Entscheidungsstichwort (Thema)
Dienstleistungsfreiheit. Unternehmen der Baubranche. Richtlinie 96/71/EG. Entsendung von Arbeitnehmern. Mindestlohn
Beteiligte
Portugaia Construções L(da) |
Tenor
1. Bei der Entscheidung, ob die durch den Aufnahmemitgliedstaat erfolgende Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorsieht, auf in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Dienstleistende mit Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) vereinbar ist, müssen die nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte prüfen, ob diese Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer gewährleistet. Dabei kann die erklärte Absicht des Gesetzgebers zwar nicht ausschlaggebend sein, aber gleichwohl einen Anhaltspunkt für das mit dieser Regelung verfolgte Ziel darstellen.
2. Es stellt eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar, wenn ein inländischer Arbeitgeber den in einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags unterschreiten kann, während dies einem Arbeitgeber, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, nicht möglich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-164/99
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Amtsgericht Tauberbischofsheim (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Bußgeldverfahren gegen
Portugaia Construções L(da),
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) sowie der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter D. A. O. Edward (Berichterstatter) und A. La Pergola,
Generalanwalt: J. Mischo Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der Portugaia Construções L(da), vertreten durch Rechtsanwalt B. Buchberger,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und C.-D. Quassowski als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger und C. Bergeot als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. A. Fierstra als Bevollmächtigten,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Fernandes und S. Emídio de Almeida als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Hillenkamp und M. Patakia als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt R. Karpenstein,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Portugaia Construções L(da), der deutschen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 15. März 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Mai 2001,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1.
Das Amtsgericht Tauberbischofsheim hat mit Beschluss vom 13. April 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Mai 1999, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) sowie der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Bußgeldverfahren des Arbeitsamts Tauberbischofsheim gegen die Firma Portugaia Construções L(da) (nachfolgend: Beschuldigte), die gegen einen an sie gerichteten Bescheid, mit dem der Verfall des Erlangten in Höhe von 138 018,52 DM angeordnet worden war, Einspruch eingelegt hat.
Rechtlicher Rahmen
3.
Das Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG) in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung vom 26. Februar 1996 gilt für das Baugewerbe.
4.
§ 1 Absatz 1 Satz 1 AEntG erstreckt die Anwendbarkeit bestimmter allgemeinverbindlicher Tarifverträge auf Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und ihre nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer. Er lautet wie folgt:
Die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages des Baugewerbes im Sinne der §§ 1 und 2 der Baubetriebe-Verordnung … finden, soweit der Betrieb überwiegend Bauleistungen im Sinne des § 75 Absatz 1 Nr. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes … erbringt und nicht ohnehin deutsches Recht für das Arbeitsverhältnis maßgeblich ist, auch auf ein Arbeitsverhältnis zwischen einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und seinem im räumlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmer zwingend Anwendung, wenn und soweit
- der Tarifvertrag ein für alle unter seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer einheitliches Mindestentgelt enthält und
- auch inländisch...