beendigung der Mitgliedschaft bei der Bayerischen Ärzteversorgung sei ein Wegfallgrund der Befreiung eingetreten, der diese ohne weiteres gegenstandslos werden lasse; in § 28a Abs 4 Buchst a AVG sei nur die rechtmäßige Befreiung gemeint. Indessen ist diese Ansicht dogmatisch nicht haltbar. Das ergibt sich schon daraus, daß gerade auch bei Befreiungen nach § 7 Abs 2 AVG, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen waren, gemäß Abs 5 aaO aF der Widerruf vorgesehen war, und daß an die Stelle des Widerrufs am 1. Januar 1981 (nahtlos) – wie oben dargelegt – die Aufhebung im Sinn von § 48 SGB X getreten ist. Anders verhält es sich lediglich hinsichtlich der Befreiungsmöglichkeit des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber nach § 8 AVG. Dort ist aber Regelungsobjekt das konkrete Beschäftigungsverhältnis (Dienstverhältnis), und es existierte auch früher keine dem § 7 Abs 5 AVG aF entsprechende Widerrufsvorschrift. Aufgrund der dort anderen Konzeption hat daher das BSG bei Wegfall des Regelungsobjektes (Beendigung des Dienstverhältnisses) die Unwirksamkeit der Befreiung – ohne ausdrückliche Aufhebung des Befreiungsbescheides – angenommen (BSG SozR 2200 § 1231 Nr 2).

Primäres Ziel der Klägerin müßte daher sein – worauf der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 30. April 1991 ausdrücklich hingewiesen hat –, daß der auch nach Auffassung des LSG bestandskräftige Widerrufsbeschluß der Beklagten vom 22. November 1968 teilweise zurückgenommen wird. Das kann aber nicht im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits geschehen. Es müßte erst ein entsprechender Antrag bei der Beklagten gestellt werden. Als verwaltungsverfahrensrechtliche Anspruchsgrundlage böte sich § 44 Abs 2 SGB X an. Voraussetzung ist allerdings, daß der Widerrufsbeschluß ein „nicht begünstigender Verwaltungsakt” ist; er braucht aber nicht belastend zu sein, sondern es genügt, wenn er „neutral” ist. In diesem Zusammenhang dürfte zu beachten sein, daß § 28a AVG zumindest eine unechte Rückwirkung entfaltet. Wie der vorliegende Fall zeigt, gewinnen jetzt Umstände Bedeutung, denen damals keine Beachtung geschenkt wurde. Ebenso verhält es sich hinsichtlich der Rechtswidrigkeit; der Widerruf der Befreiung lediglich für die Zukunft berührte die Klägerin nicht, und es bestand andererseits für die Beklagte keine evidente Notwendigkeit, den Wirksamkeitszeitpunkt vorzuverlegen. Immerhin ging aber auch damals bereits die Beklagte davon aus, daß sich die Wirksamkeit des Widerrufs auf den Zeitpunkt des Endes der Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung beziehe. Anders kann die nachdrückliche Aufforderung, das Ausscheiden aus der Mitgliedschaft unverzüglich anzuzeigen sowie der Hinweis, daß ein Unterlassen der Anzeige zu Beitragsnachforderungen führen könne, nicht verstanden werden. Diese schon damals der Klägerin gegenüber geäußerte Ansicht dürfte im Rahmen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X beachtlich sein, wonach der Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen des Satzes 1 auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. In Betracht kommt auch die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB 10 (Änderung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Verhältnisse bei Änderung zugunsten des Betroffenen).

Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, die Verfassungsmäßigkeit des § 28a AVG in Frage zu stellen. Die Beteiligten haben in dieser Richtung nichts vorgetragen. Es kann daher auf die Ausführungen des 1. Senats in dem bereits erwähnten Urteil vom 19. April 1990 verwiesen werden, die einen etwas anderen, aber vergleichbaren Sachverhalt betreffen. Deshalb bedarf es auch keiner Erörterung, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, daß hier nur die tatbestandsmäßige Vormerkung im Streit steht. Im übrigen sind bisher, wie den vorangegangenen Ausführungen zu entnehmen ist, noch nicht alle einfach – rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Nach alledem mußte die Revision der Beklagten Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173798

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