Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung. Gesetzlicher Richter. Nicht vorschriftsmäßige Besetzung. Antrag. Mündliche Verhandlung. Gerichtsbescheid. Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts. Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters. Zurückverweisung an SG
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist Wiedereinsetzung wegen Versäumung der PKH-Beantragung innerhalb der Beschwerdefrist zu gewähren, wenn das Fristversäumnis dem Organisationsbereich des Gerichts zuzuordnen ist, das durch eine zeitnahe Weiterleitung eines Schreibens des Klägers für einen rechtzeitigen Zugang des PKH-Antrags beim zuständigen Gericht hätte Sorge tragen müssen.
2. Der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Richter ist wegen nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des Gerichts verletzt, wenn das LSG über das Rechtsmittel der Berufung entscheidet, obwohl der Kläger fristgemäß und wirksam nach § 105 Abs. 2 S. 2 und 3 SGG mündliche Verhandlung beim SG mit der Rechtsfolge beantragt hat, dass der Gerichtsbescheid nicht als ergangen gilt und eine mündliche Verhandlung vor dem SG durchzuführen ist.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 S. 1, § 67 Abs. 1, §§ 74, 75 Abs. 2, 5, § 105 Abs. 2 Sätze 2-3, §§ 143-144, 159 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 202; ZPO § 145 Abs. 1, § 547 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. August 2014 aufgehoben. Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Gründe
I. Der bei der beklagten Krankenkasse (im Folgenden: Beklagte zu 1.) versicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Erstattung von ihm im Zusammenhang mit einer Zahnbehandlung entstandenen Laborkosten (267,65 Euro, Rechnung vom 15.3.2011) bei dem ebenfalls beklagten Jobcenter Hamburg (im Folgenden: Beklagter zu 2.) erfolglos geblieben (Bescheid vom 30.3.2011, Widerspruchsbescheid vom 29.4.2011). Der Kläger hat gegen die Beklagten zu 1. und 2. gemeinsam Klage erhoben und zur Niederschrift des Urkundsbeamten beantragt, "den Bescheid vom 30.03.11 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.04.11 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Laborkosten für eine zahnärztliche Behandlung und die Fahrtkosten zu übernehmen". Die zuständige Kammer des SG hat mit Eingangsverfügung für die Klage gegen den Beklagten zu 2. eine eigene Verfahrensakte für eine andere Kammer anlegen lassen. Das SG hat die Klage unter Zugrundelegung des vorgenannten Klageantrags abgewiesen. Die Klage gegen die Beklagte zu 1. sei mangels eines Vorverfahrens unzulässig. Die Klage gegen den Beklagten zu 2. sei unbegründet (Gerichtsbescheid vom 9.1.2014; im Rubrum nur die Beklagte zu 1. aufgeführt; Zustellung des Gerichtsbescheids nur an die Beklagte zu 1.). Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und im Hinblick auf den Termin zur mündlichen Verhandlung die Aufhebung des Termins und die Abgabe des Verfahrens an das SG beantragt. Das LSG hat über die Berufung gegen die Beklagte zu 1. entschieden und diese aus den Gründen des Gerichtsbescheids zurückgewiesen (Urteil vom 20.8.2014).
Der Kläger rügt mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil Verfahrensfehler. Er macht insbesondere einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter geltend.
II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil vom 20.8.2014 ist zulässig (dazu 1.) und begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), der einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Es verstößt gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG; dazu 2.).
1. Der Kläger hat zwar nicht fristgerecht innerhalb der Beschwerdefrist (§ 160a Abs 1 S 2 SGG) beim BSG Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt (vgl zu diesem Erfordernis BSG Beschluss vom 10.12.2014 - B 1 KR 11/14 B - Juris RdNr 6; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 5 S 12 mwN). Ihm ist jedoch Wiedereinsetzung (§ 67 Abs 1 SGG) wegen Versäumung der PKH-Beantragung innerhalb der Beschwerdefrist zu gewähren, weil das Fristversäumnis dem Organisationsbereich des LSG zuzuordnen ist, das durch eine zeitnahe Weiterleitung des Schreibens des Klägers für einen rechtzeitigen Zugang des PKH-Antrags beim BSG hätte Sorge tragen müssen.
Nach der Rechtsprechung des BSG liegt Verschulden eines Prozessbeteiligten grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist (vgl zB BSGE 1, 227, 232; BSGE 61, 213, 214 = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 42; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 23 RdNr 5). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht allerdings aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl BVerfGE 57, 250, 275; BVerfGE 60, 1, 6 f; BVerfGE 75, 183, 188 und 190) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl BVerfGE 38, 105, 111 ff; BVerfGE 40, 95, 98 f; BVerfGE 46, 202, 210; BVerfGE 78, 123, 126). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99, 114 f, dort zur Weiterleitung einer beim LG eingegangenen Berufung an das OLG; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter kann daher erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (vgl BVerfGE 93, 99, 114 f; BSGE 38, 248, 261 f = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 11 f; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61). So liegt der Fall hier.
Gegen das ihm am 22.8.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10.9.2014 (Gemeinsame Annahmestelle bei dem Amtsgericht Hamburg, weitergeleitet am 11.9.2014 an die Gemeinsame Post-Annahmestelle von LSG und SG) ua beantragt: "ich begehrte: Revision für meine Person gegenüber untragbare Urteil 20.8.2014 ich begehre: Berufung für meine Person über BSG Kassel gegen Urteil 20.8.2014 …". Zusammen mit dem Schriftsatz hat der Kläger unter Verwendung des aktuellen Formulars (gemäß Prozesskostenhilfeformularverordnung ≪PKHFV≫ vom 6.1.2014, BGBl I 34) eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingereicht (ebenfalls Eingang bei der Gemeinsamen Annahmestelle bei dem Amtsgericht Hamburg am 10.9.2014). Das LSG hat erst am 1.10.2014 die Weiterleitung des Schriftsatzes an das BSG verfügt. Es hätte durch eine Weiterleitung des Schreibens des Klägers für einen rechtzeitigen Zugang des PKH-Antrags beim BSG Sorge tragen müssen - und auch können. Zwar ist ein Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, jedes Schriftstück unmittelbar nach seinem Eingang daraufhin zu überprüfen, ob darin etwa eine Rechtsmittelschrift enthalten ist, die an das zuständige Gericht weitergeleitet werden muss (vgl BSGE 38, 248, 261 = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 10 f); insbesondere besteht keine Verpflichtung, ggf außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, um den rechtzeitigen Eingang der Rechtsmittelschrift bei dem zuständigen Gericht zu gewährleisten (vgl BSG Beschluss vom 23.7.2012 - B 13 R 280/12 B - Juris RdNr 6 mwN). Hier ist der Antrag auf Zulassung der Revision und Bewilligung von PKH für das Verfahren vor dem BSG deutlich zum Ausdruck gekommen und auch so rechtzeitig beim LSG eingegangen, dass sowohl der Charakter des Schreibens als auch der drohende Fristablauf unschwer und nicht nur erst bei eingehender Durcharbeitung zu erkennen gewesen sind und das LSG auch eine hinreichende Möglichkeit gehabt hat, bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang das klägerische Schreiben rechtzeitig weiterzuleiten. Dass das LSG bei dieser Sachlage das Schreiben nicht zeitnah weitergeleitet hat, kann dem Kläger nicht zugerechnet werden.
Dem Kläger, der unter Berücksichtigung der Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist rechtzeitig und ordnungsgemäß einen PKH-Antrag gestellt hat, ist auch insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde zu gewähren, als er das Rechtsmittel binnen eines Monats nach Zustellung des PKH bewilligenden Beschlusses formgerecht eingelegt hat (vgl BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 5 S 12 f mwN).
Der Kläger hat den Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art 101 Abs 1 S 2 GG zudem hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das Gericht war in der mündlichen Verhandlung vom 20.8.2014 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG). Hierdurch hat das LSG den Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 GG; dazu a) verletzt. Das LSG hätte nicht über das Rechtsmittel der Berufung entscheiden dürfen, weil der Kläger fristgemäß und wirksam nach § 105 Abs 2 S 2 und 3 SGG (dazu b) mündliche Verhandlung beim SG mit der Rechtsfolge beantragt hat, dass der Gerichtsbescheid nicht als ergangen gilt und eine mündliche Verhandlung vor dem SG durchzuführen ist (dazu c).
a) Nach Art 101 Abs 1 S 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters soll der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorbeugen, die durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte (vgl BVerfGE 95, 322, 327 mwN). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl BVerfGE 95, 322, 327). Art 101 Abs 1 S 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, eine klare und abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnet, der für die Entscheidung zuständig ist. Die Zuständigkeitsgarantie des Art 101 Abs 1 S 2 GG ist Teil des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots, das auch die Beachtung der Kompetenzregeln fordert (vgl BVerfGK 9, 330, 334). Die mit Art 101 Abs 1 S 2 GG erfolgte Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zwingt den Gesetzgeber danach auch zur Bestimmung des Instanzenzuges und seiner etwaigen Beschränkung (vgl BVerfGE 6, 45, 50 f; BVerfGE 9, 223, 226; BSG SozR 3200 § 88 Nr 2). Jede sachwidrige Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit von innen und von außen soll dadurch verhindert werden. Die Gerichte sind bei der Anwendung der vom Gesetzgeber geschaffenen Zuständigkeitsordnung verpflichtet, dem Gewährleistungsgehalt und der Schutzwirkung des Art 101 Abs 1 S 2 GG angemessen Rechnung zu tragen (vgl zum Ganzen auch BSG SozR 4-1500 § 51 Nr 4 RdNr 81).
b) Zu dieser Zuständigkeitsordnung zählen auch die Regelungen in § 105 Abs 2 und 3 SGG über Rechtsmittel und Rechtsbehelf gegen einen Gerichtsbescheid. Sie sehen vor: Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte (Abs 2 Satz 1). Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden (Abs 2 Satz 2). Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt (Abs 2 Satz 3). Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen (Abs 3).
Hiernach hat ein Beteiligter die Möglichkeit in einem Verfahren, in dem die Berufung nicht gegeben ist, also weder kraft Gesetzes statthaft (§ 143 SGG) noch vom SG zugelassen ist (§ 144 SGG), mündliche Verhandlung vor dem SG zu beantragen. Dabei beschränkt § 105 Abs 2 S 3 SGG seinen Anwendungsbereich nicht auf das Verhältnis von Nichtzulassungsbeschwerde und Antrag auf mündliche Verhandlung. Es sind vielmehr sämtliche Rechtsmittel in Bezug genommen. Der Antrag auf mündliche Verhandlung geht den Rechtsmitteln (auch der statthaften Berufung durch andere Beteiligte) vor, weil er den weitergehenden Rechtsbehelf darstellt. Dem entspricht auch der Sinn und Zweck der Norm. § 105 Abs 2 und 3 SGG wahrt die Prozessrechte des Beteiligten, für den die Entscheidung des SG nicht berufungsfähig ist. Nur durch einen entsprechenden Antrag auf mündliche Verhandlung kann dieser Beteiligte eine mündliche Verhandlung und die Besetzung der Richterbank auch mit ehrenamtlichen Richtern herbeiführen (vgl BSG SozR 4-1500 § 105 Nr 3 RdNr 7 f). Damit stärkt § 105 Abs 2 S 2 SGG einfachrechtlich den Anspruch, mündlich gehört zu werden (vgl BVerfGK 19, 377, 381 f mwN zum einfachrechtlichen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung und zur Reichweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG).
c) Hier war die Berufung nicht kraft Gesetzes eröffnet und auch nicht vom SG zugelassen (dazu aa). Der Kläger hat auch noch rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt (dazu bb). Unschädlich ist, dass er bereits Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt hatte (dazu cc).
aa) Die Berufung bedarf nach § 144 Abs 1 S 1 Nr 1, S 2 SGG der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Der Kläger hat mit seiner am 23.5.2011 erhobenen Klage nur die Übernahme der Kosten geltend gemacht für im Zusammenhang mit einer zahnärztlichen Behandlung stehende, einmalig angefallene Laborkosten und Fahrkosten, bei denen es sich nicht um wiederkehrende oder laufende Leistungen handelt (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 11. Aufl 2014, § 144 RdNr 21 ff). Er überschreitet damit nicht die maßgebliche Beschwer von mehr als 750 Euro. Die Laborkosten bezifferte der Kläger in dem an das SG in Kopie übersandten Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten zu 2. vom 30.3.2011 mit 267,65 Euro, die Fahrkosten mit 14 Euro. Die mit dem Widerspruchsschreiben ebenfalls begehrte Übernahme von Kosten für eine zahnärztliche Behandlung, die der Kläger auf 993,89 Euro bezifferte, waren weder Gegenstand des Widerspruchsbescheids des Beklagten zu 2. vom 29.4.2011 noch - wie ausgeführt - Gegenstand des Klageantrags. Im Übrigen hat das SG auch nur über den Anspruch auf Labo- und Fahrkosten entschieden.
Das SG hat die Berufung auch weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen zugelassen. Es hat die Berufung auch nicht dadurch zugelassen, dass es in der dem Gerichtsbescheid beigefügten Rechtsmittelbelehrung die Berufung als gegebenes Rechtsmittel bezeichnet hat. Dies stellt keine Entscheidung über die Zulassung dar, sondern ist eine falsche Rechtsmittelbelehrung, die das LSG - und den Kläger - nicht bindet (stRspr, vgl BSG Urteil vom 18.3.2004 - B 11 AL 53/03 R - Juris RdNr 12; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 13; BSG SozR 3-1500 § 158 Nr 1 S 5; BSGE 5, 92, 95; BSG SozR § 150 SGG Nr 10; BSGE 2, 121, 125 f).
bb) Der Kläger hat nicht innerhalb der Monatsfrist des § 105 Abs 2 S 1 SGG mündliche Verhandlung beantragt. Diese Frist findet jedoch infolge der falschen Rechtsmittelbelehrung keine Anwendung. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei (§ 66 Abs 2 S 1 SGG). Es kann offenbleiben, ob der vorliegende Fall demjenigen einer Belehrung gleichzustellen ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei (§ 66 Abs 2 S 1 Halbs 2 Fall 2 SGG; vgl dazu BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 54; s ferner BVerwGE 71, 359, 361; BFH Urteil vom 31.1.2005 - VII R 33/04 - Juris RdNr 31; Sächsisches LSG Urteil vom 3.11.2010 - L 1 AL 127/10 - Juris RdNr 40). Denn der Kläger hat vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des Gerichtsbescheids mündliche Verhandlung beantragt.
cc) § 105 Abs 2 S 3 SGG setzt - wie dargelegt - nicht voraus, dass das Rechtsmittel und der Antrag auf mündliche Verhandlung von demselben Beteiligten eingelegt bzw gestellt wird. Erst recht folgt daraus, dass der Rechtsmittelführer nicht zeitgleich mit seinem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung beantragen muss, um die Rechtsfolge des § 105 Abs 2 S 3 SGG herbeizuführen. Maßgeblich ist allein, dass der Beteiligte rechtzeitig innerhalb der Rechtsmittelfrist mündliche Verhandlung beantragt (vgl zur regelmäßig laufenden Monatsfrist § 105 Abs 2 S 2 iVm S 1 und Abs 3 Halbs 2 SGG). Dies gilt jedenfalls dann, wenn das LSG seinerseits noch nicht mündlich verhandelt hat. Die rechtzeitige Antragstellung ist hier im Hinblick auf die an die Stelle der Monatsfrist - zumindest - tretende Jahresfrist gegeben. Sie erfolgte auch noch vor der mündlichen Verhandlung beim LSG, nämlich am 30.7.2014.
3. Das SG wird bei der durchzuführenden mündlichen Verhandlung zu beachten haben, dass es die Klage nicht als unzulässig behandeln darf, sondern prüfen muss, ob entsprechend § 75 Abs 5 SGG eine Verurteilung der Beklagten zu 1. in Betracht kommt. Die im Gerichtsbescheid versagte Sachprüfung und die Abweisung der Klage gegen die Beklage zu 1. als unzulässig ist verfahrensfehlerhaft. Die im Wege der subjektiven Klagehäufung herbeigeführte einfache Streitgenossenschaft (§ 74 SGG) ist funktional gleichwertig mit der notwendigen unechten Beiladung nach § 75 Abs 2 iVm Abs 5 SGG. Sie enthebt das Gericht, eine notwendige unechte Beiladung anzuordnen. Kommt eine Verurteilung des Beigeladenen nach § 75 Abs 5 SGG in Betracht, schließt dies eine Trennung der einfachen Streitgenossenschaft aus, wenn dies zur Folge hätte, dass einer der Beklagten, sei es im verbliebenen oder sei es im abgetrennten Verfahren, sofort wieder beigeladen werden müsste. Nur dann, wenn eine Verurteilung eines Beklagten von vornherein ausscheidet, steht § 75 Abs 2 iVm Abs 5 SGG einer Trennung der Klage entsprechend den Streitgenossen auf Beklagtenseite nicht entgegen. Hier kommt hinzu, dass das SG keine Trennung im Rechtssinne (§ 202 S 1 SGG iVm § 145 Abs 1 ZPO) vorgenommen hat, die durch Beschluss zu ergehen hat und zu begründen ist. Das SG hat lediglich faktisch durch Anlegung einer neuen, den Beklagten zu 2. betreffenden Verfahrensakte diesen als Beteiligten im Verfahren nicht länger berücksichtigt; auch wenn es im - nunmehr nicht länger existenten - Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 3 SGG) den Anspruch gegen den Beklagten zu 2. gleichwohl verneint hat. Sofern der faktisch abgetrennte Rechtsstreit gegen den Beklagten zu 2. rechtskräftig entschieden sein sollte, steht dies der Zulässigkeit der Klage gegen die Beklagte zu 1. nicht entgegen. Der Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz nach Art 19 Abs 4 GG (vgl dazu 1.) verbietet es, dass das SG sein prozessordnungswidriges Handeln dem Kläger entgegenhalten darf.
4. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass das BSG in Wahrnehmung der dem LSG gemäß § 159 Abs 1 SGG eingeräumten Befugnis die Sache unter Aufhebung der angegriffenen Entscheidung des LSG an das SG zurückverweisen kann (vgl BSGE 51, 223 = SozR 1500 § 78 Nr 18; BSG SozR 1500 § 136 Nr 6). Das muss erst recht gelten, wenn der gerügte Verfahrensfehler des LSG gerade darin liegt, dass es unter Verstoß gegen § 105 Abs 2 S 3 SGG über eine Berufung entschieden hat. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch. Eine Zurückverweisung an das LSG ist ausgeschlossen: Das Berufungsverfahren hat sich durch die Beantragung der mündlichen Verhandlung erledigt (§ 105 Abs 2 S 3 SGG). Der Gerichtsbescheid ist als möglicher Überprüfungsgegenstand eines zweitinstanzlichen Rechtsmittelverfahrens rechtlich nicht mehr existent (§ 105 Abs 3 Halbs 2 SGG). Das LSG wäre nur dazu befugt, die Verfahrensakten an das SG zur Entscheidung abzugeben, nicht aber zu einer dem Verfahren Fortgang gebenden prozessualen Handlung.
5. Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Fundstellen