Entscheidungsstichwort (Thema)
Blindheitshilfe. Rechtsweg. Revisibilität länderrechtlicher Vorschriften. faktische Blindheit. Unmöglichkeit der Feststellung der Sehschärfe. Opticusatrophie. sonstige Störungen des Sehvermögens. Ursachen. cerebrale Schäden. visuelle Agnosie. Mangel des Erkennen-Könnens. fehlendes Benennen-Können. unkoordinierte Augenbewegungen
Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf Blindheitshilfe besteht auch dann, wenn Störungen des Sehvermögens, zB infolge einer Opticusschädigung, mit cerebralen visuellen Verarbeitungsstörungen in einer Weise zusammenwirken, daß die Störung des Sehvermögens in ihrem Schweregrad insgesamt einer Sehschärfenbeeinträchtigung iS von § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Saarländischen Gesetzes Nr. 761 gleichzuachten ist.
Normenkette
SGG § 162; Saarländisches Gesetz Nr. 761 (ABl SL 1982 391) § 1 Abs. 3; BSHG § 24 Abs. 1 S. 2, § 76 Abs. 2a Nr. 3, § 67
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Urteil vom 16.07.1992; Aktenzeichen L 2 V 40/91) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 08.10.1991; Aktenzeichen S 8 v 104/91) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 16. Juli 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem saarländischen Gesetz Nr. 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe idF vom 20. April 1982 (Amtsbl des Saarl 1982, 391) zu gewähren hat.
Die am 14. November 1982 geborene Klägerin erlitt am dritten Lebenstag aus unbekannter Ursache eine Hirnblutung, aus der eine körperlich-geistige Mehrfachbehinderung zurückgeblieben ist. Sie leidet an einer Microcephalie, einer gemischten (spastisch-athetotischen) Tetraparese und, was fraglich ist, an einem Anfallsleiden. Fraglich ist weiterhin, in welchem Maße die Klägerin an einer Opticusschädigung leidet. Jedenfalls fehlt es wegen der schweren Hirnschädigung an einer genügenden cerebralen visuellen Informationsverarbeitung.
Den am 28. Juni 1989 beim Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung einer Blindheitshilfe lehnte dieser mit der Begründung ab, daß bei der Klägerin eine Bestimmung der Sehschärfe nicht möglich sei; es sei nicht nachgewiesen, daß eine Sehschärfe auf dem besseren Auge von nicht mehr als 1/50 bzw eine nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliege, daß sie einer Einschränkung der Sehschärfe auf 1/50 gleichzuachten sei. Das bestehende hochgradig reduzierte Sehvermögen auf dem Boden einer ausgeprägten Opticusatrophie und die Einschränkung des Sehvermögens durch eine ungenügende cerebrale visuelle Informationsverarbeitung (visuelle Agnosie) stünden einer Blindheit nicht gleich (Bescheid vom 22. Januar 1991; Widerspruchsbescheid vom 9. April 1991).
Der hiergegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) für das Saarland stattgegeben (Urteil vom 8. Oktober 1991). Die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ für das Saarland vom 16. Juli 1992). Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe Blindheitshilfe zu, weil sie nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 als blind zu gelten habe. Bei ihr liege eine nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vor, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes Nr. 761 gleichzuachten sei. Bei der Beurteilung der umstrittenen Frage, ob bei „visueller Agnosie” eine solche Gleichstellung geboten sei, müsse beachtet werden, daß es sich dabei nicht um ein typisches Krankheitsbild, sondern um einen Sammelbegriff handele, der eine Gleichstellung jedenfalls dann zulasse, wenn die visuelle Agnosie eine körperlich greifbare – nicht etwa seelische – Ursache habe und wenn das „Erkennen”, nicht das „Benennen” eines Gegenstandes eingeschränkt bzw ausgeschlossen sei. Zwar stelle das Gesetz Nr. 761 in § 1 Abs. 3 Nr. 1 – in Übereinstimmung mit § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG)- nicht mehr allein auf den Funktionsausfall ab, sondern darauf, daß der Funktionsausfall gerade wegen fehlender Sehschärfe (nicht aus anderen Gründen) eingetreten sei. Das erkläre sich aus der Entstehungsgeschichte des § 24 BSHG. dessen Abs. 2 früher gelautet habe:
„Als blind im Sinne des Gesetzes gilt auch, wer eine so geringe Sehschärfe hat, daß er sich in einer ihm nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden kann”.
Diese an der Orientierungsblindheit ausgerichtete Gleichstellung sei zugunsten einer engeren Definition, die auf bestimmte, nachprüfbare Werte abstelle, aufgegeben worden. Dementsprechend sei die Rechtsprechung darum bemüht gewesen, nachprüfbare, morphologisch faßbare Ursachen für die eingeschränkte Sehfunktion zu finden, um sie vor allem von seelischen Ursachen abzugrenzen. Vor diesem Hintergrund sei auch das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 16. Februar 1990 zu sehen, wonach Blindheit iS des BSHG verneint worden sei bei verschiedenen Arten von cerebralen Verarbeitungsstörungen, bei denen das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden könne, obwohl die Sehfunktion selbst vorhanden sei. Diese Auffassung, die alle Fälle der visuellen Agnosie – ungeachtet ihrer Ursachen und ihrer Nachprüfbarkeit – nicht als Blindheit ansehe, könne jedoch nicht überzeugen. Mit Sinn und Zweck des Gesetzes, das einen Nachteilsausgleich schaffen solle, wäre es unvereinbar, wenn etwa nur Schäden, die das Sehorgan beträfen, zu einer Gleichstellung mit Blinden führen könnten, nicht aber sonstige hirnorganische Schäden, die das „Erkennen” verhinderten. Wenn es für die Gleichstellung mit einem Blinden maßgeblich sei, daß nachprüfbare, auf einem morphologischen Substrat beruhende Schäden die Sehfunktion beeinträchtigten, könnten jedenfalls Fälle, in denen körperliche Schäden zwar nicht unmittelbar das Sehorgan beträfen, aber das „Erkennen” störten oder verhinderten, vom Wirkungsbereich des § 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 nicht ausgeschlossen werden. Im vorliegenden Fall sei die ungenügende cerebrale visuelle Informationsverarbeitung auf eine Microcephalie der Klägerin zurückzuführen und beruhe also auf einem morphologischen Substrat. Diese Störung führe dazu, daß die Klägerin Objekte nicht ausreichend wahrnehmen, also nicht „erkennen” könne, wofür vor allem auch spreche, daß die Augenbewegungen der Klägerin unkoordiniert und ziellos seien und daß der Klägerin eine Blickfixation bei Vorhalten von Objekten oder einer Lichtquelle nicht möglich sei. Die unausgereiften cerebralen Strukturen der Klägerin stellten – anders als bei rein psychogenen Ursachen einer visuellen Agnosie – eine körperliche Ursache der gutachtlich faßbaren Störung des Sehvermögens dar, wobei unzweifelhaft ein solcher Schweregrad erreicht werde, daß dieser der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes Nr. 761 gleichzuachten sei.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 1 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 761. Die dort enthaltenen Gleichstellungstatbestände stellten ganz eindeutig auf die fehlende Sehschärfe ab, die nicht mehr als 1/50 auf dem besseren Auge betragen dürfe, sowie auf die erhebliche Gesichtsfeldeinschränkung oder auf eine Kombination von beiden mit gleichem Schweregrad. Diese Konkretisierung auf bestimmte und insbesondere nachprüfbare Werte lasse keinen Raum für die vom LSG vertretene weitergehende Auslegung. Bei der Klägerin beruhe das reduzierte Sehvermögen in erster Linie auf einer cerebralen Schädigung, die eine – für die Gleichstellung zwingend erforderliche – Sehschärfenbestimmung jedoch nicht zulasse. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast könnten deshalb die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Nrn 1 und 2 des Gesetzes Nr. 761 nicht bejaht werden. Auch wenn bei der Klägerin ein morphologisches Korrelat – in Abgrenzung zu seelischen Ursachen – vorhanden sei, sei gleichwohl nicht nachgewiesen, daß die Einschränkung ihrer Sehschärfe dem im Gesetz geforderten Schweregrad entspreche. Eine Umkehr der Beweislast sei ebensowenig haltbar wie die Annahme, daß eine Beeinträchtigung der Sehschärfe im erforderlichen Ausmaß vorliege, obwohl diese nicht nachprüfbar sei.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Landessozialgerichts für das Saarland vom 16. Juli 1992 und des Sozialgerichts für das Saarland vom 8. Oktober 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, daß sie nach der Beurteilung des Privatdozenten Dr. med. T. und Dr. D. vom 8. Januar 1990 auch wegen des zweifellos festgestellten Gewebeschwundes im Sehnervenbereich als blind iS des Blindheitshilfegesetzes anzusehen sei. Wenn dieser Sachverständige ihre Blindheit auch mit ungenügender cerebraler visueller Informationsverarbeitung erklärt habe, so schließe dies nicht aus, daß ihr reduziertes Sehvermögen weitgehend schon auf dem Gewebeschwund im Sehnervenbereich beruhe und durch die Störung der Informationsverarbeitung in einem Blindheit begründenden Ausmaß verstärkt werde.
Die Beigeladene, die keinen Antrag gestellt hat, führt aus, die Sektion „Versorgungsmedizin” des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA habe im Hinblick auf den Blindheitsbegriff im BSHG nach Anhörung von klinisch und wissenschaftlich erfahrenen Sachverständigen festgestellt, daß bei einer visuellen Agnosie eine grundsätzlich andere Störung als bei einer Blindheit vorliege. Die Feststellung von Blindheit setze voraus, daß die Störung des Sehvermögens mit augenärztlichen Untersuchungsmethoden aufgrund des morphologischen Befundes erklärbar sei. Diese Voraussetzung sei bei einer visuellen Agnosie nicht erfüllt. Bei dieser Krankheit, die den hirnorganisch bedingten Erkenntnisstörungen zugerechnet werde, könne das Wahrgenommene nicht mit dem optischen Erinnerungsvermögen identifiziert werden; der Kranke sehe jedoch und könne zB Hindernissen ausweichen oder Gegenstände gezielt anfassen; er kenne nur deren Bedeutung nicht. Eine vergleichbare Situation könne auch bei geistig Behinderten – ohne Einschränkung des Sehvermögens – vorliegen; es wäre aber verfehlt, geistig Behinderte deshalb als blind anzusehen. Im übrigen unterscheide auch die Weltgesundheitsorganisation die zentralen Störungen der Sehfunktion von „Blindheit” als Störung des Sehorgans. Im vorliegenden Fall sei zu vermuten, daß bei der Klägerin die Sehfunktion durch die beiderseitige Opticusschädigung aufs schwerste beeinträchtigt sei.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist in dem Sinne begründet, daß die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Die bisherigen Feststellungen des LSG lassen eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Klägerin Blindheitshilfe nach § 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 zusteht, nicht zu.
Der Senat ist nicht bereits wegen Irrevisibilität dieser Regelung an der Prüfung gehindert, ob sie vom LSG richtig angewendet worden ist (§ 162 SGG). Denn revisibel sind landesrechtliche Vorschriften auch dann, wenn sich ihr Geltungsbereich über den Bezirk eines LSG hinaus erstreckt. Das ist auch dann der Fall, wenn – wie hier – inhaltlich gleiche Vorschriften in Bezirken verschiedener LSGe gelten und wenn diese Übereinstimmung nicht zufällig, sondern bewußt und gewollt ist (BSGE 13, 191; 38, 29; Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, § 162 Rz 5). Insoweit hat das LSG zutreffend ausgeführt, daß die hier anzuwendende Gleichstellungsregelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 wortgleich den Regelungen anderer Bundesländer entspricht (zB in Nordrhein-Westfalen dem § 1 Abs. 1 Satz 2 des Landesblindengeldgesetzes vom 16. Juni 1970, zuletzt geändert am 18. Mai 1982, GVNW 248; in Bayern dem Art. 1 Abs. 3 des Gesetzes über die Gewährung von Pflegegeld an Zivilblinde vom 25. Januar 1989, GVBl 21) und daß die genannte saarländische Vorschrift ihre jetzige Fassung ausdrücklich im Blick auf die Regelungen des BSHG erhalten hat. Denn in der amtlichen Begründung des Saarländischen Landtages vom 28. Januar 1982 (Drucks 8/812) heißt es ausdrücklich, daß die vorgeschlagene Neufassung des § 1 der Anpassung an die in §§ 24 und 67 BSHG enthaltenen Bestimmungen dient und daß damit ua der Blindheitsbegriff an diese Vorschriften angeglichen wird.
Gem § 1 Abs. 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 idF vom 20. April 1982 erhalten Blinde, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Saarland haben und das erste Lebensjahr vollendet haben, auf Antrag eine Blindheitshilfe. Gem § 1 Abs. 3 gelten als Blinde iS dieses Gesetzes auch Personen,
- deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
- bei denen durch Nr. 1 nicht erfaßte, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind; hierbei ist als nicht nur vorübergehend ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten anzusehen.
Im vorliegenden Fall geht es nur um den Tatbestand der faktischen Blindheit in § 1 Abs. 3 Nr. 2 des saarländischen Gesetzes Nr. 761. Denn die Klägerin ist nicht „blind” iS des Grundtatbestandes, weil sie ihr Augenlicht nicht vollständig verloren hat. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG, die auf den Gutachten der Sachverständigen Dr. med. T. und Dr. D. vom 8. Januar 1990 beruhen, ist die Klägerin noch zu Lichtscheinwahrnehmungen in der Lage. Darüber besteht kein Streit. Sie ist auch nicht faktisch blind iS des Abs. 3 Nr. 1, schon weil eine Bestimmung ihrer Sehschärfe nicht möglich ist und damit nicht festgestellt werden kann, ob die Sehschärfe auf dem besseren Auge weniger oder mehr als 1/50 beträgt. Die Feststellung, daß das Sehvermögen durch die beiderseitige ausgeprägte Opticusatrophie (Gewebeschwund im Sehnervenbereich) hochgradig reduziert ist, reicht insoweit nicht aus; denn nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast muß derjenige, der einen Anspruch geltend macht, sich die Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen zurechnen lassen (BSGE 6, 70, 72 ff; 30, 278, 281; 46, 193, 198).
Gleichwohl kann die Klägerin – wovon das LSG ausgegangen ist – als blind iS von §. 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 gelten. Diese Regelung enthält abweichend von Nr. 1 keinen festen Maßstab für die Beeinträchtigung des Sehvermögens und setzt insbesondere nicht zwingend voraus, daß bei dem Betroffenen eine genau bestimmbare (meßbare) Einschränkung der Sehschärfe vorliegt. Entgegen der Meinung des Beklagten kann nämlich Blindheit iS dieses Tatbestandes nicht nur dann anerkannt werden, wenn die Beeinträchtigung des Sehvermögens ausschließlich oder praktisch ausschließlich auf einer Minderung der Sehschärfe oder Ausfällen des Gesichtsfeldes beruht. Vielmehr können auch sonstige Störungen des Sehvermögens zum Vorliegen der Voraussetzungen der Nr. 2 beitragen. Dazu gehören zB auch Fälle, in denen eine Beeinträchtigung der Sehschärfe besteht, die das in Nr. 1 genannte Ausmaß nicht erreicht oder deren Ausmaß nicht meßbar ist – sie sind durch Nr. 1 nicht erfaßt – und in denen außerdem eine oder mehrere sonstige Störungen des Sehvermögens vorliegen. Sind in einem solchen Fall die Beeinträchtigungen zusammen so schwerwiegend, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind, sind die Voraussetzungen der Nr. 2 erfüllt (so auch Gottschick/Giese, Komm zum BSHG, 9. Aufl, 1985, § 24 Rz 5.2). Es kommt also nicht darauf an, ob die vorliegenden Störungen des Sehvermögens der Art nach der Beeinträchtigung der Sehschärfe iS der Nr. 1 gleichzuachten sind; maßgeblich ist vielmehr, ob sie dem Schweregrad dieser Sehschärfenbeeinträchtigung entsprechen.
Diese Auslegung ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut und aus dem Sinn der Regelung, sondern wird insbesondere durch die Entstehungsgeschichte des § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG idF des 3. Änderungsgesetzes vom 25. März 1974 (BGBl I 777) bestätigt, dem § 1 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 761 ausdrücklich angeglichen worden ist. Die dort enthaltene Definition der praktisch Blinden war zuvor bereits mehrfach geändert worden, weil deren Abgrenzung von den hochgradig Sehschwachen problematisch war. In der ursprünglichen Fassung galt als blind, wer eine so geringe Sehschärfe hatte, daß er sich in einer ihm nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden konnte (§ 24 Abs. 3 BSHG idF vom 30. Juni 1961, BGBl I 815; Abs. 2 idF des Gesetzes vom 31. August 1965, BGBl I 1027). Diese als „Orientierungsblindheit” bezeichnete Definition ist durch das Zweite Gesetz zur Änderung des BSHG vom 14. August 1969 (BGBl I 1153) aufgegeben und mit Wirkung vom 1. Oktober 1969 in § 24 Abs. 1 Satz 2 wie folgt neu gefaßt worden:
„Satz 1 findet auch Anwendung auf Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge
- nicht mehr als 1/50 beträgt oder
- nicht mehr als 1/35 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf 30 Grad oder weiter eingeschränkt ist, oder
- nicht mehr als 1/20 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf 15 Grad oder weiter eingeschränkt ist.”
Mit dieser Abkehr vom Begriff der Orientierungsblindheit sollten nunmehr durch Angabe bestimmter Werte Schwierigkeiten vermieden werden, die sich bei der Anwendung der bisherigen, wenig konkreten und daher nur schwer gleichmäßig anwendbaren Fassung ergeben hatten; vor allem waren die weite, über den ursprünglich geplanten Rahmen hinausgehende Auslegung und die Gefahr von Mißbräuchen beklagt worden (vgl auch die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks 5/3495, S 11).
Diese – enge – Fassung wurde 1974 erneut geändert:
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des BSHG vom 25. März 1974 (BGBl I 777) erhielt § 24 in Abs. 1 Satz 2 mit Wirkung vom 1. April 1974 die hier maßgebliche (bis 27. Juni 1993 geltende) Fassung:
„Satz 1 findet auch Anwendung auf Personen,
- deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
- bei denen durch Nr. 1 nicht erfaßte, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.”
Diese Neuregelung wurde damit begründet, daß die im Jahre 1969 getroffene Regelung einer strikten Abstufung allein nach den Graden der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes als unzulänglich erscheine: Es seien Personen von der Blindenhilfe ausgeschlossen worden, deren Sehbehinderung auf anderen Ursachen oder auf anderen Kombinationen von Ursachen beruhe, die im Ergebnis aber ebenso schwer betroffen seien wie die nach der bisherigen Regelung Begünstigten (vgl Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks 7/308, S 11). Diese Änderung erhielt eine nachträgliche Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das in seinem Beschluß vom 7. Mai 1974 den § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG idF von 1969 als mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) insoweit als unvereinbar erklärte, als Personen, deren Sehvermögen trotz einer besseren Sehschärfe als 1/20 aufgrund anderer Ursachen (infolge extremer Einschränkung des Gesichtsfeldes) ebenso stark beeinträchtigt war wie das der begünstigten Personen, diesen nicht gleichgestellt wurden (BVerfGE 37, 154 f). Dort heißt es zu der inzwischen in Kraft getretenen Änderung des § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG durch das Gesetz vom 25. März 1974, daß der Bundesgesetzgeber damit inzwischen selbst eine Regelung getroffen habe, „um Fälle von gleichem Schweregrad berücksichtigen zu können” (S 165). Diese Rechtslage hat sich seitdem nicht geändert. Zwar ist § 24 BSHG durch Art. 7 Nr. 9 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungspakts vom 23. Juni 1993 (BGBl I 944) mit Wirkung vom 27. Juni 1993 gestrichen worden; jedoch ist nunmehr mit der Einfügung des Abs. 2a Nr. 3 in § 76 BSHG eine praktisch gleichlautende Regelung getroffen.
Maßgebend für den Begriff der faktischen Blindheit im BSHG und dementsprechend auch im Gesetz Nr. 761 ist danach – was der Beklagte verkennt – nicht mehr nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes; zu berücksichtigen sind vielmehr alle Störungen des Sehvermögens, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleichzuachten sind (Schellhorn/Jirasek/Seipp, Komm zum BSHG, 14. Aufl 1993, § 24 Rz 11). Die Beeinträchtigung der Sehkraft bzw des Sehvermögens wird nicht allein durch die Sehschärfe bestimmt (vgl BVerwGE 28, 213, 214 f). Es kommt also für die Anwendung der genannten Vorschriften lediglich darauf an, ob die vorhandenen Störungen des Sehvermögens bzw der Sehkraft insgesamt in ihrem Schweregrad – und nicht ihrer Art nach – der Sehschärfenbeeinträchtigung iS des § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes Nr. 761 gleichzuachten sind. Hingegen ist es schon nach dem Wortlaut der Bestimmung nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind – entgegen der Ansicht des Beklagten – zu berücksichtigen. Allerdings ist – worauf auch das LSG zu Recht abgestellt hat – in Abgrenzung vor allem zu Störungen, die dem Bereich der seelisch/geistigen Behinderung zuzuordnen sind, zu differenzieren, ob das Seh„vermögen”, dh das Sehen- bzw Erkennen-Können beeinträchtigt ist oder ob – bei vorhandener Sehfunktion – eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, in der also die Störung nicht das „Erkennen”, sondern nur das „Benennen” betrifft (vgl Möllhoff, Zur gutachtlichen Beurteilung von „Seelenblindheit”, MEDSACH 1990, 127 f, 128). Soweit derartige zentrale Verarbeitungsstörungen für visuelle Eindrücke, deren verschiedene Ausprägungen unter dem Oberbegriff der „visuellen Agnosie” subsumiert werden, nicht das „Sehen- bzw Erkennen-Können” stören, sondern nur zu (gnostischen) Ausfällen des „Benennens” führen, sind sie als solche der faktischen Blindheit iS von § 1 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 761 nicht zuzuordnen. Insoweit folgt der erkennende Senat dem Rundschreiben des BMA vom 16. Februar 1990, wonach die Sektion „Versorgungsmedizin” des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA übereinstimmend die Auffassung vertreten hat, daß – abgesehen von der Rindenblindheit, bei der der Betroffene nicht sehen kann – die visuelle Agnosie nicht als Blindheit iS von § 67 und § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG angesehen werden könne. Das schließt jedoch nicht aus, daß bei einem kombinierten Krankheitsbild die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 gleichwohl erfüllt sein können, wenn der Betroffene infolge des Zusammenwirkens der verschiedenen Störungen praktisch nicht sehen kann, wenn also zB Störungen des Sehvermögens (etwa durch eine Opticusschädigung) mit visuellen Verarbeitungsstörungen (als Teilursache) in einer Weise zusammenwirken, daß die Störung des Sehvermögens insgesamt in ihrem Schweregrad einer Sehschärfenbeeinträchtigung iS der Nr. 1 gleichzuachten ist.
Ein solcher Fall könnte hier vorliegen. Bei der Klägerin handelt es sich nicht nur um eine ungenügende cerebrale visuelle Informationsverarbeitung (visuelle Agnosie). Der Beklagte ist vielmehr selbst aufgrund des eingeholten augenfachärztlichen Gutachtens vom 8. Januar 1990 davon ausgegangen, daß bei der Klägerin neben der visuellen Agnosie eine, wenn auch hinsichtlich der Sehschärfe nicht genau bestimmbare, jedoch hochgradige Reduktion des Sehvermögens aufgrund einer ausgeprägten Opticusatrophie vorliegt. Dabei könnte es sich um eine Störung des Sehvermögens – im Sinne einer Schädigung der tiefen Sehbahn – handeln, bei der zentrale Verarbeitungsstörungen noch keine Rolle spielen. Insoweit fehlt es aber an näheren Feststellungen zu der Frage, ob und inwieweit beide Leiden – jeweils isoliert oder ggf in ihrem Zusammenwirken – das Sehvermögen beeinträchtigen, insbesondere ob sie das Sehen- bzw „Erkennen-Können” ausschließen oder doch so weitgehend beeinträchtigen, daß sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe von 1/50 oder weniger gleichzuachten sind. Vor allem ist unklar geblieben, ob es sich bei der bei der Klägerin diagnostizierten visuellen Agnosie um eine (isoliert zu beurteilende) Krankheit handelt, die – im Sinne des Rundschreibens des BMA vom 16. Februar 1990 – nicht das „Erkennen-Können”, sondern nur das „Benennen-Können” beeinträchtigt, oder ob sie – ggf im Zusammenwirken mit der Opticusatrophie – das Sehvermögen in einer Weise beeinträchtigt, daß es in seinem Schweregrad der faktischen Blindheit iS des § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes Nr. 761 gleichzuachten ist. Führen nämlich beide Leiden in ihrem Zusammenwirken dazu, daß die Klägerin Objekte nicht ausreichend wahrnehmen, also nicht „sehen” bzw „erkennen” kann, so kann faktische Blindheit iS des § 1 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes Nr. 761 vorliegen, falls die Störungen insgesamt die fachärztliche Wertung zulassen, daß sie einer Beeinträchtigung der Sehschärfe von 1/50 oder weniger gleichzuachten sind. In diesem Zusammenhang wird auch (erneut) zu prüfen sein, welche Bedeutung es für den Schweregrad der Sehstörung hat, daß der Klägerin nach den Feststellungen des LSG eine Blickfixation bei Vorhalten von Objekten oder einer Lichtquelle nicht möglich ist, weil ihre Augenbewegungen unkoordiniert und ziellos sind.
Das LSG wird daher zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts eine erneute augenfachärztliche Begutachtung zu veranlassen und über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.
Fundstellen