Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit bindender Festsetzungen durch Heimarbeitsausschüsse: „Rechtsregel” – Rechtsetzung im Bereich von GG Art 9 Abs 3
Leitsatz (amtlich)
Die von den Heimarbeitsausschüssen getroffenen bindenden Festsetzungen für Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen sind als Rechtsregeln der gleichen Art wie die normativen Bestimmungen eines Tarifvertrages anzusehen. Sie gewinnen diese ihre Qualität als Rechtsregeln aus der staatlichen Anerkennung, die im Art 9 Abs 3 GG wurzelt.
Orientierungssatz
1. HAG § 19 (bindende Festsetzungen der Heimarbeitsausschüsse) ist mit dem GG vereinbar.
2. Der Staat hat kraft der Grundentscheidung des GG Art 9 Abs 3 seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung, soweit es sich um den Inhalt von Arbeitsverträgen handelt, zugunsten der Tarifparteien weit zurückgenommen und hat diesen die Bestimmung über alle regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages zu überlassen. Neben dem Gesichtspunkt der Sachnähe der unmittelbar Betroffenen gewinnt dieses Zurücktreten des Staates seinen Sinn aus dem Zusammenhang mit dem Prinzip der Privatautonomie.
Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3; HAG § 1 Abs. 4; GG Art. 80 Abs. 1 S. 1; HAG § 4 Abs. 1-2, § 5 Abs. 1, §§ 17, 19 Abs. 2 Sätze 1, 4; TVG §§ 5, 4 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
§ 19 des Heimarbeitsgesetzes vom 14. März 1951 (Bundesgesetzbl. I S. 191) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Gründe
A.
In dem Ausgangsverfahren geht es um die Verfassungsmäßigkeit und Gültigkeit der bindenden Festsetzungen von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungen der Heimarbeitsausschüsse.
I.
Dem Schutze der in Heimarbeit Beschäftigten dient das Heimarbeitsgesetz – HAG – vom 14. März 1951 (BGBl. I S. 191). Ergänzend hierzu ist die Erste Rechtsverordnung zur Durchführung des Heimarbeitsgesetzes vom 9. August 1951 (BGBl. I S. 511) ergangen.
In Heimarbeit Beschäftigte sind nach § 1 Abs. 1 HAG die Heimarbeiter und die Hausgewerbetreibenden. Ihnen können gemäß § 1 Abs. 2 HAG bestimmte Personen gleichgestellt werden, wenn das wegen ihrer Schutzbedürftigkeit gerechtfertigt erscheint.
Zuständige Arbeitsbehörde im Sinne des Heimarbeitsgesetzes ist nach § 3 Abs. 1 HAG grundsätzlich die Oberste Arbeitsbehörde des Landes. Für gesetzlich bezeichnete Angelegenheiten, die nach Umfang, Auswirkung oder Bedeutung den Zuständigkeitsbereich mehrerer Länder umfassen, wird die Zuständigkeit durch die Obersten Arbeitsbehörden der beteiligten Länder nach näherer Vereinbarung gemeinsam und im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Arbeit wahrgenommen. Betrifft eine Angelegenheit nach Umfang, Auswirkung oder Bedeutung das gesamte Bundesgebiet oder kommt eine Vereinbarung der erwähnten Art nicht zustande, so ist der Bundesminister für Arbeit zuständig.
Die zuständige Arbeitsbehörde errichtet gemäß § 4 Abs. 1 HAG Heimarbeitsausschüsse für die Gewerbezweige und Beschäftigungsarten, in denen Heimarbeit in nennenswertem Umfange geleistet wird.
Ein Heimarbeitsausschuß besteht nach § 4 Abs. 2 HAG aus a) drei Beisitzern aus Kreisen der beteiligten Auftraggeber, b) drei Beisitzern aus Kreisen der in Heimarbeit Beschäftigten, c) einem von der zuständigen Arbeitsbehörde bestimmten Vorsitzenden, der nicht Auftraggeber, Zwischenmeister, in Heimarbeit Beschäftigter oder Gleichgestellter sein darf.
Es können weitere sachkundige Personen ohne Stimmrecht zugezogen werden.
Gemäß § 4 Abs. 3 HAG werden die Beschlüsse des Heimarbeitsausschusses mit einfacher Stimmenmehrheit gefaßt. Bei der Beschlußfassung hat sich der Vorsitzende zunächst der Stimme zu enthalten. Kommt eine Stimmenmehrheit nicht zustande, so übt nach weiterer Beratung der Vorsitzende sein Stimmrecht aus.
Als Beisitzer beruft die zuständige Arbeitsbehörde gemäß § 5 Abs. 1 HAG geeignete Personen auf Grund von Vorschlägen der zuständigen Gewerkschaften und Vereinigungen der Auftraggeber oder, soweit solche nicht bestehen oder keine Vorschläge einreichen, auf Grund von Vorschlägen der Spitzenorganisationen für die Dauer von drei Jahren. Wenn auch eine Spitzenorganisation keine Vorschläge einreicht, werden die Beisitzer dieser Seite nach Anhörung geeigneter Personen aus den Kreisen der Beteiligten berufen.
Als Entgeltregelungen sieht § 17 Abs. 2 HAG Tarifverträge und bindende Festsetzungen sowie weitergeltende Tarifordnungen an.
Auf dem Gebiete der Entgeltregelung hat ein Heimarbeitsausschuß nach § 18 HAG die Aufgabe, auf das Zustandekommen von Tarifverträgen hinzuwirken. Ferner soll er zur Vermeidung oder Beendigung von Gesamtstreitigkeiten zwischen Gewerkschaften einerseits und Auftraggebern oder deren Vereinigungen andererseits auf Antrag einer dieser Parteien Vorschläge für den Abschluß eines Tarifvertrages unterbreiten oder aber selbst bindende Festsetzungen für Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen treffen.
§ 19 HAG lautet:
Bindende Festsetzungen
(1) Bestehen Gewerkschaften oder Vereinigungen der Auftraggeber für den Zuständigkeitsbereich eines Heimarbeitsausschusses nicht oder umfassen sie nur eine Minderheit der Beteiligten, so kann der Heimarbeitsausschuß nach Anhörung der Beteiligten Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen mit bindender Wirkung für alle Beteiligten festsetzen, wenn Heimarbeit in nennenswertem Umfange geleistet wird und unzulängliche Entgelte gezahlt werden.
(2) Die bindende Festsetzung bedarf der Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde und der Veröffentlichung im Wortlaut an der von der zuständigen Arbeitsbehörde bestimmten Stelle. Ihr persönlicher Geltungsbereich ist unter Berücksichtigung der Vorschriften des § 1 zu bestimmen. Die bindende Festsetzung tritt am Tage nach der Veröffentlichung in Kraft, wenn in ihr nicht ein anderer Zeitpunkt bestimmt ist. Sie hat die Wirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages und ist in das beim Bundesminister für Arbeit geführte Tarifregister einzutragen.
(3) Soweit sich aus den Absätzen 1 und 2 sowie aus dem Fehlen der Vertragsparteien nicht etwas anderes ergibt, gelten für die bindende Festsetzung die gesetzlichen Vorschriften über den Tarifvertrag sinngemäß.
(4) Der Heimarbeitsausschuß kann nach Anhörung der Beteiligten bindende Festsetzungen ändern oder aufheben. Die Absätze 2 und 3 gelten entsprechend.
Ergänzend gelten demnach das Tarifvertragsgesetz – TVG – in der Fassung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1323) sowie die Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes vom 20. Februar 1970 (BGBl. I S. 193).
Nach § 1 Abs. 1 TVG regelt ein Tarifvertrag die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können.
Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages gelten gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen.
Unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen kann nach § 5 TVG der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß einen Tarifvertrag auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung, die der öffentlichen Bekanntmachung bedarf, erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrages in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Die vorgeschriebenen Bekanntmachungen erfolgen im Bundesanzeiger.
II.
1. In einem Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Gießen – 2 Ca 510/68 – macht das Land Hessen auf Grund seiner Klagebefugnis aus § 25 HAG gegen eine Firma für Reitbekleidung einen Anspruch auf Nachzahlung von Minderbeträgen an eine Reihe von Heimarbeiterinnen geltend. Die Klage stützt sich auf bindende Festsetzungen von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungen, die der Heimarbeitsausschuß für die Herstellung von Herren- und Knabenoberbekleidung und verwandten Erzeugnissen sowie der Heimarbeitsausschuß für die Herstellung von Damenoberbekleidung und verwandten Erzeugnissen jeweils mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung erlassen haben und die im Bundesanzeiger veröffentlicht wurden.
Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten darüber, ob derartige Festsetzungen verfassungsrechtlich zulässig sind. Außerdem ist die Art der gefertigten Herren- und Damenhosen umstritten, von der die Berechnung der geschuldeten Entgelte abhängt.
2. Mit Beschluß vom 7. Juli 1969 hat das Arbeitsgericht Gießen gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 19 HAG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit Heimarbeitsausschüsse zur Festsetzung von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungen ermächtigt sind.
Auf die Gültigkeit der bindenden Festsetzungen, die sich ihrerseits im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung hielten, komme es für die Entscheidung an. Im Falle der Nichtigkeit der Festsetzungen, nach denen das klagende Land die Nachzahlungsansprüche berechnet habe, würden diese Ansprüche in jedem Falle geringer sein als im Falle ihrer Gültigkeit, da die Tarifordnung über Berufsbekleidung vom 20. Juni 1943 oder – falls diese nicht anzuwenden wäre – die Tarifordnung für Herren- und Knabenoberbekleidung vom 26. Mai 1941 niedrigere Entgelte als die entsprechende Regelung des Heimarbeitsausschusses vorsehe.
Die Ermächtigung von Heimarbeitsausschüssen zu bindenden Festsetzungen in § 19 HAG sei wegen Verstoßes gegen Art. 20 GG verfassungswidrig.
Die Heimarbeitsausschüsse seien keine Selbstverwaltungsorgane und auch keine Tarifvertragsparteien, die in den Geltungsbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fielen. Einmal handle es sich nicht um gewählte Repräsentanten; zum anderen sei eine freie Aushandlung der Vertragsbedingungen nicht gewährleistet. Eine bindende Festsetzung könne nämlich nach gesetzlicher Vorschrift gegen den Willen der Vertreter einer Seite durch die Stimme des Vorsitzenden des Heimarbeitsausschusses zustande kommen. Es lasse sich deshalb auch keine hinreichende Parallele zu der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages ziehen.
Diese bindenden Festsetzungen könnten keine gültige Rechtsverordnung sein. Gehe man davon aus, daß der Heimarbeitsausschuß keine „Behörde”, aber der Normgeber sei, so bleibe der Verstoß gegen den Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates bestehen, da sich die Mitwirkung der zuständigen Arbeitsbehörde auf eine Zustimmung im ganzen beschränke. Sehe man hingegen die Beschlüsse des Heimarbeitsausschusses als Rechtsverordnung an, weil es sich bei ihm zwar um ein weisungsunabhängiges Gremium, aber gleichwohl um eine Behörde handle, so verstoße dessen Ermächtigung zur Rechtsetzung gegen Art. 80 Abs. 1 GG, weil hiernach nur bestimmte – nach dem Sinn dieser Verfassungsbestimmung weisungsgebundene – Organe Normen setzen könnten. Zudem sei dann die Präzisierung der gesetzlichen Ermächtigung fraglich.
III.
1. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung verweist auf den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften (Heimarbeitsänderungsgesetz). Dieser sieht vor, daß künftig die Vorschläge der Heimarbeitsausschüsse vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung oder von den Landesregierungen als Rechtsverordnungen erlassen werden.
2. Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts hatte zwar am 23. September 1969 mitgeteilt, bisher habe das Bundesarbeitsgericht noch nicht entschieden, ob die Tätigkeit der Heimarbeitsausschüsse in bezug auf Gleichstellungen und bindende Festsetzungen eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage habe. Am 10. März 1972 hat aber der 3. Senat des Bundesarbeitsgerichts in zwei Vorbehaltsurteilen die Vereinbarkeit des Heimarbeitsgesetzes mit dem Grundgesetz verneint. Die Festsetzungen der Heimarbeitsausschüsse gemäß § 19 HAG seien als Normen unterhalb des Gesetzes zu qualifizieren. Als Rechtsverordnungen scheiterten sie an Art. 80 GG, als Satzungen seien sie mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, weil ihnen die nötige demokratische Legitimation fehle.
3. Nach Auffassung des VII. Senats des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Heimarbeitsausschuß, der selbständig und verantwortlich darüber entscheide, welche Regelungen er in dem ihm zur Normsetzung überlassenen Bereich für angemessen und zweckmäßig halte, nicht ermächtigt werden, Rechtsnormen zu erlassen, weil eine solche gesetzliche Ermächtigung gegen Art. 20 GG verstoße. In seiner Rechtsprechung (vgl. BVerwGE 6, 213 ff.) habe das Bundesverwaltungsgericht zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 19 HAG allerdings „nicht Stellung genommen”.
4. Auf Ersuchen des Bundesverfassungsgerichts haben sich der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Vorlagefrage geäußert.
Nach Ansicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes sprechen gewichtige Gründe dafür, die bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG sowie die Gleichstellungsentscheide nach § 1 Abs. 4 HAG als mit dem Grundgesetz vereinbare Rechtsverordnungen der zuständigen Arbeitsbehörde anzuerkennen. Jedenfalls seien aber derartige Normen als autonomes Recht im Rahmen der „sozialen Selbstverwaltung” verfassungsrechtlich zulässig.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hält die Heimarbeitsausschüsse für ein geeignetes Instrument zur Festsetzung von Entgelten sowie des Urlaubsentgeltes, während deren Tätigkeit in anderen Bereichen nach den seitherigen Erfahrungen problematisch sei. Sie meint, verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 19 HAG ließen sich, falls es darauf ankomme, nur aus Art. 80 Abs. 1 GG herleiten.
B.
– I.
Die Vorlage ist zulässig.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Gültigkeit des § 19 HAG ab, den das vorlegende Gericht mit einer eben noch ausreichenden Begründung für verfassungswidrig hält. Bei Nichtigkeit der Vorschrift und der auf ihr beruhenden Entgeltfestsetzung durch den Heimarbeitsausschuß wäre die Nachzahlungsforderung gegen die beklagte Firma in jedem Falle geringer als bei Gültigkeit der Vorschrift.
II.
§ 19 HAG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. Daß die Beschlüsse des Heimarbeitsausschusses nach § 19 (oder auch § 1 Abs. 4) HAG Rechtssatzqualität besitzen, ist nicht so selbstverständlich, wie das vorlegende Gericht annimmt. Das Gesetz verwendet eine Terminologie, die jeden Hinweis auf eine Rechtsetzungszuständigkeit des Heimarbeitsausschusses vermeidet. In § 1 Abs. 4 HAG heißt es bezeichnenderweise „Die Gleichstellung erfolgt durch widerrufliche Entscheidung” des zuständigen Heimarbeitsausschusses; § 19 HAG spricht davon, daß „der Heimarbeitsausschuß nach Anhörung der Beteiligten Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen mit bindender Wirkung für alle Beteiligten festsetzen” kann. „Entscheidungen” kraft Gesetzes und „verbindliche Festsetzungen” werden – zumal wenn wie hier höchst zweifelhaft ist, ob der Heimarbeitsausschuß eine „Behörde” ist – im allgemeinen, wenn sie als unselbständige Elemente in umfassendere Vertragsbeziehungen eingehen sollen, nicht als Rechtsetzungsakte verstanden. Wenn beispielsweise in einem Zwangsmietrecht die Verwaltungsbehörde zuständig war, einseitig den Mietzins festzusetzen, und dieser dann Teil des Zwangsmietvertrages wurde, so hatte darin niemand bisher einen Akt der Rechtsetzung gesehen. An Hand dieses und ähnlicher Beispiele hat die Rechtslehre die Rechtsfigur des sogenannten privatrechtsgestaltenden Verwaltungsaktes entwickelt, der auch eine Vielzahl von Einzelfällen betreffen kann. Ebensowenig handelt es sich um Rechtsetzung, wenn beispielsweise nach § 15 Bundesbankgesetz die Deutsche Bundesbank „zur Beeinflussung des Geldumlaufs und der Kreditgewährung … die für ihre Geschäfte jeweils anzuwendenden Zins- und Diskontsätze” festsetzt. Ob nicht schon in dieser Sicht der rechtliche Ausgangspunkt in der Begründung des vorlegenden Gerichts fragwürdig ist, kann jedoch dahinstehen.
2. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Entscheidungen und Festsetzungen des Heimarbeitsausschusses, würde man sie als Rechtsverordnungen qualifizieren, keinen Bestand haben könnten, weil die Heimarbeitsausschüsse nicht zu den Organen gehören, die nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt werden können, und eine Delegation an sie gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG nicht vorliegt. Es kommt ferner nicht darauf an, ob der Minister, der als „zuständige Arbeitsbehörde” gemäß § 19 Abs. 2 HAG der bindenden Festsetzung zustimmen muß, als zur Verordnungsgebung gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG Ermächtigter deshalb nicht in Betracht kommt, weil er dem Beschluß des Heimarbeitsausschusses nur zustimmen oder nicht zustimmen, auf den Inhalt „seiner” Verordnung also unmittelbar keinen Einfluß nehmen kann.
3. Es kommt schließlich nicht auf die Frage an, ob die Entscheidungen und Festsetzungen des Heimarbeitsausschusses – unterstellt man ihre Rechtssatzqualität – wirklich nicht als Ausfluß einer Satzungsgewalt der im Ausschuß repräsentierten Gruppen rechtsstaatlich legitimiert werden kann.
4. Entscheidend für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Entscheidungen und Festsetzungen des Heimarbeitsausschusses ist der systematische Zusammenhang der Regelungen im Heimarbeitsgesetz mit dem Arbeitsrecht, im besonderen mit dem für diese Materie zentralen Tarifrecht, dessen Besonderheiten, soweit sie für diese Entscheidung erheblich sind und im folgenden dargelegt werden, durch Art. 9 Abs. 3 GG zugelassen und garantiert sind.
a) Das grundlegend Besondere in diesem Bereich ist, daß der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung, soweit es sich um den Inhalt von Arbeitsverträgen handelt, weit zurückgenommen hat. Er hat kraft der Grundentscheidung des Art. 9 Abs. 3 GG die Bestimmung über alle regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages den in den Tarifparteien organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu überlassen. Dieses Prinzip setzt voraus, daß es „überall”, wo ein Bedürfnis dafür besteht, also der Individualarbeitsvertrag ein unzureichendes Instrument zur Begründung eines sozial angemessenen Arbeitsverhältnisses darstellt, solche organisierten Tarifparteien gibt. Die durch die Vereinbarung der Tarifparteien begründeten und nach Maßgabe des Tarifvertragsgesetzes verbindlichen Regeln für den Inhalt der davon erfaßten Arbeitsverträge sind, wie immer man das im einzelnen begründen mag (vgl. BVerfGE 4, 96 (106 ff.); 18, 18 (26 ff.); 19, 303 (313); 20, 312 (317 ff.)), Rechtsregeln („normative Bestandteile des Tarifvertrages”) kraft Anerkennung durch die staatliche Gewalt, vorbehaltlich ihrer hier nicht weiter interessierenden Begrenzung durch die staatlichen Gesetze. Dieses Zurücktreten des Staates zugunsten der Tarifparteien gewinnt seinen Sinn ebensosehr aus dem Gesichtspunkt, daß die unmittelbar Betroffenen besser wissen und besser aushandeln können, was ihren beiderseitigen Interessen und dem gemeinsamen Interesse entspricht, als der demokratische Gesetzgeber, wie aus dem Zusammenhang mit dem für die Gestaltung nicht öffentlich-rechtlicher Beziehungen charakteristischen Prinzip der „Privatautonomie”, im Grunde also der Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates.
b) In Wirtschaftszweigen, in denen in mehr oder minder großem Umfang Heimarbeit üblich ist, fehlt es teilweise an organisierten Tarifparteien. Dem trägt das Heimarbeitsgesetz Rechnung. Es stellt zunächst – in Einklang mit der Intention des Art. 9 Abs. 3 GG – die zwischen Heimarbeitern und Hausgewerbetreibenden einerseits und auftraggebenden Gewerbetreibenden andererseits bestehenden Vertragsverhältnisse, unbeschadet ihrer rechtlichen Unterschiede gegenüber einem Arbeitsvertragsverhältnis, in einer wirtschaftlich und sozial wertenden Betrachtung für den Bereich des Arbeitsrechts dem normalen Arbeitsvertrag gleich und geht davon aus, daß Heimarbeiter und Hausgewerbetreibende sich zu Gewerkschaften und auftraggebende Gewerbetreibende zu „Arbeitgeber”-Vereinigungen zusammenschließen können, um als Tarifparteien Tarifverträge abzuschließen (§ 17 HAG). Die Tendenz des Gesetzes ist offensichtlich die Förderung dieser Entwicklung (vgl. § 18 Buchst. a und b HAG).
c) Soweit es an organisierten Tarifparteien innerhalb der auf Heimarbeit angewiesenen oder die Heimarbeiter und Hausgewerbetreibenden heranziehenden Wirtschaft und deshalb an den Voraussetzungen für den Abschluß von Tarifverträgen fehlt, schafft das Heimarbeitsgesetz einen dem sozialen Schutz der Heimarbeiter und Hausgewerbetreibenden dienenden, an das Tarifvertragsrecht möglichst eng angelehnten Ersatz: Es werden Heimarbeitsausschüsse für die Gewerbezweige und Beschäftigungsarten gebildet, in denen Heimarbeit in nennenswertem Umfang geleistet wird. Jeder Ausschuß besteht aus je drei Mitgliedern aus dem Kreise der beteiligten Auftraggeber und aus dem Kreise der beteiligten Beschäftigten und einem von der zuständigen Arbeitsbehörde bestimmten – neutralen (vgl. § 3 Abs. 1 der Ersten Rechtsverordnung zur Durchführung des Heimarbeitsgesetzes) – Vorsitzenden. Schon bei der Bildung dieser Ausschüsse nimmt das Gesetz auf den Organisationsgrad der Auftraggeber und Beschäftigten Rücksicht: Existieren Gewerkschaften und Vereinigungen der Auftraggeber, so beruft die zuständige Arbeitsbehörde die Beisitzer auf Grund der Vorschläge der Tarifpartei; existieren sie nicht oder reichen sie Vorschläge nicht ein, erfolgt die Berufung der Beisitzer auf Grund von Vorschlägen der „Spitzenorganisationen”; existieren Spitzenorganisationen nicht oder machen sie keine Vorschläge, so werden die Beisitzer jeder Seite nach „Anhörung geeigneter Personen aus den Kreisen der Beteiligten” berufen. Soweit nach den Umständen möglich, wird also der Gedanke der Repräsentation sowohl der Auftraggeber als auch der Beschäftigten aufrechterhalten und verwirklicht; im Ausschuß sitzen sich unter Leitung eines Unparteiischen gleichsam rudimentäre Tarifparteien gegenüber.
Dieser Ausschuß trifft nun – wiederum in einer den Gegebenheiten angepaßten Fortentwicklung der dem Tarifvertragsrecht zugrundeliegenden Idee –, falls Gewerkschaften oder Vereinigungen der Auftraggeber für den Zuständigkeitsbereich des Ausschusses nicht existieren, die notwendigen bindenden Festsetzungen für Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen (§§ 18 Buchst.c, 19 HAG). Dazu ist – offensichtlich im Bemühen, den berufenen „Vertretern” der Auftraggeber und der Beschäftigten im Ausschuß die Interessen und Forderungen je ihrer Gruppen näherzubringen und ihre Legitimation zum Verhandeln zu verstärken – bestimmt, daß die Entscheidung erst „nach Anhörung der Beteiligten” ergehen darf (vgl. auch § 7 der Ersten Rechtsverordnung zur Durchführung des Heimarbeitsgesetzes).
Die Festsetzungen bedürfen nach § 19 Abs. 2 Satz 1 HAG der Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde. Das ist nicht so sehr eine Anomalie gegenüber dem Tarifvertrag, der zu seiner Wirksamkeit keiner behördlichen Zustimmung bedarf, sondern wiederum eine durchaus sinnvolle Anpassung an das Tarifvertragsrecht: In den Fällen, in denen die Festsetzung der Entgelte und Vertragsbedingungen an den Heimarbeitsausschuß fällt, ist, weil es an der Organisation der Beschäftigten fehlt, nicht denkbar, für den Bereich der Heimarbeit ein Analogon zum nicht allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zu bilden; es ließe sich der Kreis der von der Entgeltfestsetzung erfaßten Beschäftigten nicht feststellen. Deshalb kommt nur die Parallele zum allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag in Betracht. Die Prozedur der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages regelt § 5 TVG: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß einen Tarifvertrag (auf Antrag einer Tarifvertragspartei) für allgemeinverbindlich erklären. In diesen Zusammenhang gestellt, fügt sich § 19 Abs. 2 Satz 1 HAG – wiederum in Anpassung an die Gegebenheiten im Bereich der Heimarbeit – in die tragenden Gedanken des Tarifvertragsrechts ein. Und folgerichtig schließt diese Kette der Anpassung des Heimarbeitsrechts an das Tarifrecht mit der Bestimmung des § 19 Abs. 2 Satz 4 HAG, daß die bindende Festsetzung der Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen durch den Heimarbeitsausschuß mit Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde „die Wirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages” hat.
d) So unbestreitbar ist, daß hier der Inhalt von Beschäftigungsverträgen nicht von Tarifparteien festgelegt wird, so einleuchtend ist es, daß sich im Heimarbeitsausschuß die noch nicht organisierten Kräfte der Auftraggeberseite und der Beschäftigtenseite – also gleichsam „unorganisierte Tarifparteien” – gegenüberstehen, die Festsetzungen das Ergebnis des Ringens und der Auseinandersetzungen dieser beiden Gruppen sind und der Beschluß des Heimarbeitsausschusses seiner Funktion nach der Vereinbarung eines Tarifvertrages zwischen Tarifpartnern entspricht. Dies alles rechtfertigt es, die vom Heimarbeitsausschuß getroffenen bindenden Festsetzungen für Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen jedenfalls als Rechtsregeln der gleichen Art wie die Normativbestimmungen eines Tarifvertrages anzusehen. Sie gewinnen wie diese ihre Qualität als Rechtsregeln aus der staatlichen Anerkennung, die im Art. 9 Abs. 3 GG wurzelt. Auch hinsichtlich der Gestaltung der Rechtsbeziehungen, innerhalb derer Heimarbeiter und Hausgewerbetreibende tätig werden, gilt die Zurücknahme der staatlichen Regelungszuständigkeit zugunsten der Gestaltungsfreiheit der unmittelbar Beteiligten hinsichtlich des Inhalts ihrer Arbeitsbedingungen.
5. Aus allen diesen Überlegungen folgt übrigens nicht nur die Verfassungsmäßigkeit von § 19 HAG, dessen Prüfung das vorlegende Arbeitsgericht Gießen erbeten hatte, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit von § 1 Abs. 4 HAG.
C.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 60539 |
BVerfGE 34, 307-320 (LT) |
BVerfGE, 307 |
NJW 1973, 1320 |
NJW 1973, 1320-1322 (LT) |
BGBl I 1973, 731 (L) |
SAE 1973, 174-177 (LT) |
AP HAG § 19, Nr. 7 (LT) |
BArbBl 1974, 135-138 (LT) |